Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 25|
25. Juni 2010 A 1267 NEO RAUCHUnheimliche Märchen
Gleich zwei Museen richten dem Leipziger Maler zu seinem 50. Geburtstag eine Retrospektive aus.
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uf den Bildern von Neo Rauch gibt es immer viel zu sehen. Der Maler erzählt Geschich- ten. Stets rätselhafte und meistens grausame. Und obwohl sie so schön gegenständlich und figürlich ge- malt sind, erschließen sie sich schwer. Das bekannte Bild, auf dem der junge Mann den Vater wie ein Kind im Arm wiegt (Vater, 2007) mag im Betrachter vielleicht eigene Empfindungen und damit eine Er- klärung wachrufen. Aber was macht der Feuerwehrmann mit dem Dop- pelschlauch, aus dem kein Wasser fließt, und weshalb wächst neben ihm ein Mann aus dem Boden, und brennen die beiden siamesisch ver- bundenen Mädchen auf dem Dach oder entschweben sie? (Die Fuge, 2007).Rauch selbst spricht von archety- pischen Zuständen. Nun sind Ma- ler, selbst so kluge wie Rauch, kei- ne Intellektuellen, die sich selbst glasklar interpretieren können. Ihm kommen, wie er sagt, die Bilder aus schwer ergründbaren Tiefen. Dann sind sie schließlich da, hängen in
riesigen Formaten an der Wand, und der Betrachter macht sich sei- nen eigenen Reim darauf. Es emp- fiehlt sich, zunächst mit der alten Grundregel jeder Bildbetrachtung zu beginnen, einer genauen Bildbe- schreibung, still für sich, besser noch in Begleitung.
Zur Betrachtung gibt es bis zum 15. August reichlich Gelegenheit.
Denn gleich zwei Museen richten dem Leipziger Maler anlässlich sei- nes 50. Geburtstags – Rauch wurde am 18. April 1960 geboren – eine üppige Retrospektive aus: das Mu- seum für bildende Kunst in Leipzig und die Pinakothek der Moderne in München. Man hat sich, da man sich gegenseitig nicht ausstechen konnte, miteinander abgestimmt.
Jede Ausstellung umfasst 60 Bilder.
Wer die Kraft hat, mag beide besu- chen und die Feinheiten der Aus- stellungskonzeption der konkurrie- renden Kuratoren begutachten. Der Rezensent war allein von Leipzig schon überwältigt. Wer München besucht, dürfte genau so gut bedient sein.
Zu sehen sind Bilder aus den beiden letzten Jahrzehnten. Rauch selbst lässt seine Werke nämlich erst ab 1993 gelten. Da hatte er sei- ne Ausbildung bei Arno Rink und Bernhard Heisig hinter sich und fungierte als Rinks Gehilfe. Nur zur Erinnerung: Heisig wie Rink zählen zur sogenannten Leipziger Schule, der eine zur „alten“, der andere zur zweiten Generation, Rauch wäre demnach der Enkelgeneration zuzu- rechnen. Die Leipziger halten we- nig von der Kategorisierung. Im- merhin, gemeinsam ist allen die Verbindung zur Leipziger Hoch- schule für Grafik und Buchkunst, die, nicht allein, aber vor allem durch die Genannten berühmt wur- de, schon zu Zeiten der DDR. Der mittlerweile berühmteste und wohl auch, marktmäßig gesehen, teuerste dürfte Neo Rauch sein, dessen gro- ße Zeit nach der „Wende“ einsetzte.
Rauch arbeitet immer noch in Leip- zig, in dem aufgelassenen Fabrik- gelände am Plagwitzer Bahnhof.
Neo Rauch hat seit jenem Jahr 1993 eine bemerkenswerte Ent- wicklung durchgemacht. Anfäng- lich die Anlehnung an Comics, flä- chig, helle bis blasse Farben, Mo - tive aus dem Alltag, Vorliebe für Technik. Sodann zunehmend „alt- meisterlich“ (Kritiker bezeichnen Rauch als neokonservativ), kräfti- ge Farben, die letzten Bilder aus dem Jahr 2010 schon brutal kräftig (etwa „Morgenrot“), die Motive märchenhaft, gemeint im Sinne der Grimm’schen Märchen, die ja durchweg unheimlich und oft grau- sam sind. Das Personal in Rauchs neueren Bildern scheint zumeist der Vergangenheit entsprungen zu sein:
Uniformen wie in den Befreiungs- kriegen, burschenschaftlich, Frisu- ren oder Kleider im Biedermeier- look. Umso erschreckender, dass diese biedermeierlichen Figuren zündeln, morden und foltern, als kämen sie aus Abu Ghraib. Doch zur Beruhigung sanfterer Gemüter:
Rauch hat auch „schöne“ Bilder ge- fertigt. Sie lassen nur einen Hauch das Unheimlichen ahnen.
Weitere Informationen zu beiden Ausstellungen unter: www.neo- rauch-ausstellung.de. ■ Norbert Jachertz