Die Information:
Bericht und Meinung
SelbstverwaltungAugenblick eben nicht durch radi- kalen „Neubeginn" die vorhande- nen Grundstrukturen der gesund- heitlichen Versorgung der Bevöl- kerung zerstört wurden.
Aber zu Fehlinterpretationen ä la DGB-Hirche kommt man eben leicht, wenn man zu undifferenziert über ein sehr differenziertes Sy- stem „nachdenkt". Der Zufall will es, daß in der gleichen Zeit, in der Hirches Artikel (den übrigens die Redaktion der „Welt der Arbeit"
ausdrücklich als „Diskussionsauf- trag" kennzeichnet) erscheint, die theoretische Zeitschrift der SPD
„Die Neue Gesellschaft" wieder mal ein „Schwerpunktheft" über das Gesundheitswesen heraus- bringt.
Mit einer Ausnahme sind in die- sem Heft nur Beiträge von solchen Autoren enthalten, die differenziert zu denken in der Lage sind. In die- sem Zusammenhang ist der Unter- abteilungsleiter im Bundesarbeits- ministerium, Albert Holler, zu er- wähnen, der nachweist, daß auch und gerade dann, wenn man ein Lieblingsziel sozialdemokratischer Gesundheitspolitik verfolgt, näm- lich die sogenannte „Demokratisie- rung" des Systems, man dem Ge- danken der Einheitsversicherung geradezu abschwören muß: Demo- kratisierung verträgt sich nämlich nicht mit Zentralisierung.
Holler denkt hier in gewisser An- lehnung an andere Vorschläge aus sozialdemokratischen Quellen an die Bildung von Gremien, die die verschiedenen Zweige des Ge- sundheitswesens auf den verschie- denen Ebenen koordinieren sollen:
„Gesundheitsausschüsse" auf der kommunalen Ebene, Gremien auf regionaler Ebene und eine Koordi- nation auf Landesebene; darüber schwebt der Bund, der Kriterien für eine bundesweite gleichmäßige Versorgungsstruktur entwickeln solle. Und dann heißt es: „Ein sol- ches vierstufiges Gesundheitssy- stem erfordert auch von den Kran- kenkassen eine Anpassung ihrer Verwaltungsstruktur. Sie müßten auf allen vier Ebenen handlungsfä-
hig sein, wofür sich das Modell ei- ner Einheitskrankenkasse nicht eignet." Und er vermerkt noch dazu, daß die Angestellten-Ersatz- kassen sogar neue innere Struktu- ren suchen müßten, um sich ihrer- seits in dieses dezentrale System einfügen zu können.
Der staatliche Gesundheitsdienst aber, so schreibt Holler an anderer Stelle seines Aufsatzes, sei eine Entwicklungsrichtung, in die man keinesfalls gehen dürfe, weil damit den Bürgern die Chance zur Mitbe- stimmung überhaupt genommen würde:
„Die Chance einer Einflußnah- me auf die Entscheidungspro- zesse ist für den einzelnen Versi- cherten über ein Selbstverwal- tungssystem wesentlich größer als über die allgemeine politische Wil- lensbildung."
Und was ist nun mit den Kosten, die angeblich durch eine Einheits- versicherung eingespart werden könnten? Offenbar gibt es auch auf sozialdemokratischer Seite die durchaus richtige Meinung, daß man sich die Demokratie eben et- was kosten lassen muß — wobei hier gar nicht erörtert zu werden braucht, ob die Zentralisierung (und die damit verbundene Büro- kratisierung) nicht unter Umstän- den sogar teurer ist. Hollers Argu- mente laufen jedenfalls in die glei- che Richtung, die einer der Nesto- ren sozialdemokratischer Sozialpo- litik, der langjährige niedersächsi- sche und Bonner Staatssekretär Prof. Walter Auerbach, in einer Aka- demietagung zu Loccum einmal in unübertroffener Weise formuliert hat: Der staatliche Gesundheits- dienst, so sagte Auerbach, sei eine großartige Sache — für England;
dort wird nämlich die Zentralisie- rung der Macht durch den Com- mon Sense der Engländer aufgeho- ben. In unserem Lande wäre ein solcher Gesundheitsdienst, so sag- te Auerbach damals, ein Alptraum, weil der Common Sense fehlt! Die- ser Mangel aber könne nur durch die gegliederte Krankenversiche- rung ausgeglichen werden. bt
DIE GLOSSE
An die Fristgelehrten
Mit der Täuschung über (nur ver- meintlich korrekte) Fristen bei der
„Reform des § 218" hat sich un- längst in Innsbruck sogar ein inter- nationaler Kongreß beschäftigt.
Auch der Kongreß mit Teilnehmern aus neun Ländern (die im übrigen das umfassende Thema „Medizin und Ideologie" diskutierten) wies auf die Unmöglichkeit einer kor- rekten Bestimmung des Empfäng- nistages hin und stellte zudem fest, daß der Termin juristisch laut Bür- gerlichem Gesetzbuch eine Varia- bilität von 122 Tagen hat, daß er aber nach dem neuen § 218, also politisch, akkurat auf den 84. Tag vor der Beendigung der 12. Woche festgelegt sein soll. Ob diese Paradoxie als Grundlage für ein neues und gutes Gesetz geeig- net und mit dem Grundgesetz ver- einbar ist? Der Gesetzgeber meinte das offenbar. Nun müs- sen wir (vermutlich in einigen Mo- naten) mit jenem paradoxen Ge- setz leben. Ein Trost ist uns Ärz- ten geblieben. Die etwas unfrom- me Ausübung der Abtreibungen ist nicht obligatorisch gewor- den. Der neue Paragraph sagt nichts darüber aus, daß das nun- mehr Straffreie nun auch unbedingt gehandhabt werden müßte. Das ist ähnlich wie bei der Liberalisierung des § 175 oder bei der Straffrei- heit des Ehebruchs. Man hat keins von beiden, also weder die Homo- sexualität noch den Ehebruch, zur Pflicht gemacht — auch für Frauen- ärzte nicht. Dr. Schaetzing
Wie man
Studienanfänger zählt
Seit die Statistik über die Studien- anfänger in Humanmedizin veröf- fentlicht wird, hat die Bundesärzte- kammer Grund, diese Angaben an- zuzweifeln. Nach der Ärztestatistik steigt die Zahl der Ärzte nämlich schneller an, als es die ent- sprechenden Studienanfängerzah- len vermuten lassen. Der Beweis für die Annahme, daß die Zahl der Studienanfänger zu niedrig ange-
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Heft 17 vom 22. April 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Tabelle: Approbationen in Relation zur Zahl der Studienanfänger Approbationen Studienanfänger Zahl der Ärzte
(1.
Januar)
(1965) 2559 (1956) 3017 (1970) 9752 (1961) 5812 (1962) 5900 (1971) 5403 (1963) 4421 (1972) 4960 (1964) 4700 (1973) 5433 (1965) 5308 (1974) 5173 (1966) 5781
(1965) 94 503 (1966) 97 774 (1970) 113 457 (1971) 117 854 (1972) 121 483 (1973) 125 300 (1974) 128 879 (1975) 134 529
Die Information:
Bericht und Meinung AUS EUROPA
geben wurde und wird, war bisher nicht möglich, weil es nicht mög- lich war, von allen Bundesländern die genaue Zahl der ausgespro- chenen Approbationen zu erfahren, und weil eine Mortalitätsstatistik nicht geführt wird.
Dieser Beweisnotstand ist jetzt be- hoben, denn das Statistische Bun- desamt hat in „Wirtschaft und Sta- tistik" Heft 11/75, Seite 737, für die Jahre 1965 und 1970-74 die ent- sprechenden Zahlen veröffentlicht.
Geht man davon aus, daß die Min- deststudiendauer inklusive der er- forderlichen Prüfungen im Durch- schnitt um ein Jahr überschritten wird, so beträgt die Zeit zwischen Studienbeginn und Approbation sieben Jahre zuzüglich der Medizi- nalassistentenzeit.
Die Tabelle stellt die Zahlen der ausgesprochenen Approbatio- nen den entsprechenden Zahlen der Studienanfänger gegenüber und zeigt gleichzeitig den Anstieg der Arztzahlen absolut. Die Werte der Jahre 1970 und 1973 sind durch die Verkürzung der Medizinalassi- stenzeit um jeweils sechs Mona- te überhöht.
Die Zahlen lassen den Schluß zu, daß einige Jahrgänge der Studien- anfänger besonders erfolgreich studiert haben, denn mehr als 100 Prozent des Jahrgangs haben die Approbation erhalten.
Auch wenn man die vielleicht zu enge Betrachtung nach einzelnen
Jahren unberücksichtigt läßt und die Gesamtzahlen vergleicht, so haben 95,25 Prozent der Studien- anfänger die Approbation erhalten, was nach den Erfahrungen schlicht unmöglich ist. Selbst wenn diese Ungereimtheiten außer acht gelas- sen werden, ist nicht zu erklären, wie die Gesamtzahl der Ärzte so stark steigen konnte, denn die Ge- samtzahl zeigt nicht nur den abso- luten Zugang — die Mortalität ist schon ausgeglichen.
Doch nicht nur die Rückschlüsse über die erteilten Approbationen beweisen die Vermutung der Bun- desärztekammer über die zu nied- rigen Angaben der Zahl der Stu- dienanfänger — ein delikates Bei- spiel lieferte die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund:
Anfang April 1975 gab die ZVS auf Befragen der Bundesärztekammer die deutschen Studienanfänger in Humanmedizin für das Sommerse- mester 1974 und das Winterseme- ster 1974/75 mit 2558 und 4064, also zusammen 6622 an. Am 16.
Mai 1975 beantwortete der Bundes- minister für Bildung und Wissen- schaft mit Schreiben — M B/II A 6
— 0104-6-50/75 — unter ausdrück- lichem Hinweis auf die Quelle ZVS eine kleine Anfrage im Deutschen Bundestag — Drucksache 7/3655.
Danach gab es 7419 deutsche Stu- dienanfänger.
Richtiges Zählen scheint schwierig
zu sein. Klaus Gehb
EUROPÄISCHE GEMEINSCHAFT
Prof. Sewering im Europäischen Beraterausschuß
Die Bundesregierung hat Prof. Dr.
Hans Joachim Sewering, Präsident der Bundesärztekammer, als Ver- treter der praktischen Ärzte in der Bundesrepublik für den Beraten- den Ausschuß nominiert, der durch die Richtlinien über die Freizügig- keit bei der Niederlassung von Ärz- ten im Bereich der Europäischen Gemeinschaft begründet werden soll. Das Gremium heißt „Beraten- der Ausschuß für die ärztliche Aus- bildung"; er soll die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hinsichtlich der Fragen beraten, die bei der Angleichung der ärztli- chen Ausbildung in den Mitglieds- ländern auftauchen.
Dem Ausschuß gehört aus jedem Land je ein Vertreter der berufs- ausübenden Ärzte, der medizini- schen Fakultäten und der zuständi- gen staatlichen Behörden an; zu jedem Mitglied wird auch ein Stell- vertreter benannt. Der Ständige Ausschuß der Ärzte der EG hatte verlangt, daß die Benennung der Mitglieder und Stellvertreter, so- weit sie die praktizierenden Ärzte vertreten, durch ihn bzw. die ärztli- chen Organisationen, die den Stän- digen Ausschuß bilden, erfolgen sollte.
Dies war jedoch rechtlich nicht durchführbar, da die Mitglie- der von der EG ernannt werden;
man konnte nur darauf vertrauen, daß die Regierungen der Mitglieds- länder die von den ärztlichen Orga- nisationen benannten Kandidaten präsentieren würden. Dies ist sei- tens der Bundesregierung gesche- hen.
Als Stellvertreter für Prof. Sewering ist der Vizepräsident der Bundes- ärztekammer, Dr. Horst Bourmer, benannt worden. Die Fakultäten sollen Prof. Dr. med. Eduard Seid- ler und (als sein Stellvertreter) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT