Repertorium zur Vorlesung
Musikgeschichte von der frühen Neuzeit
bis zur Aufklärung Oper und Oratorium
von
ca. 1600 bis 1800
Von Jacopo Peri zu
Claudio Monteverdi
Wiederholung
Sprechtheater und Musiktheater
* * *
Kongruenzen und Differenzen
Sprechtheater vs. Musiktheater
Kongruenzen
- Handlung/Plot ist nötig - Dramatischer Aufbau - Personaggi
- Teilung in Akte und Szenen - Personenführung
- Dramatische Momente / Effektszenen - Beide Dramenformen bauen auf der
Sprache auf
Sprechtheater vs. Musiktheater
Differenzen
- musikal. Textvortrag benötigt mehr Zeit
- Textwiederholungen sind im Gesang üblich -> Kürzere, komprimierter Text in der Oper
- keine gesungenen Diskurse
- Retardierendes Moment der Arie bzw. der Instrumentalteile (was macht in der
Zwischenzeit die/der SängerIn?) - Musik als weitere affekthafte /
dramaturgische Komponente sui generis
Sprechtheater vs. Musiktheater
Fazit: Das Musiktheater benötigt eine eigene Dramaturgie.
Der Librettist ist genauso wichtig für
das Gelingen der Oper als Kunstwerk wie der Komponist!
Peri - Euridice
Schwächen der Konzeption bei Peri/Rinuccini - Es wird zu viel berichtet, zu wenig dargestellt - Damit werden wichtige dramatische Szenen
verschenkt:
- Tod Euridices, Klage des Orfeo, Gesang vor Caron etc.
- Ingesamt zu wenig Handlung -> Statik
- Der Handlung fehlt eine klare Wendung und ein packendes Ende
Euridice – Szenenfolge
Scena I – Hirten und Nymphen bekränzen Euridice
Scena II – Unglücksnachricht der Dafne Scena III – Arcetro berichtet über Orpheus‘
Klage
Scena IV – Orpheus in der Unterwelt vor Pluto und Proserpina
Scena V – Bericht vom glücklichen Ausgang Orpheus und Euridice treten auf
Bau/Vertonung des Botenberichts
- Kontrast Freude – Schrecken - Beginn im Stil der Scena I
- Strophenarie d. Tirsi + Blockflöten - Dann: Einsatz der Botin Dafne mit
b-Molle „Lassa“ – „ach“ in T. 214 - Wechsel des harmonischen Genus - Seufzer-Gestik
- Verminderte Intervalle: b-e (T. 229, 401), b-h (T. 389), cis‘-f‘ (T. 411)
- Vorhalte: es‘‘-f (T. 329f, 376f) - Querstand g-gis T. 355f
Bau/Vertonung des Botenberichts
Dramaturgische Schwächen
- Die Botschaft Dafnes bleibt zunächst völlig unbestimmt
- Sehr langer Bericht, bis Dafne auf den Punkt kommt
- Vom ersten „Lassa“ bis zum Abschluss der Nachricht benötigt Dafne beinahe 200 Takte!
- Dem Bericht fehlt so das Zupackende
Bau/Vertonung des Botenberichts
Auch dieser Abschnitt wird durch einen Chor beendet.
Entsprechend dem Inhalt der Scena findet sich Seufzer-Gestik (Monodie), b-Molle und gerades Metrum.
Orpheus in der Unterwelt
Hörbeispiel Scena IV
Orpheus in der Unterwelt
- Orpheus beginnt erst in der Unterwelt wirklich zu singen
- Die musikalischen Mittel bleiben im Wesentlichen dieselben: Verminderte Intervalle, unaufgelöster Vorhalt (T.
119f), Chromatik (T. 240)
- Pluto und Proserpina zeichnen sich durch langsamere Deklamation aus
Claudio Monteverdi
l‘Orfeo
Von der Fabel zur Oper
Claudio
Monteverdi
Bild v. Bernardo Strozzi (158-1644)
Claudio Monteverdi
- getauft 15. Mai 1567 in Cremona
- gest. 29. November 1643 in Venedig - Unterricht bei Marcantonio Ingenieri - 1582 Sacrae Cantiunculae a 3 voci - 1590-1612 am Hofe der Gonzaga in
Mantua, ab 1601 Kapellmeister
- Ab 1613 Kapellmeister an S. Marco in Venedig
Frontispiz des Erst- drucks von 1609
Monteverdi l‘Orfeo
Libretto: Allessandro Striggio (1573-1630) Uraufführung: 24. Februar 1607
Zum 21. Geburtstag des Herzogs
Francesco IV. Gonzaga im herzoglichen Palast zu Mantua.
Die Aufführung wurde von der Accademia degli Invaghiti („Akademie der Vernarr-
ten“ oder „Verliebten“) initiiert.
Monteverdi l‘Orfeo
Palazzo Ducale, Mantua, 14. bis 17. Jh.
Monteverdi l‘Orfeo
Prolog - Die „Musica“ besingt ihre Macht Atto I - Orfeo&Euridice, Hirten, Nymphen
im Hochzeitsjubel
Atto II - Todesnachricht Euridices
Atto III - Orfeo in der Unterwelt. Mit seinem Gesang schläfert er Caronte ein.
Atto IV - Orfeo kann Euridice befreien.
Katastrophe: Orfeo dreht sich um und verliert Euridice endgültig.
Atto V- Os‘ Lamento. Er sagt aller Frauen- liebe ab. Apoll erhebt ihn i. d. Himmel
Peri: Euridice – Szenenfolge
Scena I – Hirten und Nymphen bekränzen Euridice
Scena II – Unglücksnachricht der Dafne Scena III – Arcetro berichtet über Orpheus‘
Klage
Scena IV – Orpheus in der Unterwelt vor Pluto und Proserpina
Scena V – Bericht vom glücklichen Ausgang Orpheus und Euridice treten auf
Monteverdi l‘Orfeo
Das Libretto von A. Striggio ist dramaturgisch überzeugender als dasjenige Rinuccinis:
- die Todesnachricht bricht mitten ins Geschehen ein
- Atto III bildet eine Peripetie: Orfeo ist das Unmögliche gelungen: in der Unterwelt anzukommen
- Atto IV bietet Befreiung und Katastrophe zugleich => dramatische Verdichtung
- Atto V „ideales“ und damit angemessenes Ende.
Monteverdi l‘Orfeo – Personaggi
La Musica – allegorische Person des Prologs Orpheus – sagenhafter thrakischer Sänger Euridice – Bergnymphe, Frau des Orpheus Coro di Ninfe, e Pastori
Speranza – Hoffnung, allegorische Figur
Caronte – Fährmann über den Acheron (Styx) Proserpina – Göttin der Unterwelt
Pluto – Gott der Unterwelt
Apolloe – Gott der Musen, des Lichts, der Mäßigung usw.
Monteverdi l‘Orfeo - Stromenti
- Duoi Grauicembani
- Duoi contrabassi de Viola - Dieci Viole da brazzo
- Un Arpa doppia
- Duoi Violini piccoli alla Francese - Duoi Chitaroni
- Duoi Organi di legno - Tre bassi da gamba
Chitaronne
Viola da
brazzo
Arpa doppia Viola
da
gamba
Monteverdi l‘Orfeo - Toccata
- Fünfstimmiger Blechbläsersatz
- Clarinstimme + Quintus, Altus, Vulgano, Bassus und Pauken
- In der Regel wurde dieser Satz von den Spielern frei improvisiert
- Verwendung fand er als Herrscher-Fanfare
=> Öffentlichkeit
- Das Neue und Ungewöhnliche ist, dass Monteverdi die Fanfare überhaupt notiert.
- Wiederverwendung in der Marienvesper 1610
Monteverdi l‘Orfeo - Prolog
Der Text des Prologs
1. Musica kommt vom Parnass, dem Apollon geweiht, Berg der Musen
2. Die Macht der Musik: Wecken der Affekte im Menschen
3. Musica humana – musica caelestis 4. Orpheus als Thema der Oper
5. Alles ge-horcht der Musica
Monteverdi l‘Orfeo - Prolog
Die Vertonung des Prologs
- Ritornell für 5stg. Streichersatz - Monteverdi komponiert kein
„Strophenlied“, sondern vertont jede Strophe individuell
- Die Singstimme ist dabei ganz vom Textinhalt her gestaltet und
- Am Sprachgestus orientiert.
Monteverdi l‘Orfeo - Prolog
Momente der Textausdeutung
- absteigende Linie „a voi ne vegno“
- „dolci accenti“: b-molle - „tranquillo“: Pause
- „turbato core“: Punktierung
- „posso infiammar“ durch Überlänge und Punktierung betont
Monteverdi l‘Orfeo - Prolog
- „le più gelate menti“ dargestellt durch Tonrepetition und cis – h
- Stillstand der letzten Strophe bei
„augellin“, „né s‘oda“ etc. durch von Pausen durchbrochene Stimme
dargestellt
- „s‘arresti“ - „stillesteh‘n“ durch
Halteton und fehlende Finalis der Kadenz
Monteverdi l‘Orfeo - Prolog
Dennoch gelingt Monteverdi, durch das harmonische Modell der ersten Takte: d – a – g(b) – Halbschluss bzw. d‘ in der Singstimme und
Abstieg zum a über eine a-mi- Kadenz etc., eine musikalisch formale Einheit zu gestalten.
Nur die II. Strophe weicht ab.
Raffael (1483- 1520), der
Parnass 1510/11
Raffael
Monteverdi l‘Orfeo – Atto I
- Gegenüber Peri wesentlich beweglichere Stimmführung -> deutlich rezitativisch
- Der Chor wird nicht wie bei Peri ans Ende der Scena versetzt (vgl. att.
Tragödie), sondern steht mit den Solisten gewissermaßen im Dialog - Auflockerung der Szene
- Einbeziehung d. Hochzeitsgesellschaft auf der Szene
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
Dramaturgie und Affekt Die Schreckensbotschaft
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
Grundsätzliches
- Wie bei Peri wird der Tod Euridices berichtet
- Die Schreckensbotschaft bricht in die Idylle ein (dramaturgische Begründung für den Bericht)
- Monteverdi gelingt eine Szene von wesentlich höherer Dramatik
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
Konkretes
- Die Botin benötigt bei Monteverdi 39 Takte der Edition, um den Tod
Euridices mitzuteilen, bei Peri 200.
- Sie setzt mit einem Schreckensruf auf dem Hochton e‘‘ ein (bei Peri b‘)
- T. 136 „acerbo“ (bitter) frei
einsetzendes gis‘ gegen A im Bass, T.
138 d‘‘ gegen Gis
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
- sehr bewegter Sprachgestus
- T. 138 völlig aus dem Rhythmus -> Entsetzen der Botin
- direkte Anrede d. Botin an Hirten/Orfeo:
- „lasciate il canto“; „a te ne vengo Orfeo“
(bei Peri sehr viel allgemeiner)
- eigentlicher Bericht in acht Takten, unterbrochen von Reaktionen Orfeos - T. 167f: b gegen #!
- Tod = Generalpause
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
- Auch der eigentlich Bericht des
Vorgangs ist kürzer und konzentrierter als bei Peri/Rinuccini
- Bemerkenswert ist die Darstellung von Euridices Tod:
- Hervorheben ihres Orfeo-Rufs (#)
- Dann absteigende Linie (b!; g-cis) über eine Oktave
- teilw. chromatisch (T. 195)
- „ed io rimasi“ – bewegungslos auf d‘
Monteverdi l‘Orfeo – Atto II
Zusammenfassung
Monteverdi und Striggio gelingt ein drama- turgisch wesentlich besseres Stück:
- konzentrierte Handlung
- actio und re-actio der handelnden Personen auch im Bericht
- beweglicheres, sprachnaheres Rezitativ - Intensiverer musikalischer Ausdruck
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
In der Unterwelt
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
- Monteverdi/Striggio nutzen das Zusammentreffen von Orfeo und
Caron, um die Macht der Musik dar- zustellen
- Monteverdi gibt eine detaillierte Instrumentierung vor
- Bereits der Abstieg des Orfeo am Ende des Atto II wird durch eine „Unterwelts- sinfonia“ markiert
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
Gegenüberstellung der Sphären in der Instrumentierung
Hades: Cornetti (Zinken), Posaunen, Regal (Orgel mit Schnarrregister)
Musica/Orfeo: Violinen, Arpa doppia, Chitaronne, Orgel
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
Monteverdi nimmt damit Traditionen auf:
- Posaunen sind klassische Instrumente der Sakralmusik, auch bes. des
Requiems
- Violine, Harfe bzw. Chitaronne sind Orpheus zugeordnet
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
Monteverdi nutzt den kompletten
dritten Akt, um die Macht der Musik darzustellen, indem Orfeo mit
seinem sowohl instrumental als
auch vokal virtuosen Gesang Caron letztlich zum Einschlafen bringt und der Weg in den Hades somit frei ist.
Monteverdi l‘Orfeo – Atto III
Dies ist dramaturgisch günstiger als bei Peri, wo Orfeo faktisch auf keine Hindernisse stößt.
Monteverdi l‘Orfeo – Atto IV
Katastrophe
Monteverdi l‘Orfeo – Atto IV
- Aufgrund der Fürsprache Proserpinas und der „soavemente lamentarsi“ – den ergreifenden Klagen – erhält Orfeo
Euridice zurück
- Unter der bekannten Bedingung: Er darf sich nicht umdrehen.
- Striggio und Monteverdi ergreifen die Gelegenheit, auch den Rückweg und damit die Katastrophe zu schildern.
Monteverdi l‘Orfeo – Atto IV
- Der Rückweg wird mit einer heiteren Arie bzw. Strophenlied eröffnet
- Orfeo singt drei gereimte Strophen in regelmäßigen Achtsilbern
- Die Ritornelle der Violinen
unterstreichen den heiteren Affekt
- Der laufende Bass in Vierteln evoziert das Bild des zur Oberwelt eilenden
Orfeo mit Euridice im Rücken -> Bewegungsmoment der Musik
Monteverdi l‘Orfeo – Atto IV
- Als Orfeo zweifelt – ab Schluss T. 101 – bleibt der laufende Bassus liegen
- Die Musik evoziert, was das Libretto nicht sagt: Orfeo ist stehen geblieben
- T. 119: Ausdruck des „Furors“ durch die Deklamation in 16teln
- Als sich Orfeo umblickt, spielt nur noch die Orgel
- „io pur“ – seh ich: es‘ zu früh als unvor- bereitete Dissonanz gegen d der Orgel
Monteverdi l‘Orfeo – Atto IV
Dann: Pausen des Erschreckens Reaktion Euridices
- Falsche Relationen: T. 126 e in b-molle - Chromatik es-e ebd.
- T. 128 fis‘ gegen G, nicht korrekt aufgelöst, Dissonanz bleibt in der Pause „hängen“
- T. 127 a‘-es; T. 129f d‘‘-gis‘, dieses gegen f im Generalbass
Monteverdi l‘Orfeo
Zusammenfassung
- nur sieben Jahre nach der Euridice von Peri/Rinuccini gelingt Monteverdi und Striggio mit dem Orfeo ein Werk von höchster dramaturgischer Qualität
- Das Libretto dramaturgisch besser aufgebaut
- Die Szenen knapper und komprimierter - Die Musik affekthafter, dramatischer
Monteverdi l‘Orfeo
Damit ist es sicher nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Monteverdi mit dem Orfeo das erste Musiktheater im eminenten Sinn gelungen ist.