Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4322. Oktober 2004 AA2845
S E I T E E I N S
B
edingt durch die demographische Entwicklung, dürfte sich die Fi- nanzkrise der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) zuspitzen.Spätestens wenn ab 2010 die gebur- tenstarken Jahrgänge der Nach- kriegszeit ins Rentenalter kommen, drohen weitere Beitragssatzsteige- rungen und Leistungskürzungen. Da die GKV im Umlageverfahren fi- nanziert wird, müssten immer weni- ger erwerbstätige Beitragszahler das Gros der Kosten tragen. Eine gute Möglichkeit, dem entgegenzuwir- ken, wäre die (zumindest teilweise) Umstellung auf eine kapitalgedeck- te Finanzierung, wie es in der priva- ten Krankenversicherung prakti- ziert wird. Kapitaldeckung dient dort dazu, die Prämiengestaltung über die Versicherungsdauer hinweg zu verstetigen. Durch die Bildung von
Deckungskapital werden altersbe- dingte Prämienerhöhungen begrenzt.
Dass der Aufbau eines Kapital- stocks auch in der GKV sehr sinn- voll wäre, räumte Prof. Dr. med. Dr.
Karl W. Lauterbach (SPD) bei einer Euroforum-Veranstaltung in Neuss ebenso ein wie Andreas Storm (CDU). Dennoch sieht weder das von SPD und Grünen favorisierte Konzept der „Bürgerversicherung“
noch das „Gesundheitsprämien“- Modell der CDU die Bildung von Alterungsrückstellungen vor. „Wir sind zu nah an der demographischen Bedrohung“, rechtfertigte Lauter- bach diese Lücke im Regierungs- konzept. Für die Zeit ab 2010 ließe sich jetzt kein nennenswerter Kapital- stock mehr aufbauen. Der Einstieg in die Kapitaldeckung sei in den 70er- Jahren versäumt worden.Auch Storm
argumentierte pragmatisch: Die im Parteitagsbeschluss vom 1./2. Dezem- ber 2003 noch enthaltenen Pläne für die Bildung von Alterungsrückstel- lungen seien im aktuellen CDU-Kon- zept nicht mehr zu finden, um die Bürger „nicht zu überfordern“, sagte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Gesundheit und Soziale Sicherung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die beiden im Jahr 2006 zur Wahl stehenden Konzepte für eine GKV- Reform vor allem deshalb keine Nachhaltigkeitskomponente enthal- ten, weil die Parteien ihre Wähler nicht verprellen wollen. Denn inklu- sive Kapitaldeckungsanteil lägen so- wohl die Beitragssätze der Bürger- versicherung als auch die Gesund- heitsprämie deutlich über dem, was heute kommuniziert wird.Jens Flintrop
Demographiefalle
Kopf im Sand
D
ass Politiker gerne der Selbstver- waltung im Gesundheitswesen die Schuld geben, wenn es Probleme bei der Umsetzung von Reformen gibt, ist nicht neu. So war es auch in den ersten Monaten nach In-Kraft- Treten des GKV-Modernisierungs- gesetzes (GMG). Genützt hat es we- nig. Rund zwei Drittel der Versicher- ten fühlen sich im vorhandenen Sy- stem der Selbstverwaltung nach wie vor gut vertreten. Dies ergab eine repräsentative Infas-Untersuchung unter 1 000 Befragten im Auftrag der Universität Passau. Dagegen kam es zu einem Vertrauensverlust in die Politik. Knapp 40 Prozent fühlen sich gesundheitspolitisch von keiner Partei mehr vertreten.Für die Selbstverwaltungspartner ist das Vertrauen in das bisherige Sy- stem erfreulich. Über das schlechte
Abschneiden der Politik indes kann sich angesichts der anstehenden sozialpolitischen Weichenstellungen niemand freuen. Zumal die Befrag- ten grundsätzlich zu Reformen be- reit seien, sagt Studienleiter Prof.
Dr. phil. Winand Gellner vom „Zu- kunftsforum Gesundheitspolitik“ an der Universität Passau. „Es gibt kei- nen Hinweis auf Totalverweigerung.“
Wenig hilfreich ist es offenbar, dass die gegenwärtige sozialpoliti- sche Debatte fast ausschließlich auf die Reformoptionen „Bürgerversi- cherung“ und „Gesundheitsprämie“
reduziert und vor allem unter Ko- stengesichtspunkten geführt wird.
Denn die Passauer Studie zeigt auch: Den Versicherten geht es kei- neswegs allein um niedrigere Kas- senbeiträge. So sind rund 75 Prozent der Befragten nicht bereit, zugun-
sten von Beitragssatzsenkungen auf moderne Medizin zu verzichten.
Auch einer Einschränkung der frei- en Arztwahl erteilen sie eine klare Absage.
Die Politik steht vor der schwieri- gen Aufgabe, ökonomischen Not- wendigkeiten und legitimen Patien- teninteressen gerecht zu werden.
Trotz der augenscheinlichen Poli- tikverdrossenheit scheint die Gele- genheit dafür günstig. Denn selten, auch das ergab die Befragung, waren die Wähler so gut über gesundheits- politische Zusammenhänge infor- miert wie nach der Einführung des GMG. Will man diese Chance nut- zen, müssen sich die Parteien von ihrem Dogmatismus verabschieden und mit Patientenvertretern und Selbstverwaltungspartnern zusam- menarbeiten. Samir Rabbata