A2162 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 4110. Oktober 2008
M E D I E N
U
nd am Wochenende ziehe ich mich gerne mit meinem E- Book Screen zurück, um ein bisschen zu schmökern.“ Was für viele als Freizeitbeschäftigung noch keine Rolle spielt, beschreibt eine gar nicht mehr so ferne Zukunft: E-Books, di- gitalisierte Bücher. Der augenfreund- lich flimmerfreie Lesekomfort, dazu Umblätterfunktion und von außen mögliche Beleuchtbarkeit entwi- ckeln sich Richtung Brillanz und Per- fektion. Hat der unaufhaltsame Sie- geszug eines neuen Massenmediums begonnen? Und inwiefern werden sich dadurch die kulturellen Rahmen- bedingungen und unsere Lesege- wohnheiten verändern?Naturwissenschaften und Tech- nikthemen dominieren das aktuelle E-Book-Angebot. Monatlich kom- men etwa 100 neue Digitaltitel auf den deutschen Buchmarkt. Die Bel- letristik ziert sich heftig, scheint (noch) unter poetischem Artenschutz und gleichsam Papierquarantäne zu stehen. Vorreiter sind die USA. Seit Einführung des „Kindle“, Amazons neuem Lesegerät für elektronische Bücher im November 2007, liegt der Umsatz mit E-Books bei knapp zehn Millionen US-Dollar im ersten Quar- tal 2008. Verfügbar sind derzeit rund 145 000 Titel. Sämtliche neuen ge- bundenen Bücher plant Random House USA bald auch als E-Books zu offerieren. Deutsche Verlage stehen ebenfalls in den Startlöchern – ein Zukunftsmarkt, der erst entsteht. Laut Marktforschungsinstitut TNS Emnid haben bis jetzt vier Prozent der Deut- schen schon mal einen Text auf einem
mobilen Endgerät wie PDA oder Mo- biltelefon gelesen. Wenn der Kindle tatsächlich Anfang 2009 kommt, dürften es mehr werden.
Christoph Bläsi, Buchwissen- schaftler an der Universität Erlangen, provoziert bewusst, wenn er hinsicht- lich des vordergründigen Kultur- schocks „E-Book“, fragt, ob per se
„alles, was mit Buch zu tun hat, schon Kultur ist?“. Denn hinsichtlich dieser Fragestellung sind Bücher zur Quan- tenphysik, Ratgeber zur Kaktuspflege oder zu Mangas fraglos grenzwertig.
Eine Frage der Haltbarkeit
Der technische Textbereich wandert aufgrund seiner leichteren wissen- schaftlichen Verarbeitung und relati- ven Textkürze ohnehin zunehmend ins Digitale. Interessant und brisant wird es im textstrukturellen Orchi- deenkosmos zwischen Belletristik und wissenschaftlicher Essayistik.Zur Beruhigung: Lesbares in Buch-
form ist derzeit materiell haltbarer als alles Digitale. So sieht sich die Deutsche Bibliothek mit dem Pro- blem konfrontiert, digitale Produkte in andere Formate zu kopieren, um sie überhaupt lesbar zu halten. Bläsi:
„Vor allem aber sind längere ge- druckte Texte ohne große Gliederun- gen aufgrund der physiologischen Gegebenheiten des Wahrnehmungs- apparats besser lesbar als Digitali- siertes. Die geisteswissenschaftliche Kommunikation ist wegen ihrer Textstruktur bislang selten im In- ternet anzutreffen, anders als etwa Informatik oder Ingenieurwissen- schaften. Entscheidendes in der Bio- chemie ist bisweilen fünf Seiten lang, in der Germanistik selten unter 350 Seiten.“ Allerdings dürfte beim wissenschaftlich vergleichenden Öff- nen und Einkopieren verschiedener Daten und Dateien der Computer un- schlagbar bleiben. Das E-Book wird also für die Dinge, die ohnehin be-
FRANKFURTER BUCHMESSE, 15. BIS 19. OKTOBER 2008
Sex and the
Einer der thematischen Schwerpunkte auf der Buch- messe sind die digitalen Medien. Unter den mehr als 400 000 Publikationen aus rund 100 Ländern, die dort präsentiert werden, sind sie allerdings noch in der Minderzahl.
Vom Erfolg des E-Books überzeugt:Der Europa-Chef von Sony, Fujio Nishida, bei einer Präsentation des digitalen Lesegeräts
E-Book
Foto:action press
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reits ins Digitale gewandert sind, kei- ne allzu große Bedeutung bekom- men, die Bedeutung wird sich beim Freizeitlesen herausstellen.
Der Verlust des Haptischen und Sinnlichen wird beklagt. Doch man denke nur an das Phänomen „Sexy iPod“ beim Musikhören. Bläsi:
„Wenn ein entsprechend sexy de- signtes Lesegerät zur Verfügung steht, dazu technisch perfekt, wird sich vor allem die sogenannte iPod- Generation damit auch zum Schmö- kern zurückziehen. Nicht nur Harry Potter dürfte so E-Book-tauglich werden – ohne kulturelle Konsequen- zen.“ Wohl nur die Frage einer relativ kurzen Zeit. Nach Expertenschätzun- gen wurden in den USA bisher bis zu 30 000 Kindle verkauft, der offenbar das Zeug hat, zu einem Kultobjekt zu werden. Mit den Sony-Lesegeräten erhöht sich die Zahl auf geschätzte 50 000 Geräte, mit denen in den USA (auch) Belletristik gelesen wird.
Härterer Wettbewerb
Je mehr digital konsumiert werden wird, egal auf welchen Geräten, desto naheliegender dürfte der Direktver- trieb vom Verlag werden. Bläsi: „Der Buchhändler wird sich auf eine be- ratende Funktion einstellen müssen.
Vermutlich wird ein Drittel der liefer- baren Titel in spätestens 15 Jahren di- gitalisiert sein.“ Was allerdings zeigt, dass noch einiges Gedruckte übrig bleibt, von den heiklen Digitalberei- chen „Haltbarkeit“ und „Abbildungs- qualität“ einmal abgesehen. Ein här- terer Wettbewerb zwischen Buchhan- del und Verlagen – man denke nur an den direkten Verlags-Download – scheint bevorzustehen.
Um zukunftsfähig zu sein, reicht es nicht, das gedruckte Buch unver- ändert in eine elektronische Form zu übernehmen. Vielmehr werden Auto- ren und Verlage sich Gedanken ma- chen müssen, wie man Geschichten für die digitalen Medien erzählt. Ein neues Phänomen entsteht in Japan:
„Mobile Novels“, die Leser regel- mäßig mit Episoden in handygerech- ter Form versorgen. Kuriose Beispie- le, die tradierte Lesegewohnheiten auf den Kopf stellen, findet man auch auf der Penguin-Website (www.
wetellstories.co.uk). I Roland Gross