DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT DISKUSSION
Strahlendosis
und Strahlenrisiko:
Begrenzung
auf das Annehmbare
I Vergleich mit
„natürlichen" Krebstoten
Erlauben Sie mir ein paar Worte zu dem Übersichtsartikel von Prof.Kaul. Ich meine, daß es sehr fraglich ist, die durch Strahlung induzierten tödlich verlaufenden Krebserkran- kungen mit den Todesfällen in der deutschen Industrie zu vergleichen.
Warum nimmt man ausgerechnet die Industrie? Genausogut hätte man als Vergleichsgruppe Haushaltsunfälle, Drachenflieger, den Autoverkehr, Sporttaucher oder Segler nehmen können und wäre jeweils zu völlig verschiedenen Ergebnissen gelangt.
Ich glaube, die einzige legitime Vergleichszahl ist die der „natürli- chen" Krebstoten. Und dieser Ver- gleich sei hier kurz durchgeführt:
Wir rechnen im folgendem mit dem vom Verfasser angegebenen niedrigsten Risiko von 10 -2 pro Sv (er gab 10-2 bis 10-1 an) für ein tödliches Krebsrisiko. Dies bedeutet pro 10 6 ( = eine Million Menschen) 10 -2 x 106 = 10 4 also 10 000 zusätzliche Krebs- tote bei kurzfristiger Exposition durch 1 Sv ionisierende Strahlung.
Die jährliche, „natürliche" Krebs- mortalität liegt bei ca. 2500 Toten pro eine Million Menschen.
Da die Latenzzeit für die Entste- hung eines strahleninduzierten Krebses bis zu 30 Jahren und mehr beträgt, könnte man diese Zahl mit 30 multiplizieren. Somit sind 10 000 Krebstote, die aufgrund der Strah- lenexposition zu erwarten sind, mit 75 000 „natürlichen" Krebstoten zu vergleichen. Es ist einsichtig, daß das Verhältnis um so erschreckender wird, je kürzer man die Latenzzeit ansetzt. Würde man das höchste an- gegebene Risiko von 10 -1 heranzie- hen, so wären 100 000 Krebstote auf-
Zu dem Beitrag von Prof. Dr. phil. nat.
Alexander Kaul in Heft 48/1989
grund der Strahlung mit 75 000 auf- grund „natürlichen" Krebstodes zu vergleichen. Ich glaube, diese Zahlen sind für den Laien sehr viel anschau- licher als irgendwelche negativen Zehnerpotenzen.
Dr. Bernd Ramm Akademischer Direktor Radiologische Uni-Kliniken Spandauer Damm 130 1000 Berlin 19
mg Schlußwort
WO
Herrn Dr. Ramm scheint entgangen zu sein, daß ich im Kapi- tel 5.2 das hypothetische Strahlen- krebsmortalitätsrisiko nur des beruf- lich Strahlenexponierten mit dem mitt- leren realen Mortalitätsrisiko von Arbeitnehmern anderer Industrie- zweige verglichen habe. Das beruf- lich bedingte Strahlenrisiko mit dem aus sportlicher Betätigung resultie- renden Risiko zu vergleichen, wäre so falsch wie der häufig geübte Ver-gleich der aus einer medizinischen Maßnahme resultierenden Dosis mit der zusätzlichen Strahlenexposition, die mit einem Urlaub in den Alpen verbunden ist.
©
Bei einem Vergleich des strahlenbedingten Risikos der Bevöl- kerung aus der jährlichen Ableitung radioaktiver Stoffe aus kerntechni- schen Anlagen mit dem Grenzwert für bestimmungsgemäßen Betrieb mit dem der natürlichen Strahlenex- position, jeweils bezogen auf das ge- samte Leben — so wie ich dies auch gemacht habe —, entfällt das Gedan- kenspiel mit dem Betrag der Latenz- zeiten und den daraus resultieren- den „erschreckenden" Zahlenver- hältnissen im Vergleich zu den „na- türlichen" Krebstoten.Hier wie für die Diskussion un- ter Punkt 1) gilt, daß Vergleiche nur im selben Koordinatensystem erfol- gen dürfen: Hypothetische beruflich bedingte Strahlenkrebstote sind zu vergleichen mit realen Todesfällen in anderen Berufszweigen; aus der zivi- lisatorischen Strahlenanwendung re- sultierende hypothetische Krebsto- desfälle in der Bevölkerung sind zu vergleichen mit denjenigen, die sich aus der natürlichen Strahlenexpositi- on über die gleiche Zeit errechnen.
Im übrigen: Mit welcher Begründung vergleicht der Autor die hypotheti- schen strahlenbedingten Krebstoten durch die kurzzeitig verabfolgte Do- sis 1 Sv (!) mit der Gesamtzahl „na- türlicher" Krebstodesfälle über das Zeitintervall Latenzzeit? Derartige Expositionsbedingungen einer Be- völkerung herrschen bei atomaren Explosionen und nicht bei kerntech- nischen Unfällen!
Nach dem oben Gesagten mögen die vom Autor genannten Zahlen für den Laien anschaulicher sein als negative Zehnerpotenzen — auf die ich im übrigen meine Bewer- tung der Risiken im Kapitel 5.2 nicht stütze — aber: erstens sind sie falsch und zweitens ist der Leser des
„DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT- ES" kein Laie.
Prof. Dr. phil. nat.
Alexander Kaul
Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz
Albert-Schweitzer-Straße 18 3320 Salzgitter 1
A-2410 (66) Dt. Ärztebl. 87, Heft 31/32, 6. August 1990