A 2128 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 45|
8. November 2013KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Werner Golder, Radiologe, Avignon
E
s kommt nicht oft vor, dass Au- toren einer klinischen Studie den Patienten, die daran teilgenommen ha- ben, wenigstens im Nachwort, wo Sponsoren, Schreib- und studentische Hilfskräfte feste Plätze haben, danken.Diese Beobachtung kann man in allen Disziplinen machen, sie wird durch je- de neue medizinisch-wissenschaftliche Zeitschrift bestätigt. Dabei hätten die mit Abstand wichtigsten Partner eines derartigen Forschungsprojekts beson- dere Anerkennung verdient.
Schon das Rekrutierungsverfahren ist unbarmherzig. Bereits der erste Kontakt mit dem Studienarzt kann tief
treffen und dauerhaft verletzen. Da wird der Kandidat mit akademischer Präzision auf seine Diagnose ange- sprochen; es werden ihm die Mängel der bisher üblichen und möglicherwei- se auch bei ihm bereits angewandten diagnostischen/therapeutischen Ver- fahren dargelegt; anschließend wird ihm das neue Produkt/Verfahren vorge- stellt, das im Dienste der klinischen Forschung erprobt werden soll. Mag der Patient dem Fortschrittsdenken in der Medizin gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen sein und dem Arzt, der ihm gegenübersitzt, persönlich vertrau- en, so wird ihm in dieser Situation doch schonungslos bewusstgemacht, dass er an einer für die Wissenschaft inter - essanten Erkrankung leidet oder das Stadium der Erkrankung, in dem er sich gerade befindet, für die Wissen- schaft interessant ist.
Auch wenn der Patient bis dahin noch nie etwas von „Studienarm“ oder
„Kontrollgruppe“ gehört hat, erkennt er bei der Lektüre des Aufklärungsbo- gens, dass das Vorhaben für einige Teilnehmer möglicherweise nicht frei von unerwünschten Wirkungen ist.
Durch die Medikamenten-Beipackzettel sind Patienten an solche Warnungen
gewöhnt. Die mit der Teilnahme an der Studie verbundenen Risiken sind frei- lich anders als die Nebenwirkungen zu- gelassener Pharmaka – sie sind zu- mindest teilweise unbekannt und po- tenziell größer.
Die Teilnahme an der Studie ver- langt viel Zeit und viel Geduld – bei den An- und Abfahrten, in den Warteräu- men, bei den Gesprächen, bei den Un- tersuchungen. Manchmal wird aus Gründen des Studiendesigns der Ver- zicht auf die Fortsetzung der Einnahme bisher verwendeter Medikamente und/
oder die Unterbrechung der bisherigen therapeutischen Maßnahmen gefor-
dert. Nicht immer wird im Detail erläu- tert, ob die begleitenden körperlichen und instrumentellen Untersuchungen studienbedingt sind oder auch sonst sinnvoll und notwendig gewesen wä- ren. Jeder einzelne Test erhöht aber die physische und psychische Belastung des Patienten.
Allein die Intensivierung der soma - tischen Überwachung führt unweiger- lich dazu, dass der Kranke von seinem Leiden noch stärker vereinnahmt wird, als es ohnehin der Fall ist. Das hohe Ziel der ärztlichen Kunst, den Patienten durch die Therapie, sei sie kausal und/
oder symptomatisch, in die Lage zu versetzen, seinen Zustand so lange oder so oft wie möglich zu vergessen und so bedingungslos wie möglich aus dem Bewusstsein zu verdrängen, rückt dadurch konzeptionell in die Ferne.
Zum objektiven Erwartungsdruck kommen die mit Fortschreiten der Stu- die sich unweigerlich mehrenden sub- jektiven Ahnungen und Befürchtungen.
Jeder Studienteilnehmer bringt einen natürlichen, in jeder Hinsicht verständ- lichen Egoismus in das Projekt ein. Er hofft auf Linderung, Besserung, viel- leicht sogar Heilung durch die Teilnah- me an der Studie – als Belohnung für
die Entbehrungen, die er dafür auf sich nimmt. Es ist ihm nicht anzulasten, wenn er den potenziellen Eigennutzen mit der Leistung, die er für Wirtschaft und Wissenschaft erbringt, verrechnet, danach fragt, was er persönlich vom Ergebnis der Studie zu erwarten hat, und aus dem Studienziel individuelle Zuversicht ableitet. Doch der Optimis- mus der Startphase ist vielfach von be- grenzter Dauer. Nach einer mehr oder weniger langen Frist stellt sich immer häufiger und drängender die Frage:
Welcher Gruppe gehöre ich an – der, die den Nutzen hat, oder jener, die auf den zweiten Platz kommt?
Studienpatienten erklären sich mit ihrem Ja gleichsam zu Dienstleistern für anonyme Nachfolger in der gemeinsa- men Krankheit. Als ob das Tragen und Ertragen des Leidens nicht schwer ge- nug und die Not, in die sie die Krankheit gestürzt hat, nicht bitter genug wäre, stellen sie ihr beschädigtes Leben für einen Versuch zur Verfügung, verinnerli- chen sie sich, dass dabei von ihrer Per- son krankheitsbedingt etwas Außerge- wöhnliches erwartet wird, nehmen sie den zusätzlichen Erwartungsdruck, der ihnen mit der Rolle des Forschungssub- jekts zugefallen ist, auf sich und gehen die von dem einen als mehr, von dem anderen als weniger bedrückend emp- fundene Verpflichtung ein, in und mit und durch die Krankheit einen Beitrag zum Fortschritt der Medizin zu leisten.
Die Studienpatienten bleiben im Schatten des Kollektivs verborgen. Ge- rade dann, wenn die Teilnehmer im An- hang wieder einmal nicht dankend er- wähnt werden, sollten sich nicht nur die Leser und Nutznießer jeder einzel- nen Studie, sondern auch die Initiato- ren laufender und geplanter klinischer Prüfungen deren Verdienste voll Be- wunderung und Dankbarkeit vergegen- wärtigen.
TEILNAHME AN KLINISCHEN STUDIEN