Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 40½½6. Oktober 2000 AA2569
S E I T E E I N S
M
üssen wir eigentlich aus dem Ausland daran erinnert werden, welche Leistung wir alle, in Ost- deutschland und in Westdeutschland, erbracht haben seit der Wiederverei- nigung Deutschlands? Die Neue Zür- cher Zeitung schreibt: „Die zehn Jah- re seit dem Ende der DDR sind ei- ne Erfolgsgeschichte, die die Bilanz deutschen Wirkens im 20. Jahrhun- dert im höchst positiven Sinne prägt.“Und sie bescheinigt beiden Teilen Deutschlands „die besten Qualitä- ten“ zur Wirkung gebracht zu haben:
Wagemut und Unternehmenslust, So- lidarität und Hilfsbereitschaft, Au- genmaß und Großzügigkeit.
In der Tat, wer vor zehn Jahren neugierig durch Ostdeutschland rei- ste, und die gleiche Tour heute wie- derholt, trifft ein anderes Land an.
Die Landschaften mögen nicht so strahlend blühen wie versprochen, aber Ostdeutschlands Städte und Dörfer sind schön und verwandelt, die Infrastruktur übertrifft die West- deutschlands.
Die Angleichung der Lebensver- hältnisse ist freilich nicht komplett gelungen. Vielleicht haben wir uns alle von Anfang an zu viel vorge- macht und von der Marktwirtschaft, allein durch deren Einführung, ein Wunder erwartet. Aber die Anglei- chung ist weit vorangeschritten: Die Nettolöhne stiegen, Kurt Bieden- kopf wies soeben darauf hin, von 55 Prozent im Jahr 1991 auf heute 86 Prozent, gemessen am Westniveau.
D
as Gesundheitswesen, um auf unser ureigenes Thema zu kom- men, wurde innerhalb von zehn Jah- ren völlig umgewandelt und moder- nisiert. Auch hier hapert es gewiss mit der Angleichung der Lebensver-hältnisse. Ausgerechnet jetzt, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der Vereinigung schließen Ärzte ih- re Praxen aus Protest wegen der ungleichen Honorarbedingungen.
Sie schließen aber auch aus Protest gegen die Budgetierung – und das Problem haben sie mit allen Ärzten in Deutschland gemein. Es muss ge- meinsam gelöst werden.
Vor zehn Jahren hat der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, ausgeführt, nach der Wiedervereinigung könne „nie- mand mehr auf die Probleme des je- weils anderen verweisen, die ihn we- nig oder gar nicht berührten. Durch die Vereinigung sind daraus jetzt un- sere Problemegeworden“.
So ist es, und so hat die ärztliche Berufspolitik, auch die der Kassen- ärzte gehandelt. Die Solidarität wur- de bisher von Ost und West nicht in- frage gestellt. Hoffen wir, dass das auch in Zukunft so bleibt.
D
ie Ärzte in Ostdeutschland haben 1990 in bewundernswerter Weise völlig neue Verhältnisse akzeptiert und sie aktiv gestaltet. Ärzte, die ein- gebunden waren in ein festes Gerüst und feste Vorschriften, haben sich, vielfach schon in fortgeschrittenem Alter, als Freiberufler niedergelas- sen, investiert, neue Organisations- formen gefunden. Gewiss hat die an- fängliche Euphorie dabei als Schub- kraft gedient. Ausschlaggebend aber waren ausdauernder Fleiß und Risi- kobereitschaft, die heute ein Ge- sundheitswesen geschaffen haben, das sich weltweit sehen lassen kann.In Ostdeutschland wurden vor zehn Jahren weitgehend die west- deutschen Strukturen eingeführt – auch im Gesundheitswesen. Das ging
so rapide, dass das eine oder andere, das es wert gewesen wäre, übernom- men zu werden, den Bach herun- terging. Insgesamt aber gab es für Ostdeutschland keine Alternative, wenn man unvoreingenommen und ehrlich die Verhältnisse analysiert.
F
ür die Ärzteschaft brachte die Vereinigung die ärztliche Selbst- verwaltung. Eggert Beleites, Präsi- dent der Landesärztekammer Thü- ringen, hält „das Selbstverwaltungs- prinzip für eine der wesentlichen Er- rungenschaften für uns Ärztinnen und Ärzte nach dem Umbruch 1989“.Die Ärzte in Ostdeutschland haben mit großer Tatkraft und Schnelligkeit ihre Selbstverwaltung auf- und aus- gebaut. Im Nachhinein erkennt An- dreas Crusius, Präsident der Ärzte- kammer Mecklenburg-Vorpommern, aus Rostock: „Wir haben wohl da- mals alle nicht so recht gewusst, wor- auf wir uns da eingelassen haben.“
Nun, der Ritt über den Bodensee ist heil überstanden.
Der Alltag hat Ostdeutschland erreicht. Damit sind auch Frust und Verdrossenheit verbunden. Über dem wollen wir nicht vergessen, was er- reicht wurde und was künftig er- reicht werden kann, wenn – um noch einmal Vilmar aus 1990 zu zitieren –
„Eigeninitiative und Eigenverant- wortung ebenso wie Entscheidungs- und Entschlusskraft“ auch in Zu- kunft die Ärzteschaft prägen und an- treiben.