( Internationales Institut für Umwelt und Gesellschaft - IIUG ) Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
IIUG dp 86-7
TSCHERNOBYL ALS TAG X Reflexionen über Umweltwissenschaft
und Umweltpolitik
Katrin Gillwald
ISSN 0175-8918
IIUG - Potsdamer Str. 58, 1000 Berlin (West) 30, Tel.: (030) - 26 10 71
Umweltwissenschaft und -politik nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl
Zusammenfassung
Das Reaktorunglück in Tschernobyl hat in der Bundesrepublik, und nicht nur hier, zu heftigen und teilweise höchst kontro
versen öffentlichen und politischen Reaktionen geführt - wenigstens für einige Wochen. Was bleibt nach? Wer sich, wie die Mitarbeiter des IIUG, eines Beitrages zur Erhaltung und Verbesserung der Umweltqualität verpflichtet sieht, und dies
sowohl im Rahmen wissenschaftlicher Grundlagenforschung als auch im Hinblick auf gegebene Problemlagen, kommt nicht umhin, Bilanz zu ziehen: über die Erkenntnisse aus der eigenen
Arbeit; über Resonanz und Umsetzung dieser Arbeit; über Resonanz und Umsetzung dieser Arbeit; über Offenheit und Redlichkeit im Dreieck Wissenschaft-Wirtschaft-Politik; über vermeidbare Kenntnis- und Informationslücken, strukturelle Hemmnisse und mögliche Alternativen. Der folgende Bericht gibt, in komprimierter Form und unter explizitem Rückgriff auf ent
sprechende relevante Arbeitsergebnisse aus verschiedenen Institutsprojekten, das Resümee von Diskussionen im IIUG
"nach Tschernobyl wieder.
Chernobyl: The Aftermath. Reflections on Environmental Science and Policy after the Nuclear Accident in
Chernobyl
Summary
The nuclear accident in Chernobyl prompted vehement and
sometimes controversial public and political reaction in the Federal Republic of Germany, as it did elsewhere. What
remained after the initial concern subsided? We at the IIUG feel obligated to make a contribution to the preser
vation and the improvement of our environmental quality, both in basic and specialized research aimed at environmental
problems. It is time to take stock of the findings of oue own work; we must assess the feedback to and implementation of this research; the candidness and integrity of the scientific- economic-political community; superfluous knowledge or infor
mation gaps; structural obstacles and possible alternatives.
This paper presents, in condensed form, the results of the
"post-Chernobyl" discussions at the IIUG, based on our work in various projects.
Das zentrale und übergreifende Konzept des laufenden IIUG-Forschungsprogramms, 1982 formuliert, heißt
"präventive Umweltpolitik". Es geht hierbei um wissen
schaftlich fundierte Beiträge zu den Bemühungen, von der typischen Nachsorge und Sanierung von Schäden wegzu
kommen und von vornherein Umweltschäden zu vermeiden, indem hinreichende Vorsorge getroffen wird. Die
Katastrophe von Tschernobyl hat deutlich gemacht, daß die Industrieländer, die Bundesrepublik also einge
schlossen, das Stadium einer noch möglichen vorsorgenden Umweltpolitik, in das an dem Leitbild der Prävention orientierte Umweltforschung sinnvoll eingeklinkt werden könnte, bereits seit langem verlassen und noch nicht wiedererlangt haben. Die potentiellen Katastrophenherde, nicht nur die nuklearen, sondern auch etwa die
chemischen, sind zu tausenden in Betrieb. Das nächste Unglück ist insofern vorprogrammiert; offen ist ledig
lich, wann und wo es sich ereignen wird. Das Konzept der Prävention ist beim gegenwärtigen Stand der Dinge nicht umsetzbar. Es wieder mit glaubwürdiger Substanz zu
füllen, wird Zeit, Verantwortungsbewußtsein und Über
zeugungsarbeit in erheblichem Umfang erfordern.
Selbst die umweltpolitische Realität unterhalb der Größenordnung potentiell katastrophaler Umweltgefähr
dungen ist in den meisten Ländern bislang weit entfernt von Maßnahmen, die den Namen "Vorsorge" zu recht ver
dienten. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, so ein Ergebnis eines der abgeschlossenen umfänglichsten
IIUG-Projekte, die von Peter Knoepfel und Helmut Weidner koordinierte "International vergleichende Analyse von Programmformulierungs-und Implementationsprozessen in der Luftreinhaltepolitik von EG-Staaten und der
Schweiz", ist in der Luftreinhaltepolitik nicht einmal eine durchgreifende Sanierungspolitik gelungen. Was in
aller Regel stattfindet, ist schleppendes, teils mit großer Verspätung einsetzendes Schadensmanagement, eingekeilt in überkommenes rechtliches Regelwerk und wirksam vorgetragene Forderungen nach Berücksichtigung von ökonomischen Einzelinteressen - meist zu Lasten der Umweltqualität. Die Anzahl der hierfür vorliegenden Beispiele ist erdrückend.
Nach dem Unglück in Tschernobyl wird man anstelle tatsächlicher Vorsorgepolitik erneut mit intensivem Befriedungsbemühungen zu rechnen haben. Ganz sicherlich werden, wie bereits in den 60er Jahren nach einer Welle öffentlicher Empörung über die zunehmend als prekär empfundenen Auswirkungen oberirdischer Atombombenver
suche, diverse Katastrophenschutzpläne, Katastrophen- schutzanlagen und Katastrophenschutzübungen Konjunktur haben. Sie kämen nicht nur der chronisch siechenden Bauwirtschaft zugute; Fahrzeugindustrie, Geräteher
steller und Produzenten von allerlei Ausrüstungsgegen
ständen für den "Notfall" können ebenfalls mit erkleck
lichen Umsatzzuwächsen rechnen.
Was angesichts derartiger möglicher Initiativen allzu
leicht und allzugern verdrängt wird ist, daß sie eine Katastrophe als solche nicht verhindern werden. Sie sind unter Umständen geeignet, Folgeschäden in Grenzen zu halten und - natürlich auch - die in der Bevölkerung grassierende Angst zu beschwichtigen. Die damit einher
gehende schrittweise Umlenkung und Neudeutung des Vor
sorgebegriffs in einen Begriff des vorsorglichen
Schadenmanagements anstelle einer vorsorglichen Risiko
verhinderung zu beobachten, ist eine makabre, aber alles andere als "rein akademische" Übung.
Es ist nicht eindeutig belegbar, ob und bis zu welchem Grade in der Bundesrepublik Folgeschäden etwaiger
nuklearen Katastrophen mit technischen und organisa
torischen Vorkehrungen tatsächlich in Grenzen gehalten
werden könnten. Ein Ernstfall mit entsprechenden Maß
nahmen mußte bei uns bisher noch nicht durchexerziert werden. Ebensowenig ist positiv belegbar, daß - wie umgehend seitens der beteiligten Hersteller und seitens mancher politischer Entscheidungsträger nach dem Unglück
in Tschernobyl, übrigens auch nach dem in Harrisburg (U.S.A., 1979), versichert wurde - eine solche Kata
strophe bei den bundesdeutschen Kernkraftwerken ausge
schlossen ist.
In einem Land wie unserem, dessen Denktradition auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet so nachhaltig positivistisch geprägt ist, wo mithin sozialwissen
schaftliche Aussagen, die nicht auf empirisch überprüfte und wiederholt überprüfbare Tatsachen gestützt werden können, als unwissenschaftlich gelten, muß solcher Opti
mismus im naturwissenschaftlich-technischen Bereich wunder nehmen. Eine auf diesem Bereich angewandte, dem Positivismus ähnliche theoretisch-methodische Rigorosi
tät würde viele Sicherheitsversprechen der Nuklearindu
strie als unwissenschaftlich ausgrenzen - ihnen fehlt die Standardqualität der Falsifizierbarkeit.
Die Frage der Beweislastumkehr
Mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl ist in der Bundes
republik auch die Möglichkeit einer Beweislastumkehr bei UmweltSchäden wieder ins Gespräch gekommen. Der Anlaß dazu war die Frage, ob in ca. 20 Jahren an Krebs erkran
kende Bundesbürger etwa unter Hinweis auf Tschernobyl Aussicht auf Schadensersatz haben würden - und zwar ohne die bisher im Haftungsrecht übliche Auflage, den
entsprechenden individuellen Verursachungsbeweis beizu
bringen. Der neuernannte Bundesumweltminister hat diese Frage, seinerseits unter Hinweis auf das Fehlen sicherer Methoden, die Ursachenkette unabhängig vom Einzelfall
zurückzuverfolgen, im Namen der Bonner Regierungskoali
tion (vorerst?) abschlägig beschieden. Es handelt sich
hierbei um ein nicht nur politisch offensichtlich brisantes Thema. Es ist damit auch ein höchst intere- santes wissenschaftstheoretisches Problem verbunden - im Hinblick darauf, ob in Umweltsachen anhand wissenschaft
licher Kenntnisse überhaupt entscheidbar ist, wer die Beweislast bei Schadensfällen zu tragen hat.
Das Dilemma bei der Zuschreibung der Beweislast in Umweltsachen ergibt sich aus einer unstrittigen Überle
gung: Angesichts der Vielzahl von Umweltverschmutzern und Umweltbelastungen einerseits sowie angesichts der Vielzahl möglicher individueller Krankheitsgründe ande
rerseits ist es insbesondere für Laien schwierig und oftmals so gut wie ausgeschlossen, einen sicheren Beweis dahingehend zu führen, daß bestimmte Wirkungen (in
diesem Falle Krankheiten) aus eindeutig identifizier
baren Ursachen (in diesem Falle Belastungsquellen)
herrühren. Man sieht sich vielmehr einem Konglomerat von eher unspezifischen Ursache- und Wirkungsbündeln gegen
über .
Dieser Einsicht folgt notwendigerweise ein doppelter Schluß. Der Mangel an letztendlich unumstößlicher
Beweiskraft in der Rückführung einer bestimmten Wirkung auf eine bestimmte Ursache hat ein logisch gleichwer
tiges Pendant: den Mangel an letztendlich unumstößlicher Beweiskraft auch für den Ausschluß einer bestimmten
Ursache in bezug auf eine bestimmte Wirkung. Zumindest dem gegenwärtigen Stand der Diskussion zufolge werden in diesem Sinne exakte Ursache-Wirkungs-Aussagen auch
künftig hin keine Frage der Qualifikation der beteilig
ten Wissenschaftler oder eines Fortschritts der einzel
nen Fachdisziplinen sein. Es verdichtet sich, im Gegen
teil, derzeit die Vermutung, daß die Naturwissenschaften hierin an objektive, durch die Komplexität der Materie gesetzte, Grenzen der Erforschbarkeit gestoßen sind.
Genau dies ist der Angelpunkt für das Prinzip der Beweislastumkehr. An die Stelle eines wissenschaftlich
nicht entscheidbaren Patts muß eine gesellschaftliche Übereinkunft treten, die ihren Niederschlag in Normen und gesetzlichen Regelungen findet.
Das Prinzip einer Umkehr der Beweislast von der betrof
fenen Bevölkerung auf die potentiellen Verursacher ist im Rahmen der japanischen Umweltrechtsprechung zu
Schadensersatzklagen aufgrund von Krankheits- und Todes
fällen im Zusammenhang mit einigen wenigen verheerenden Chemiewerksdesastern äußerst konsequent angewandt
worden. Helmut Weidner hat es im Rahmen seiner Arbeiten über die "Umweltpolitik in Japan" ausführlich beschrie
ben.
Die Überlegungen der japanischen Richter zugunsten der Beweislastumkehr waren etwa folgende: Diejenigen, die die Umwelt in größerem Umfang belasten oder gefährden, haben nicht nur wesentlich bessere Informationsgrund
lagen, sondern auch eine weitaus höhere Verpflichtung, über die Umweltfolgen ihres Tuns Rechenschaft abzulegen.
Dementsprechend sollten im Falle von komplexen Wirkungs
zusammenhängen bei Umweltschäden die potentiellen Verur
sacher ihre Unschuld belegen, und zwar - wie vordem Geschädigte deren Schuld - auf Basis des rigorosen naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweises in Form von Ursachen- bzw. Wirkungsketten. Bisher war kein
Emittent dazu in der Lage, was in vielen Fällen auf eine Verurteilung zu erheblichen Schadensersatzleistungen hinauslief. Die Einführung des Prinzips der Beweislast
umkehr in die japanische Rechtsprechung zog eine deut
lich stärkere Beachtung der potentiellen Umweltfolgen anstehender Entscheidungen in privaten und öffentlichen Unternehmen nach sich - ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer präventiven Umweltpolitik.
Welcher Seite die Beweislast bei Vorliegen komplexer Wirkungszusammenhänge aufgebürdet wird, ist - auch wenn Gerichte bei Fehlen einer entsprechenden politischen
Regelung sozusagen im Vorgriff entscheiden - eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses. Zugespitzt formu
liert ist es im Falle von Krankheiten und Umweltgiften, deren zumindest weitläufiger Zusammenhang nicht mehr in Abrede steht - und davon gibt es mittlerweile eine Viel
zahl (auch außerhalb des Rauchens!) - die Frage einer Entscheidung zwischen potentiellen "Tätern" und poten
tiellen "Opfern". Das japanische Prinzip der Beweislast
umkehr steht auf der Seite der potentiellen Opfer. Wo, wie in der Bundesrepublik, dieses Prinzip nicht (noch nicht?) zum tragen kommen kann, sind die politischen Kräfteverhältnisse eben andere.
Ausstieg aus der Kernenergie?
Eine der zentralen Fragen nach dem Unglück
in Tschernobyl ist natürlich die, ob wir in der Bundes
republik ohne Strom aus Kernkraftwerken auskommen könn
ten. Die Antwort, auch wenn sie für die Hersteller, die Betreiber, das Bedienungspersonal und deren Gewerkschaf
ten bitter sein mag, ist: prinzipiell "ja". Mittlerweile gibt es genügend Hochrechnungen von einschlägigen Exper
ten, die eine anhaltende Abnahme des Energieverbrauchs prognostizieren, und auch hochplausible technische Alternativvorschläge, denen zufolge Ersatz für den
bisher aus Kernkraftwerken gelieferten Strom geschaffen werden kann.
Wenn es, aus allzu offensichtlichen geographischen und klimatischen Gründen, die Sonnenergie und die Windener
gie nicht oder nicht allein sein werden, die eine even
tuelle Energieversorgungslücke schließen, dann könnten sie es in Verbindung mit der Kraft-Wärme-Kopplung, mit Biogas-Anlagen und anderen neuen Verfahren sowie vor allem aber auch mit Energiesparmaßnahmen sein. Wer
wissen will, weswegen aus solchen Richtungen nicht schon lange der Durchbruch kam, sollte sich einmal die
Geschichte der Forschungsförderung des Bundes und der Länder näher ansehen. Während für die Förderung der Kernkraft viele Milliarden Mark ausgegeben wurden,
fielen im Vergleich hierzu für alternative Energieerzeu
gungstechnologien und Energiesparmaßnahmen nur Kleinst- beträge ab.
Bei anders gestellten Prioritäten der Energieentwick
lung, kann ein Industrieland sehr wohl ohne Atomstrom leben, wofür zum Beispiel unsere Nachbarn Dänemark und Österreich, aber auch, in gewissem Maße, Italien Beleg sind. Vieles spricht sogar dafür, daß wir langfristig ohne Atomstrom auch billiger leben könnten. Hersteller und Betreiber von Kernkraftwerken scheinen dies Jahre vor den Konsumenten gewußt zu haben. Beim mittlerweile zum Zankapfel zwischen Bundes- und nordrhein-westfäli
scher Landesregierung gewordenen "Schnellen Brüter" in Kalkar, analysiert von Otto Keck, hatte die am Reaktor
projekt beteiligte Industrie schon lange über die künftige Wirtschaftlichkeit dieses Vorhabens ihre
Zweifel. Daß die öffentlichen Finanziers des Projektes davon nicht oder nicht hinreichend in Kenntnis gesetzt wurden, entspricht durchaus der (einzelbetrieblich definierten) ökonomischen Rationalität: Bei Bekanntwer
den mangelnder Projektrentabilität hätte die beteiligte Industrie wohl kaum weitere Forschungsgelder erhalten.
Es ist ferner auszuschließen, daß die Schätzungen über die Möglichkeiten zur Energiesparung ohne Wohlstandsver
luste noch immer zu bescheiden sind: Mit den meisten bisher angelaufenen Energiesparprogrammen wird nach wie vor die Masse der Bevölkerung überhaupt nicht erreicht.
Hier steckt womöglich ein erhebliches Energiesparpoten
tial, das nochmals die kühnsten Einsparprognosen in den Schatten stellen könnte. Aus unserem Forschungsprojekt
"EnergieSparprogramme ", einer breit angelegten interna-
tional vergleichenden Studie, hat sich ergeben, daß die weit überwiegende Zahl von Energiesparprogrammen bisher eindeutig auf gutgebildete Wohlstandsbürger zugeschnit
ten ist. Je geringer, umgekehrt, das Haushaltseinkommen ist, desto ineffizienter ist sein Energieverbrauch,
desto höher sind die Kosten für nützliche Endenergie und desto umweltbelastender ist der Energieverbrauch.
Gleichzeitig konnte anhand einer Reihe von Fallstudien demonstriert werden, daß sehr wohl auch auf finanziell minderbemittelte Bevölkerungskreise zugeschnittene Energiesparprogramme praktikabel und erfolgreich sein können, und zwar am besten dezentral organisierte P r o gramme.
Programme diesen Typs freilich setzen einen hohen Grad an Engagement, Kooperation, Flexibilität und Phantasie in den verschiedenen auf örtlicher Ebene beteiligten Instanzen voraus. Angesichts einer den Menschen in den Industrieländern attestierten ünterentwicklung in bezug auf zwischenmenschliche und soziale Fertigkeiten sollte man die Anstrengungen, die mit der Einführung solcher Programme auch für uns Bundesbürger verbunden wären, nicht unterschätzen. Unsere Stärke scheint bisher mehr bei den großtechnischen, gleichgeschalteten, partien
weise absetzbaren Lösungen zu liegen; und dies alles sind dezentrale Energiesparprogramme eben gerade nicht.
Abgesehen davon haben sich bekanntermaßen die nach geltender Rechtslage ausschlaggebenden Akteure in der Sache, die großen Energieversorgungsunternehmen, bisher nicht als Vorreiter dezentraler und sparsamer Konzepte empfohlen - eher im Gegenteil.
Umweltaußenpolitik und Umweltinnenpolitik
Wer sich Gedanken über einen eventuellen Ausstieg aus der Kernkraft im eigenen Land macht, kommt zwangsläufig auf die Frage, wie es denn die Nachbarländer damit
halten. Radioaktiver Fallout ist ein "klassisches"
grenzüberschreitendes Problem, und es ist nicht viel geholfen, wenn man eigene Atommeiler stillegt, von den weiterbetriebenen der Anrainer jedoch umgeben bleibt.
Wie das Beispiel Tschernobyl zeigt, reicht ja eine Ent
fernung von hunderten von Kilometern vom Unglücksort keineswegs aus, um sich vor den Folgen der Katastrophe in vollständiger Sicherheit wiegen zu dürfen. Eine pro
aktive "Umweltaußenpolitik" (Titel eines 1984 von Volker Prittwitz veröffentlichten Buches), wie sie Umweltmini
ster Wallmann im Zusammenhang mit international koordi
nierten Luftreinhaltemaßnahmen bereits angekündigt hat, wird nun auch im Hinblick auf die Nuklearindustrie
gefordert; dasselbe gilt für Emissions- und Sicherheits
vereinbarungen auf supranationaler Ebene.
Mehrere bilaterale umweltaußenpolitische Initiativen sind in den letzten Jahren angelaufen. Dazu gehören auch - der bayerische Ministerpräsident ist hierin anderer Meinung - die Eingabe seitens der österreichischen Bundesregierung gegen die geplante nukleare Wiederauf
bereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf. Dazu gehört ebenso eine Eingabe seitens der saarländischen Landes
regierung gegen das betriebsbereite Atomkraftwerk im französischen Cattenom. Man wird sehen müssen, was diese Initiativen bewirken.
Aufgrund von Erfahrungen bereits berechtigte Skepsis ist gegenüber den Chancen einer raschen und hinreichend
strengen Vereinbarung von Emissions- und Sicherheits
standards für nuklear-industrielle Anlagen auf supra
nationaler Ebene, etwa auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften (EG), geboten. Sechs Jahre hat es bei
spielsweise gedauert, bis die Mitgliedsländer der EG sich auf gemeinsame Standards für Schwefeldioxid- und Staubimmissionen einigen konnten. Wie die Erkenntnisse des von Knoepfel und Weidner koordinierten SC^-Projektes zeigen, besteht das Ergebnis von EG-Verhandlungen zur Umweltpolitik in aller Regel im kleinsten gemeinsamen
Nenner unter den Partnern. Rieht- und Grenzwerte sind somit von vornherein zu lasch, als daß sie durch
schlagende Umweltqualitätsverbesserungen herbeiführen könnten. Erwartungsgemäß wurden und werden die Debatten um Standards geprägt von verschiedensten nationalen ökonomischen Egoismen.
Ähnliches war im Zusammenhang mit der Frage der
Nahrungsmittelimporte nach dem Unglück in Tschernobyl erneut zu beobachten: Unter Androhung einer Boykottie
rung der gesamten EG-einheitlichen Importbeschränkungen setzten etwa die Italiener die Kontaminationsgrenze für Kopfsalat in einer Höhe durch, die ihre eigenen Export
ware in den Bereich des gesundheitlich Unbedenklichen hineindefinierte. Aufgrund solcher Grenzwertrangeleien muß man Zweifel daran entwickeln, ob es bei der Festle
gung internationaler Sicherheitsstandards für Atomkraft
werke alles um soviel schneller, effektiver und ehr
licher zugehen sollte als beim vielbescholtenen "natio
nalen Alleingang".
Der Fall Tschernobyl hat allerdings auch gezeigt, daß in der bundesdeutschen Umweltinnenpolitik - insbesondere in der Bund-Länder-Abstimmung - noch erheblicher Nach
besserungsbedarf besteht. Das absurde Nebeneinander von Panikmache und Verharmlosung, von unterschiedlichsten regierungsamtlichen Verlautbarungen über vermeintlich noch zuträgliche Radioaktivitätsgehalte in besonders sensiblen Lebensmitteln, hat noch einmal deutlich
gemacht, was wir aus dem internationalen Vergleich von Immissionsnormen für Schwefeldioxid bereits wissen:
- daß buchstäblich jede Schädigung ausschließende
"sichere" Belastungsgrenzwerte exakt festzulegen wissen
schaftlich nahezu unmöglich ist;
- daß menschliche Gesundheit und Schutz des Ökosystems nur zwei unter mehreren Kriterien bei der Festlegung von Grenzen zulässiger Umweltbelastung darstellen - ein
weiteres sind die Kosten entsprechender Umweltschutzmaß
nahmen;
- daß die Höhe der vereinbarten Grenzwerte das Ergebnis politischen Aushandelns ist und insofern die gegebenen politischen Kräfteverhältnisse widerspiegelt.
Es ist eigentlich eher verwunderlich, wenn angesichts all dessen manche Naturwissenschaftler und Techniker sich während der öffentlichen Diskussion "nach
Tschernobyl" bestürzt darüber zeigten, daß ihnen die Bevölkerung keinen Glauben mehr schenkte.
Umweltbewußtsein und Umweltberichterstattung
Im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern sind die Wellen der Erregung und des Mißtrauens gegenüber offi
ziellen Verlautbarungen über Folgen und Risiken des Unglücks von Tschernobyl in der Bundesrepublik am höch
sten geschlagen. Das hat sicherlich zum Teil damit zu tun, daß der Deutsche dazu neigt, Meinungsunterschiede in der Form von Glaubenskriegen auszutragen. Und es hat wohl auch damit zu tun, daß - ein stabiles Ergebnis der
IIUG-Umfragen zum Umweltbewußtsein - die Bundesbürger fast genau 50:50 in zwei unterschiedliche Lager über den zur Erhaltung und Verbesserung der Umweltqualität not
wendigen gesellschaftlichen Kurs gespalten sind: Die eine Hälfte setzt die Hoffnung auf Wissenschaft und Technik, die andere auf breitangelegte Veränderungen in der Lebensweise.
Jenseits dessen ist uns jedoch kein Unglücksfall
bekannt, nach dem bei konkreter und vollständiger Infor
mation durch die zuständigen Stellen Hysterie unter der Bevölkerung ausgebrochen wäre. Mit heftigen öffentlichen
Reaktionen ist eher zu rechnen, wenn der Verdacht besteht, daß entscheidende Informationen manipuliert oder zurückgehalten werden.
Das Beispiel Japan - nicht eben in bezug auf die Kern
kraft, wohl aber in bezug auf die Luft- und die Gewäs
serreinhaltung - ist insofern wieder einmal muster
gültig. Dort hat sich gezeigt, daß umfassende Umweltbe
richterstattung eine entscheidende Triebkraft für eine effektive Umweltpolitik ist. Die problemorientierte, vorausschauende Erhebung von Daten, die zur Beurteilung der Umweltqualität und ihrer potentiellen Gefährdung wichtig sind, sowie eine kontinuierliche, wahrhaftige und verständliche Berichterstattung hierüber sind grund
legende Voraussetzungen für gezielte risiko- und umwelt
politische Maßnahmen. Sie geben dem regierungsseitig gern als Ideal vorgeführten "mündigen Bürger" erst die Möglichkeit, seine Umweltqualität und deren Bedrohung wie auch die Qualität des umweltpolitischen Systems wirklich beurteilen zu können.
Ein in diesem Zusammenhang deutlich bewußt gewordenes Manko ist, daß wir in der Bundesrepublik bislang keine kontinuierliche, flächendeckende und auch dem Laien verständliche Umweltberichterstattung haben. Unter
suchungen des IIUG zeigen, daß die amtlichen Umweltbe
richterstatter den nicht-amtlichen, etwa Umweltjourna- listen und -autoren, was die Anschaulichkeit aber auch die Vollständigkeit des gebotenen Materials angeht, eher noch unterlegen sind. Es kann sicherlich nicht darum gehen, die Bevölkerung in einem Wust von Umweltdaten zu ersticken; die Kunst besteht vielmehr darin, eine kluge Auswahl wichtiger und zugleich handlungsleitender Infor
mationen anzubieten.
Wer sich in der Problematik der Erfassung und Bewertung öko-sozialer Umweltzustände auskennt, weiß, daß eine solche Auswahl alles andere als einfach zu treffen ist
und vielfach an die Grenzen wissenschaftlicher Begründ- barkeit stößt. Ungeachtet dessen zielen die im Projekt
bereich "Umweltberichterstattung" durchgeführten Unter
suchungen darauf ab, Konzepte und Methoden relevanter Umweltinformation zu entwickeln, eben, weil sie von so großer praktischer Bedeutung sind. Ein angesichts des Unglücks in Tschernobyl naheliegendes Beispiel wäre, den Weg der zusätzlichen Radioaktivität durch die verschie
denen Umweltmedien bis in die Nahrungsmittel zu verfol
gen (Luft-Wasser-Boden-Pflanze-Tier-Mensch) und damit sinnvolle und praktikable Informationen über Art und Herkunft der vergleichsweise am geringsten kontaminier
ten Nahrungsmittel zu verbinden. Dies allerdings ist eine typische zweite-Wahl-Lösung - nachdem das Unglück bereits passiert ist.
Wirtschaftlicher Strukturwandel als geordneter Rückzug aus der Kernenergie
Das Ziel muß sein, die Voraussetzungen für die Möglich
keit erstklassiger Lösungen wiederherzustellen. Solche in bezug auf die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Umweltqualität erstklassigen Lösungen bestehen in einer präventiven Umweltpolitik, die diesen Namen zu Recht trägt. Der Weg dahin kann nur über die Entschärfung der
"ökologischen Zeitbomben" führen, wovon die Kernkraft
werke eine, vielleicht die bedrohlichste Gruppe sind.
Der in den vergangenen Wochen oft geforderte "sofortige Ausstieg" aus der Kernkraft ist wahrscheinlich eine
Illusion, der geordnete Rückzug daraus ist es nicht.
Ein geordneter Rückzug aus der Kernenergie kann getragen werden von einem allgemeinen wirtschaftlichen Struktur
wandel, der in der Bundesrepublik nach Ansicht der Bundes- und einiger Landesregierungen ohnehin fällig ist. Dessen Kernstück müßte eine breitgesteuerte Einfüh
rung nicht nur energiesparender, sondern gleichzeitig in einer Reihe anderer Merkmale umweltschonender sogenann-
ter integrierter Produktionstechnologien sein, welche die nachgeordneten "end-of-pipe" Umweltschutztechnolo
gien schrittweise ablösen. Die Entwicklung und Anwendung solcher integrierten Technologien müßte in weit stärke
rem Maße gefördert werden, als dies bisher der Fall ist.
Die Analysen der im Projekt "Umweltschutz-Innovationen"
arbeitenden Kollegen zeigen, daß die Einführung inte
grierter Technologien in großem Stile bisher wegen einer Reihe unterschiedlicher Gründe scheitert. Dazu zählen die vergleichsweise steuerliche Begünstigung der end-of- -pipe-Technologien; die schleppende Informationsverbrei
tung über integrierte Technologien; das äußerst zögernde Umdenken beim technischen und kaufmännischen Management und, nicht zuletzt; das Fehlen eines Vorzeigeeffekts im Sinne der Schaffung von Arbeitsplätzen.
Die Beispiele von Ländern, in denen ein entsprechender wirtschaftlicher Strukturwandel massiv in Gang gesetzt wurde, wie Japan und Schweden, belegen jedoch, daß ein
solcher Strukturwandel nicht Arbeitsplätze gefährdet sondern neue schafft, partielle Arbeitslosigkeit aller
dings nicht ausgeschlossen. Die von Einzelgewerkschaften immer noch betriebene Politik der Arbeitsplatzerhaltung in der Nuklearindustrie um scheinbar jeden Preis ist allerdings kurzsichtig wenn nicht gar verbandsegoi
stisch. Eine solche Politik der Arbeitsplatzerhaltung sollte in einem reichen Industrieland wie der Bundesre
publik nicht nötig sein. Der eingesetzte Preis ist in diesem Fall Gesundheit und Leben nicht nur der betroffe
nen Arbeitnehmer, sondern - der Fall Tschernobyl hat es erwiesen - gegebenenfalls auch der im Umkreis von
einigen -zig Kilometern lebenden Bevölkerung direkt, sowie indirekt einer kaum zu beziffernden Menge von Menschen in anderen Gebieten - die sozialen und psychi-
sehen Kosten der Umsetzungsopfer und der grassierenden Angst noch gar nicht gerechnet. Dieser Preis ist zu hoch.
Die Freiheit der Anderen
Tschernobyl hat nicht nur neue Fragen aufgeworfen, sondern vor allem auch alte Fragen neu bewußt gemacht bzw. schon allzusehr gewohnte Warnungen mit Substanz gefüllt. Dabei kam auch die Standardfrage engagierter Umweltschützer wieder ins Gespräch: Hat eigentlich die heutige Generation ein Recht, in Verfolgung eigener
Ziele durch womöglich irreversible Eingriffe in die Natur zukünftigen Generationen die Freiheit von Lebens
ort und Lebensart einzuschränken? Die Standardantwort auf diese Frage, abgeleitet aus ethischen Kriterien, ist
"nein" - und ihr folgt in aller Regel der Appel zur Umkehr aus einem ökologisch bedenklichen technisch-indu
striellen Durchwurschteln, solange noch Zeit dazu ist.
Appelle allein, so lehrt die Erfahrung, bewirken indes wenig, jedenfalls in unserem Land. Eher bewegt man etwas, wenn es entscheidungsrelevanten Gruppen "an den Geldbeutel geht", also mit ökonomischen Anreizen, oder, wie am Beispiel der Beweislastumkehr in Japan weiter oben gezeigt wurde, mit strikten gesetzlichen Auflagen.
Dieser Einsicht folgend, hat Klaus Zimmermann in Zusam
menarbeit mit einer Reihe international einschlägiger Experten die Frage der Hinterlassenschaft akzeptabler Umweltbedingungen auf Rationalitäten jenseits der
ethisch-moralischen Ebene hin untersucht, speziell auch in ökonomischer und juristischer Hinsicht. Unter dem Titel "Zeitpräferenzen" geht es dabei im wesentlichen um zukunftsgerichteten, individuellen und sozialen Handlun
gen .
Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß allgegenwärtiger Problemdruck die zum erfolgreichen Handeln verfügbare Zeit als endlich erscheinen läßt - das bekannte "5 vor 12-Syndrom". Eine andere Frage ist, wie, wie rasch und mit welchem Zeithorizont (wenn überhaupt) auf vorlie
gende Probleme reagiert wird. Hierbei spielt die Formie
rung von individuellen Zeitpräferenzen zur sozialen, d.h. gesamtgesellschaftlichen, Zeitpräferenz eine ent
scheidende Rolle. Psychodynamische wie auch poli
tisch-ökonomische Analysen laufen darauf hinaus, daß dieser Formierungsprozeß im Ergebnis Entscheidungen mit eher kurzem Zeithorizont begünstigt. Zwei der wichtig
sten Begründungen dafür sind das Vorherrschen narziß
tischer Persönlichkeitsstrukturen und ein sich an kurzen Wahlperioden orientierender institutioneller Selbster
haltungstrieb .
Von der Unveränderlichkeit solcher Zusammenhänge auszu
gehen, wäre sicherlich vorzeitige und unbedingte Kapitu
lation. Sich mit dem Hinweis auf unerwünschte "Alt
lasten", die schließlich auch uns von unseren Vätern und Vorvätern hinterlassen wurden, der Verantwortung für künftige Generationen und deren Umweltbedingungen zu entledigen, wäre allzu banal. Die Frage ist, ob wir - mit unserer durch zunehmenden materiellen Reichtum geläuterten Werteskala und entsprechend gestiegener
Sensibilität für qualitative Fragen - dieselbe Strategie der Externalisierung der Kosten unseres Lebensstils noch verfolgen wollen. Daß wir es könnten, ist gewiß.
Projekte am IIUG
Projektbereich I: ümweltberichterstattung
Medien-spezifische und medien-übergreifende Umweltberichterstattung
Otto Keck, Volker Prittwitz, Peter Wathern, Roland Zieschank
Umweltschäden, defensive Ausgaben und Nettowohlfahrtsmessung
Christian Leipert, Andreas Ryll (bis Mai 1986)
Projektbereich II: Umweltbelastungen und Umweltverhalten
Umweltbewegungen in westlichen Industriegesellschaften Nicholas Watts
Umweltverhalten in komplexen Entscheidungssituationen Hans-Joachim Fietkau, Katrin Gillwald (bis 1983), Hans Kessel (bis 1985)
Zeitpräferenzen: Aspekte inter-generativer
Entscheidungen über Umwelt- und Ressourcenfragen Klaus Zimmermann et a l .
Umwelt- und Sozialverträglichkeit gerätetechnischer Entwicklungen im Alltag
Bernward Joerges, Ingo Braun
Projektbereich III: Evaluation der Umweltpolitik
Umweltpolitik in Japan. Möglichkeiten und Grenzen technokratischer Umweltstrategien
Helmut Weidner et a l .
Luftreinhaitepolitik in alten Industrieregionen Helmut Schreiber
Luftreinhaltepolitik in Westeuropa
Peter Knoepfel (bis 1983), Helmut Weidner et a l .
Umweltprob leine in Mittel- und Osteuropa Helmut Schreiber et a l .
Umweltaußenpolitik Volker Prittwitz
Beschäftigungs- und Verteilungseffekte der Umweltpolitik
Gabriele Knödgen (bis 1983), Arieh A. üllmann (bis 1982), Klaus Zimmermann (bis 1985) et a l .
Projektbereich IV: Evaluation ausgewählter Politikbereiche unter Umweltgesichtspunkten
Energie und Haushalte. Umwelt- und verbraucherpolitische Aspekte örtlicher Energieversorgung
Bernward Joerges et a l .
Ökologisierung der Agrarpolitik
Jobst Conrad, Parto Teherani-Krönner, Peter Wathern
Umweltschutz und technische Innovationen
Jan C. Bongaerts, Volkmar J. Hartje (bis 1985), Bärbel Lossin
Umwelt- und sozial-verträgliche Technologien in der Entwicklungspolitik
Bernhard Glaeser et a l .