A-2498 (0) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 40, 8. Oktober 1999
T H E M E N D E R Z E I T
ihre männlichen Kollegen. Eine Er- klärung dafür ist, daß Ärztinnen mehr Patienten selbst sehen und auch mehr Zeit für diese aufwenden. Ein generelles Erklärungsmuster ist die unterschiedliche Geschlechtsrollen- wahrnehmung, die sich insbesondere innerhalb der ärztlichen Profession zeigt.
2. Die Berufsvererbung findet bei Ärztinnen wie bei Ärzten in erster Li- nie über den Vater statt, wirkt jedoch besonders dort, wo die politische Steuerung in der akademischen Aus- bildung geringer war. Der hohe Anteil von Ärztinnen in der ehemaligen DDR ist Ausdruck einer Steuerung des politischen Systems, nicht der Be- rufsvererbung.
3. Wenn wir die eingangs gestellte Frage „Sind weibliche Ärzte die besseren Ärzte?“ an dieser Stelle nochmals betrachten, kann die Ant- wort nur heißen: Ärztinnen sind nicht generell die besseren Ärzte; im funk- tionalen Berufsverständnis zeigen sich andere berufliche Handlungsmu- ster. Diese haben ihren Ursprung un- ter anderem in der eigenen ge- schlechtsspezifischen, teilweise tradier- ten Rollenkonzeption von Ärztinnen.
4. Der Ausgleich oder die Ver- besserung der Situation von Ärztin- nen wird am ehesten in der Realisie- rung struktureller Maßnahmen gese- hen, die u.a. die Doppelbelastung von Frauen und deren Folgen mindern sollen. Die Wahrnehmung solcher Aufgaben wird den ärztlichen Interes- senverbänden zugeschrieben, nicht aber geschlechtsspezifisch struktu- rierten Institutionen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2493–2498 [Heft 40]
Literatur bei den Verfassern
Anschrift der Verfasser Dr. Gerd Reifferscheid Palsweiser Straße 33 82140 Olching
Prof. Dr. Gerhard Kunz (em.) Universität zu Köln
Seminar für Sozialwissenschaften Gronewaldstraße 2
50931 Köln
AUFSÄTZE/BERICHTE
arüber, wie man Glück defi- niert, scheiden sich die Gei- ster. Dennoch sind die West- deutschen einer Umfrage zufolge glücklicher und zufriedener mit ihrem Leben als die Ostdeutschen. Das be- zieht sich vor allem auf Beruf, Ein- kommen/finanzielle Situation, Ge- sundheit und Freizeitgestaltung. Zu- friedener äußerten sich die Ostdeut- schen nur über ihre privaten Bezie- hungen: Familie, Kinder, Partner- schaft und Sexualität. Damit werde ihr Gesamtdefizit an Wohlbefinden jedoch nicht aufgewogen, interpre- tierte Prof. Dr. Elmar Brähler, Leiter der Abteilung Medizinische Psycho- logie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, die Ergebnisse der vergleichenden Ost-West-Unter- suchung „Deutsche – zehn Jahre nach der Wende“ vom April dieses Jah- res, die er gemeinsam mit Prof. Dr.
med. Dr. Horst-Eberhard Richter, Geschäftsführender Direktor des Sig- mund-Freud-Institutes Frankfurt am Main, initiierte.
Im Auftrag der Universität Leipzig und des Sigmund-Freud-In- stituts befragte das Meinungsfor- schungsinstitut Usuma je 1 000 Ost- und Westdeutsche im Alter von 14 bis 50 Jahren zu Lebenszufriedenheit sowie zu gesellschaftlichen und poli- tischen Fragen. Als einen „Prozeß des Auseinanderdriftens“ beschreibt Brähler die gegenwärtige psychische Befindlichkeit der Deutschen. Wäh- rend sich die Westdeutschen auch in einem harten sozialen Klima als wi- derstandsfähig einschätzen, blicken die Ostdeutschen nach wie vor pessi- mistischer in die Zukunft. Daß die
gesellschaftlichen Spannungen in den nächsten Jahren zunehmen werden, glaubt indes die Mehrheit der Be- fragten in Ost und West: So werde sich die Kluft zwischen Arm und Reich erweitern (86 Prozent der Ost- und 75 Prozent der Westdeutschen) und das Gemeinschaftsgefühl in Deutschland zurückgehen (71 Pro- zent der Ost- und 51 Prozent der Westdeutschen). Allerdings vermu- ten die Westdeutschen, daß sie mit ei- ner solchen gesellschaftlichen Ent- wicklung persönlich besser zurecht- kommen und in fünf Jahren mit ihrem Leben sogar zufriedener sind als heute, wohingegen die Ostdeut- schen das Gegenteil befürchten.
Defizit an Wohlbefinden im Osten
Sie teilen die Welt auch stärker in zwei getrennte Bereiche ein: in einen
„Harmonie und gefühlsmäßige Be- friedigung versprechenden Intimbe- reich“ und eine „unfreundliche und Mißtrauen erweckende Außenrea- lität“. In der Partnerschaft dominie- ren bei den Ostdeutschen Offenher- zigkeit und das Bedürfnis nach Zu- wendung; die Sorge, in der Partner- schaft nicht anerkannt zu werden, ist geringer als bei den Westdeutschen.
Gleichzeitig befriedigen diese Bezie- hungen sie sehr: Die Menschen in den neuen Bundesländern könnten sich offenbar besser mit ihren Gefühlen und Wünschen in persönlichen Bezie- hungen ausleben, konstatierten die Forscher. „Die These von ihrer an- geblichen emotionalen Verkümme-
Psychologische Ost-West-Studie
Westdeutsche zufriedener und optimistischer
Die Hoffnungen auf das psychische Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland haben sich zehn Jahre nach der Wiedervereinigung nicht erfüllt. In vielen Lebensbereichen bestehen noch deutliche Unterschiede.
D
rung infolge frühkindlicher Entbeh- rungen“, die vor einigen Monaten der Leiter des Kriminologischen For- schungsinstitutes Hannover, Christian Pfeiffer, aufgestellt hatte, „stimmt nach unseren Befunden nicht.“ Im Gegenteil: „Ostdeutsche erinnern sich an eine bessere Erziehung durch ihre Eltern als Westdeutsche“, so Brähler.
Von der Außenwelt fühlen sich die Ostdeutschen jedoch zunehmend bedroht. So wächst die Angst vor Ausländern (58 Prozent der Ost- und 45 Prozent der Westdeutschen), ein härterer Umgang mit Kriminalität und Unmoral wird gewünscht (69 Pro- zent der Ost- und 53 Prozent der Westdeutschen), 58 Prozent der Ost- deutschen und 37 Prozent
der Westdeutschen sehen in der Todesstrafe ein ge- eignetes Mittel, um Verbre- chen zu bekämpfen. Die Ostdeutschen erwarten ei- ne „strengere autoritäre Kontrolle des Bösen von draußen, vor dem sie in dem warmen Klima ihrer sozialen Binnenwelt ver- schont bleiben wollen“, heißt es in der Studie. Der deutschen Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo- Krieg standen die Befrag- ten in den neuen Bundes- ländern kritischer gegen- über: 56 Prozent der Ost- deutschen und 38 Prozent der Westdeutschen lehnen den Einsatz deutscher Sol- daten ab.
Für ein zaghaftes Zu- sammenwachsen sprechen jedoch die Ergebnisse der im Januar dieses Jahres von Brähler, Dr. Hendrik Berth (Technische Univer- sität Dresden) und Prof.
Dr. Wolf Wagner (Fach- hochschule Erfurt) vorge- legten Untersuchung zu all- tagskulturellen Differen- zen von Ost- und Westdeut- schen. In dieser Studie
wurden 1 030 Ost- und 1 020 West- deutsche zu Handlungsmustern und Einstellungen, zu Themen von Alltags- gesprächen, Arbeitseinstellung und dem Verhältnis der Geschlechter, be-
fragt. „Da sich bei keiner Frage ein wirklich gegensätzliches Antwortmu- ster in Ost und West zeigte“, heißt es in der Studie, „kann gefolgert wer- den, daß die Gemeinsamkeiten all- tagskultureller Einstellungen bei Ost- und Westdeutschen eindeutig über- wiegen.“
Alltagskultur: Zaghaftes Zusammenwachsen
Erwartet hatte man größere Dif- ferenzen aufgrund der stärkeren ame- rikanischen und mittelständischen Orientierung der Westdeutschen. „Die deutlichsten Unterschiede fanden wir bei Verhaltensweisen, die zur Entste-
hung von Mißverständnissen und Vor- urteilen beitragen können“, erklärte Brähler. So geben sich Ostdeutsche zur Begrüßung häufiger die Hand.
„Es mag ein trivial zu nennender Be-
fund sein“, so Brähler, „für eine An- näherung ist es jedoch wichtig, diese Differenz zu erkennen und zu akzeptie- ren.“ Während Westdeutsche nur bei förmlichen Anlässen die Hand geben, so eine zwanglose Atmosphäre schaf- fen und zugleich den Kontakt zu unge- liebten Personen vermeiden, erzeugen Ostdeutsche durch das tägliche Hände- schütteln eine größere Nähe und zeigen Beachtung für jede Person. Ostdeut- sche könnten nun das Nicht-Handge- ben eines Westdeutschen als Arroganz wahrnehmen und umgekehrt West- deutsche das ständige Handgeben von Ostdeutschen als aufdringlich empfin- den, interpretierte der Psychologe.
Entgegen den Erwartungen fan- den sich keine Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen hinsichtlich der Konflikt- bereitschaft und der Ar- beitseinstellung, galt doch bisher der Westdeutsche als konfliktbereit und er- gebnisorientiert, wohinge- gen der Ostdeutsche versu- che, Konflikte zu überspie- len, Gemeinsames zu beto- nen und detaillierte An- weisungen für die meisten Arbeitsschritte bevorzuge.
Daß dies nicht (mehr) so ist, zeigten die Studiener- gebnisse. Dabei sprachen sich die Jüngeren stär- ker für das Austragen von Konflikten und einen er- gebnisorientierten Arbeits- stil aus als die älteren Stu- dienteilnehmer.
Aufgrund der über- wiegenden alltagskulturel- len Gemeinsamkeiten kön- ne man die gegenwärtigen Schwierigkeiten und un- terschiedlichen Verhaltens- weisen (etwa in der Politik), so die Initiatoren der Stu- die, nicht wie nach der Wiedervereinigung mit dem Kulturschockmodell erklä- ren. Dort, wo der Aufstieg in das neue System möglich geworden sei, seien Diffe- renzen trotz Schwierigkeiten über- wunden. Wo dies nicht möglich war oder ist, entwickelten sich zunehmend radikale linke und rechte Gegenkul-
turen. Eva Hofmann
A-2500 (40) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 40, 8. Oktober 1999
T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE
Freunde/
Bekannte
Freizeitgestaltung/
Hobbys
Gesundheit
Einkommen/
finanzielle Lage
Beruf/Arbeit
Wohnsituation
Familienleben/
Kinder
Partnerschaft/
Sexualität
3 3,5 4
***
***
***
***
***
***
3,91 3,94
3,55 3,74
3,85 3,98
3,13
3,52
3,23
3,60
3,79 3,80
3,98 3,79
3,89 3,71
Lebenszufriedenheit nach Bereichen
*** p<0.001 (1 = unzufrieden, 5 = sehr zufrieden)
West Ost
***
***
Grafik