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Archiv "Die Zivilisation und die „potentiell Gemeingefährlichen“" (02.05.1974)

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Die Information:

Bericht und Meinung THEMEN DER ZEIT

Die Zivilisation und die „potentiell

Gemeingefährlichen"

Eröffnung des VI. Internationalen Seminarkongresses

der Bundesärztekammer in Meran

Es war ein seltsamer Kontrast:

Sonne an einem makellos blauen Frühlingshimmel, rund um Meran die Apfelblüte im Beginn, fast wie mit dem Kongreßbeginn synchro- nisiert, ein neues Kurhaus in fröhli- chen Farben mit großen Fenstern, die den Blick freigaben in den frisch grünenden und blühenden Kurgarten; die Mehrzahl der Eröff- nungsredner bei der Startveran- staltung des VI. Internationalen Oster-Seminarkongresses der Bun- desärztekammer in Meran aber schlug dunkle, pessimistische oder kampfbetonte Worte an. Die Fröh- lichkeit blieb ausgesperrt, oder sie gab sich verfärbt als Satire.

„Gefahren der Zivilisation für das Kind" lautete der Titel des Festvor- trages, den Prof. A. Windorfer (Er- langen) hielt. Der alterfahrene Päd- iater — Vertreter eines Faches al- so, das mit dem zukunftsträchti- gen, dem optimistischen Teil des weiten Bereiches ärztlichen Wir- kens zu tun hat — zeigte sich als Kultur- und Zivilisationspessimist, dessen Hoffnungsraum nur noch schmal ist. Sein Fazit aus der Auf- zählung der Gefahren, der Widrig- keiten, der Unnatürlichkeiten, in denen die Kinder der gegenwärti- gen Zivilisationsperiode aufwach- sen: „Unsere Überzivilisation ist zur Degeneration und Dekadenz entartet."

Zwar räumte Windorfer ein, daß Zi- vilisation (die ja schon mit dem er- sten Steinwerkzeug begonnen hat) ein unentbehrlicher Bestandteil menschlicher Entwicklung ist; zwar erkannte er die Unabänderlichkeit der Tatsache an, daß Zivilisation einen Januskopf haben muß, weil Fortschritt allzu häufig unvermeid- bare Nachteile mit sich bringt.

Aber die Situation des Kindes in der gegenwärtigen Zivilisationsstu- fe: das ist für ihn zum Teil — zum großen Teil — vermeidbare Schuld der erwachsenen Zivilisationswelt;

einer Welt, die die Psychologen mit modernen Methoden und Vokabu- larien ihres Faches zu heilen su- chen, die aber in vielen Aspekten vom „gesunden Menschenver- stand" bewältigt werden könnte, wenn man dies nur wollte — und die Ärzte, die mit den „Zivilisa- tionsprodukten" in der Kinderklinik zu tun haben, müssen alle, die es angeht, immer wieder zur Anwen- dung ihres gesunden Menschen- verstandes anhalten, forderte Win- dorfer; ein Appell, der zwar großen Beifall im Auditorium fand, der aber gegenüber der Konstatierung von „Degeneration und Dekadenz"

doch blaß bleibt.

Prof. Windorfer stellte einen Kata- log der Gefahren für die körperli- che, die geistige und die Gemüts- entwicklung des heutigen Kindes zusammen: Verkehr, Vergiftungen, Umwelt einschließlich der nach seiner Auffassung immer noch viel zu häufig angewandten Exposition gegenüber Röntgenstrahlen; die Überstimulierung des Kindes durch zu hohe geistige Beanspruchung in der Schule (Gymnasium und Hoch- schule sind nicht für alle, auch wenn das Schlagwort von einer Chancengleichheit das suggeriert);

falsche Bilder (Fernsehen und Wer- bung), fehlende Normalfamilie — und vieles andere mehr. Was soll das Gerede — um ein Beispiel Windorfers zu zitieren — von der Notwendigkeit „hautnahen Kon- takts zur Bezugsperson", wenn die- selben Väter, die Mütter, die so re- den, vom Stillen ihres eigenen Kin- des nichts halten. Oder: Dieselben

Leute oder Gruppen, die für jedes neue Medikament eine überaus in- tensive, jede Gefährdung des Pa- tienten ausschließende Erprobung fordern und durchsetzen, finden nichts dabei, wenn alle Jahre wie- der neue Erziehungsprogramme und Lehrmethoden im Großversuch an den Schulkindern ausprobiert werden (Windorfer: „Kein Wun- der, daß die kinderpsychiatrische

Sprechstunde überfüllt ist!"). Nicht die Zivilisation allein ist es, die den Kindern das Leben schwer macht

— dies klang aus den Worten Prof.

Windorfers deutlich heraus —, son- dern es ist die Gesellschaft, die mit ihrer Zivilisation nicht fertig wird, und es sind die Machthabenden in dieser Gesellschaft, die die Schwerpunkte falsch setzen, die es zulassen, daß diese Gesellschaft das Attribut „kinderfeindlich" trägt.

Vor Prof. Windorfer hatte der Vize- präsident der Südtiroler Ärztekam- mer, Dr. Schuster, wohl ohne Kenntnis des nachfolgenden Vor- trages eine satirische Gesell- schaftsanalyse gegeben, in der er vorschlug, die Probleme der Um- weltbeeinträchtigung doch einfach durch Entwicklungshilfe zu lösen:

die Industrie in die Entwicklungs- länder zu verlagern und unseren Kontinent in ein gesundes Agrar- und Safari-Europa zurückzuver- wandeln (die einzige Gefahr, die es dann noch geben könne, sei die neue Sportart der „Volksmärsche";

denn: „Ein marschierendes Volk ist nur schwer aufzuhalten ...").

War es Zufall, daß die mehr auf die ärztliche Berufspolitik konzentrier- ten Sprecher der Eröffnungsveran- staltung des Meraner Kongresses in der Färbung ähnliche Töne an- schlugen? Schon Dr. Schuster hat- te seine Satire mit einem durchaus nicht satirischen Hinweis darauf eingeleitet, daß in Italien nun auch die sechsunddreißigste Regierung seit dem Kriege (nach welchem ei- gentlich eine Ära der Pflege der in- dividuellen Persönlichkeitsentwick- lung eingeleitet werden sollte) von der Einführung eines staatlichen Gesundheitsdienstes spricht. Pri- marios Dr. Piaty (Graz), Vizepräsi- dent der Österreichischen Ärzte- kammer, berichtete darüber, daß zwei Tage zuvor die Ärzte seines Landes wieder einmal für ihre Frei- heit demonstrieren mußten, dies- mal gegen den Entwurf eines

„Krankenanstaltengesetzes", das die Ambulatorien auf einem ande- ren Wege wieder einführen soll, nachdem das über das Sozialversi- cherungsrecht gescheitert ist. 1>

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 18 vom 2. Mai 1974 1291

(2)

Die Information:

Bericht und Meinung THEMEN DER ZEIT

Dr. Piaty sieht in allen mitteleuro- päischen Ländern eine gleichartige Tendenz ("heute sagt man Trend"): eine Politik im Gesundheitswesen, die nicht am Wohle des Patienten orientiert ist, sondern an dem Ziel, einen "syndikalistischen Macht- staat" zu schaffen. Piaty konstatier- te, daß solche Politik voller Unauf- richtigkeiten sei: Man beklage den Mangel an praktischen Ärzten und vermeide gleichzeitig doch sorgfäl- tig jede Maßnahme, die die Tätig- keit des praktischen Arztes erleich- tern könnte. Man verlange mehr psychologische Behandlung, ze- mentiere aber ein System, in dem es für solche Behandlungen immer weniger Zeit gebe. Man predige Mitbestimmung - nur nicht da, wo die Machtstrukturen in dieser Poli- tik betroffen sein könnten. Piaty rief die Ärzte auf, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen durch das Gewinnen der Patienten als Verbündete.

Auch die Ausführungen von Prof.

Schretzenmayr, dem Vorsitzenden des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung, mündeten in einem Appell. Er forderte die Ärzte auf, die noch bestehende Freiheit der. Fortbildung zu nutzen. Vor dem Hintergrund verschiedener Äuße- rungen in Politik und Publizistik sieht Schretzenmayr die Gefahr, daß staatliche Zwangsfortbildung verordnet werden und damit ein neuer Machtapparat über den noch freien Berufsstand der Ärzte Ge- walt gewinnen könnte. Wie anders sei es zu verstehen, wenn bei- spielsweise Prof. Sigusch in einer Illustrierten die Allgemeinärzte we- gen angeblicher Unwissenheit als

"potentiell gemeingefährlich" hin- stellt? Diese, ebenso wie viele andere Äußerungen, wertet Prof.

Schretzenmayr als bewußt aufge- bautes "Alibi für den Staatsdirigis- mus".

Das bunte und vielfältige Angebot - so sagte zu diesem Thema bei Eröffnung des Kongresses Dr.

Lienhoop, Präsident der Ärztekam- mer Bremen und offizieller Dele- gierter des Vorstandes der Bun- desärztekammer in Meran - , wie

es ein solcher Kongreß ausbreitet, die Mannigfaltigkeit der Themen und der Seminare geben dem fort- bildungswilligen Arzt die Möglich- keit, sich diejenigen Informationen

?:U beschaffen, die er wirklich braucht. Dies sei bei weitem bes- ser als die "schulische Ordnung"

einer Zwangsfortbildung.

Dem Beobachter scheint die Tatsa- che, daß der große neue Saal des Kurzentrums in Meran bei dieser Kongreßeröffnung fast völlig be- setzt war (obwohl solch eine Ver- anstaltung ja doch kaum eine wis- senschaftlich-fortbildende Stunde sein sollte), ein augenfälliger Be- weis dafür zu sein, daß die Ärzte sich der Zusammenhänge zwi- schen der Fortbildung und den Be- dingungen ihrer Berufsausübung sehr wohl bewußt sind. Und er stellt die Frage: Kann ein freier Ärztestand mithelfen, den Kultur- pessimismus zu widerlegen? bt

Mehr Macht

für die Gewerkschaften und ihre Funktionäre

Das Mitbestimmungs-Konzept der Bundesregierung

Die paritätische Mitbestimmung wird auf weitere Sicht unsere Wirt- schafts- und damit auch unsere po- litische Ordnung verändern. Die Bundesregierung hat die Weichen in Richtung auf eine syndikalisti- sche Funktionärs-Wirtschaft ge- stellt. Unternehmerisches Handeln wird künftig in vielen Fällen durch das Arrangement von Unterneh- mern und Gewerkschaftern er- setzt. Der Macht des Kapitals wird die Übermacht der Gewerkschaften gegenübergestellt; die Eigentümer verlieren ihre Rechte oder Vorrech- te, ganz wie man will; die Arbeit- nehmer dürfen Wahlmänner be- stimmen, die wiederum die Arbeit- nehmerbank im paritätisch besetz- ten Aufsichtsrat besetzen. Die "De- mokratisierung" der Wirtschaft en- det allerdings, wo Gewerkschafts-

1292 Heft 18 vom 2. Mai 1974 DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

interessen gefährdet werden könn- ten; die Gewerkschaften trauen sich jedenfalls die Urwahl der Auf- sichtsratmitglieder nicht zu.

Die Entscheidung der Regierung hat weitreichende wirtschaftspoliti- sche Konsequenzen, aber auch vielschichtige politische Folgen.

Hier die Daten, die für die Unter- nehmen gesetzt werden sollen:

~ in allen Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten werden von 1975 an die Aufsichtsräte paritä- tisch mit Vertretern der Anteilseig- ner und der Arbeitnehmer besetzt.

ln Unternehmen mit mehr als 20 000 Beschäftigten zählt zum Bei- spiel der Aufsichtsrat künftig 20 Mitglieder: davon vertreten zehn die Interessen der Eigentümer und zehn die Interessen der Arbeitneh- mer. Auf dieser Arbeitnehmerbank sitzen auf jeden Fall drei Gewerk- schaftsfunktionäre und mindestens je ein Arbeiter, Angestellter und lei- tender Angestellter.

~ Alle Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer werden durch Wahl- männer gewählt. Die Wahlmänner werden von der Belegschaft in ge- meinsamer Wahl nach den Grund- sätzen der Verhältniswahl gewählt.

Den einzelnen Gruppen wird ein Minderheitenschutz eingeräumt. Die Kandidaten können jeweils von ei- nem Zehntel der Gruppenangehöri- gen nominiert werden; in jedem Fall reichen 100 Unterschriften aus.

Da die Wahlmänner in den Betrie- ben gemeinsam gewählt werden, haben auch Kandidaten eine Chan-

ce, die von Minderheiten der Grup-

pe gestellt werden. Die leitenden Angestellten haben damit keine Gewähr, daß sie im Wahlmänner- Gremium von Leuten ihres Vertrau- ens vertreten werden.

~ Das gilt in noch höherem Maße für die Wahl der Aufsichtsratmit- glieder. Das Vorschlagsrecht ist hier zwar den Gruppen vorbehalten.

Da aber die Wahlvorschläge nur von 20 Prozent der Gruppenange- hörigen oder von 100 ihrer Mitglie- der getragen werden müssen, kön- nen auch hier die Kandidaten der

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