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Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts

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Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts

• Martin W. Schnell1

Bibliographische Angaben

Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp

Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Zürich: rüffer & rub

ISBN 13: 978-3-907625-31-6, 256 Seiten, € 29,80.

Erscheinungstermin: 2006

Rezension

Die Geschichte der Medizin ist die Geschichte eines gemischten Diskurses. Hippokrates, Paracelsus, Rudolf von Virchow, Victor von Weizsäcker, Christian Barnard und andere zeugen vom Ringen der Medizin um ihre Identität. Medizin ist mal Naturphilosophie, Soziologie der Krankheiten, Naturwissenschaft, Pathologie, spre- chende Medizin, Anthropologie, Zweig der Biowissenschaft und anders mehr. Neben dem Kampf um die Identität, der zugleich ein Motor des Fortschritts in der Medizin ist, ging und geht es immer auch um eine zweite Frage von ebenso grosser Bedeutung: ist Medizin eher eine Spezial- oder Allgemeindisziplin? Für was ist sie zuständig? Für den Menschen in seiner Lebenswirklichkeit oder für defekte Organe und chemische Prozesse? Für das Ganze oder einzelne Teile?

Die vorliegende Programmschrift geht tendenziell von der ersten Möglichkeit aus. Johannes Bircher, Pharmakologe und Reformer der Medizinausbildung in der Schweiz und in den 90er Jahren auch in Deutschland, und Karl.-H. Wehkamp, Medizinsoziologe und Gesundheitswissenschaftler, versuchen, die Medizin neu zu denken. Da sie heute unter dem Druck der Technik, der Biologie, des Managements und der Finanzen stehe, könne ihr grundsätzli- ches Potential nicht realisiert werden. Den zu einer Reform not- wendigen Ansatzpunkt bilde, so die Verf., „ein besseres Verständ- nis von Gesundheit und Krankheit“ (S. 9).

Gesundheit hat ihren Sitz im gelebten Leben und ist daher wesens- mässig verborgen, wie Hans-Georg Gadamer sagt. Sie entzieht sich der exakten begrifflichen Fixierung. Im Sinne einer positiven Unbestimmtheit zeigt sich Gesundheit indirekt in einem Potentialis an Zukunftsfähigkeit, der gleichermassen natürlich gegeben und kulturell produziert ist. Die Potentialität hat ihren Sinn darin, den Ansprüchen des endlichen Lebens, das in Kultur und Gesellschaft stattfindet, zu begegnen und dadaurch das Leben zu gestalten.

„Gesundheit ist ein dynamischer Zustand von Wohlbefinden, be- stehend aus einem biopsychosozialen Potential, das genügt, um die alters- und kulturspezifischen Ansprüche des Lebens in Eigen- verantwortung zu befriedigen. Krankheit ist der Zustand, bei dem das Potential diesen Ansprüchen nicht genügt.“ (S. 53)

Diese Definition ist insofern kritisch, da sie die Eigenverantwor- tung des Menschen und Bürgers stärkt und zugleich die Verfü- gungsgewalt der Ärzte über das Leben begrenzt. Gleichwohl haben Ärzte die sozialethische Aufgabe zu prüfen, ob ihre Patienten die Fähigkeit zur Ausübung von Verantwortung besitzen (vgl. S. 68f).

Andernfalls würde sich das Meikirch-Modell, wie die Verf. ihr Konzept nach dem Ort seiner Enstehung in der Schweiz benennen, in eine fatale Nähe zu neokonservativen Visionen des Patienten als eines blossen Kunden rücken.

Von Niklas Luhmann stammt die These, dass Ärzte nur mit Krankheit etwas anfangen können, Gesundheit sei gar kein medi- zinischer Begriff. Die Verf. machen sich diese Einsicht positiv zu nutze. Sie locken die Medizin auf das Terrain der Gesundheit, wo sie nicht heimisch ist und starten von dort aus ihr Umdenken der Medizin. Die Reform verläuft in einer Parallele von Individual- und Sozialmedizin.

Im Mittelpunkt der Individualmedizin stehen die Person des indi- viduellen Patienten, der Arzt, die Pflege und das Behandlungsteam.

Die Verf. entfalten das Universum einer Ethik der Arzt/Patient- Beziehung als einer Verantwortungspartnerschaft, die die Techno- logie und das Gesundheitssystem in ihren Dienst nimmt. Im Mit- telpunkt der Sozialmedizin steht die Gesellschaft und eine Gesund- heitspolitik auf der Grundlage von Epidemiologie und Evidence- based-medicine.

Der Zusammenhang beider Teile gerät etwas unvermittelt. Die Eigenverantwortung des Individuums wird durch eine gesundheits- politisch entsprechend implementierte Versorgungsstruktur der Gesellschaft gestützt. Der Umkehrschluss, nach dem auch das In- divuduum in seine Verantwortlichkeit die Gesellschaft einbeziehe, ist weniger überzeugend. Die in der Gesundheitsökonomie disku- tierte Rationalitätenfalle besagt ja, dass das, was für mich rational zu sein scheint, der Gesellschaft schadet. Appelle an den sog.

Einzelnen helfen bei der Sanierung des Ganzen folglich eher wenig.

Die Verf. schlagen vor, den Begriff der Solidarität im Rahmen der Gesundheitsversorgung neu zu diskutieren und die medizinische Forschung so auszurichten, dass individuelle und gesellschaftliche Perspektiven von Gesundheit und Krankheit stets zugleich berück- sichtigt werden.

1Private Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland

BuchbesprechungHumanmedizin

©2007 Schnell; licensee GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung. This is an Open Access article: verbatim copying and redistribution of this article is permitted in all media for any purpose, provided this notice is preserved with the article's original URL.

Artikel online frei zugänglich unter http://www.egms.de/en/journals/zma/2007-24/zma000412.shtml

Bitte zitieren als: Schnell MW. Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. GMS Z Med Ausbild.

2007;24(3):Doc118.

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Das Potential der Medizin kann insgesamt nur genutzt werden, wenn ein Integration von Patientenversorgung, Forschung und Gesundheitspolitik geschieht. Bloße Verhinderung des Auseinan- derfallens reicht nicht, obwohl sie schon eine Errungenschäft wäre, da in der privatisierten Gesundsheitsversorgung das Interresse an Forschung eher gering ist. Medizin ist als System der Gesellschaft zu begreifen: mit Identität und Differenz! In der medizinischen Ausbildung sollen, so die Verf., Persönlichkeitsentwicklung, Pro- blemorientiertes Lernen, Kommunikationsfähigkeit, Wissenschafts- theorie und ethische Reflexion leitend sein. Der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Normalität und Macht innerhalb des Gesundheitsdiskurses wird indes zu wenig Gewicht verliehen.

Es ist allerdings auch noch von niemandem wirklich geklärt wor- den, wie die dem Menschen geltende Behandlung und die Analyse von Macht der Medizin zusammen thematisiert und gelehrt werden könnten [1].

Das Meikirch-Modell von Bircher und Wehkamp konzentriert Reformbestrebungen der Medizin und treibt sie weiter voran. Re- formbestrebungen, die aus der Medizin selbst erwachsen. Das zeugt davon, dass die Medizin immer noch ein gemischter Diskurs ist und keine reine Naturwissenschaft oder blosse Spezialdisziplin (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1

Korrespondenzadresse:

• Prof. Dr. Martin W. Schnell, Private Universität Witten/Herdecke, Alfred-Herrhausen-Straße 50, 58448 Witten, Deutschland schnell@uni-wh.de

Literatur:

[1] Schnell MW. Die Unfasslichkeit der Gesundheit. Pflege & Gesundheit. 2006;4.

©2007 Schnell; licensee GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung. This is an Open Access article: verbatim copying and redistribution of this article is permitted in all media for any purpose, provided this notice is preserved with the article's original URL.

Artikel online frei zugänglich unter http://www.egms.de/en/journals/zma/2007-24/zma000412.shtml

Bitte zitieren als: Schnell MW. Johannes Bircher / Karl-H. Wehkamp: Das ungenutzte Potential der Medizin. Analyse von Gesundheit und Krankheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. GMS Z Med Ausbild.

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