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Zehn Jahre Autonom Leben:

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Academic year: 2022

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Zehn Jahre Autonom Leben:

1. Wie alles begann:

1983 trafen sich ein paar behinderte und nichtbehinderte Menschen, die ausgehend von ihrer eigenen Betroffenheit und ihren eigenen Interessen auf verschiedenen Wegen mit der Idee des selbstbestimmten Lebens für behinderte Menschen in Berührung gekommen waren.

Ein paar von ihnen hatte sich schon seit Anfang der achtziger Jahre zusammen für die Interessen behinderter Menschen engagiert - z. B. in der Aktionsgruppe gegen das "Internationale Jahr der Behinderten", zu dem das Jahr 1981 durch die UNO erklärt wurde oder bei der Vorbereitung des "Krüppeltribunals" im Herbst 1981. Andere hatten an Seminaren von August Rüggeberg teilgenommen.

Dieser hatte die "Independent Living Centers" in einigen Städten der USA

kennengelernt und wissenschaftlich über die Möglichkeiten des selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen in Westdeutschland gearbeitet. Mit finanzieller Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung hatte er eine Reihe von bundesweiten Seminaren organisiert, um auch hier eine Selbstbestimmt-Leben-Bewegung voranzubringen.

Das gemeinsame Ziel war, sich und anderen behinderten Menschen gegenseitig dabei zu helfen, ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu sollte eine Anlaufstelle eingerichtet werden, bei der entsprechender Rat und konkrete praktische Hilfe zu bekommen waren.

Allen Beteiligten war aber auch mehr oder weniger klar, daß zur Erreichung dieses Zieles eine offensive Interessenspolitik und sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität als auch mit den bestehenden Behindertenorganisationen gehören mußte.

In den meisten dieser tradionellen Behindertenverbände hatten unbehinderte Funktionäre das Sagen und Machen. In einem Selbstverständnistext schrieben wir:

"Die Spitzenorganisationen der freien Wohlfahrtspflege nehmen dabei für sich in Anspruch, Sozialanwalt für die Benachteiligten zu sein. Melden diese sich selbst zu Wort oder schaffen sie sich ihre eigenen Selbsthilfegruppen, zeigen sich erhebliche

Schwierigkeiten mit dem Selbstverständnis. Die weitgehende Unfähigkeit der etablierten Verbände, die eigene Funktion zu hinterfragen, weist darauf hin, daß sie die Nöte der Betroffenen brauchen, um ihre Existenz zu rechtfertigen und in politischen Fragen der Ansprechpartner der ôffentlichen Sozialadministration zu bleiben.

Diese festgefügte Position der Verbände führt dazu, daß sie sich nicht auf die Seite der emanzipatorischen Behinderteninitiativen schlagen können. Sie müßten die Wurzeln ihres Fremdhilfe-Daseins, die sozialen und politischen Ursachen von Not, kompromißlos attackieren und damit auf ihre traditionell gewachsene Unersetz1ichkeit verzichten.

Stattdessen bleiben Behinderte in ihrem Streben nach Unabhängigkeit mit einem Netz

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der Wohltätigkeit aus Medizin, Sonderpädagogik, Sozialverwaltung und diakonischer Nächstenliebe konfrontiert."

Auch die an sich positiven Ansätze ihrer Politik, die Integration behinderter Menschen in die übrige Gesellschaft zu fördern, führten und führen nicht selten dazu, daß sich die behinderten Menschen den Normen und Werten der

unbehinderten Menschen anpassen und deren Tempo - oft vergeblich - hinterherhecheln. Und neben den erfolgreich integrierten verbleibt dann ein

"Rest" behinderter Menschen, der als "integrationsunfähig" eingestuft und gänzlich an den Rand gedrängt wird.

Die soziale Wirklichkeit Anfang der achtziger Jahre war für behinderte Menschen in Westdeutschland sehr uneinheitlich. Es gab nachwievor verbreitet

erschreckende Formen von Aussonderung und Diskriminierung, daneben aber auch in allen größeren Städten verstärkte Anstrengungen, bauliche Barrieren abzubauen und den öffentlichen Nahverkehr behindertenfreundlicher zu machen.

In diesen Jahren begann verstärkt der Sozialabbau und die sozialen Verhältnisse kühlten spürbarbar ab. Rücksichtsichtslosigkeit, Profitstreben und eine soziale Entsolidarisierung nahmen als direkte Folge der Politik der konservativen Bonner Politik zu. Gleichzeitig aber begannen nicht nur die "Selbstbestimmt-Leben- Initiativen" mit ihrer Arbeit, sondern auch immer mehr Eltern setzten sich organisiert für die Integration ihrer behinderten Kinder in Kindergärten und Schulen ein und erzielten dabei bis heute zwar immer noch kein Wahlrecht zwischen Sonder- und Regeleinrichtung, aber doch beachtliche Erfolge.

Schließlich war das Jahr 1984 auch nicht nur das Geburtsjahr von Autonom Leben, sondern auch der Beginn des Privatfernsehens in Deutschland mit seinen schrecklichen Auswirkungen auf die Ideale und das Menschenbild in den Köpfen gerade der jüngeren, unbehinderten Menschen. Und es war das

Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe des Buches "Praktische Ethik" des australischen "Bioethikers" Peter Singer. Das Buch, das maßgeblich die heute wieder sehr verbreitete Diskussion über den "Wert" des Lebens behinderter Menschen mitbestimmt hat und in dem unverhohlen behauptet wird, daß es moralisch gerechtfertigt und sozial notwendig ist, bestimmte behinderte Menshen zu töten.

Autonom Leben mußte sich daher gleichzeitig gegen alle Formen der

Aussonderung, von diskriminierender Sonderbehandlung und von Ausgrenzung aus dem normalen gesellschatlichen Leben wehren und durch das offensive Verteidigen eigener Werte und Normen die positiven Ansätze der "Integration"

ergänzen.

Nach den unvermeidlichen Auseinandersetzungen über die Satzung wurde am 1.

April 1984 der Verein Aktion Autonom Leben gegründet.

Anfang 1985 begann dieser dann mit der Sozialberatung anderer behinderter Menschen, noch völlig unprofessionell, mit ehrenamtlich tätigen Leuten und noch in einer Privatwohnung, aber schon mit dem Schwerpunkt, bei der Organisierung von ambulanten Hilfen und der Suche nach HelferInnen Unterstützung zu geben.

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1986 schlossen sich die übriggebliebenen Mitglieder der Hamburger

Krüppelgruppe dem Verein an. Damit erhielt Autonom Leben auch vom letzten der drei Stränge der sich seit Anfang der achtziger Jahre bundesweit

entfaltenden "Krüppelbewegung" personelle Verstärkung und inhaltliche Impulse.

Ende 1987 wurde Autonom Leben, wie so viele andere soziale Initiativen, zu einem "ABM-Projekt". Mit Geldern im Rahmen von

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen konnten eigene Räume finanziert und zunächst zwei, später dann bis zu fünf bezahlte Kräfte für die Beratungsstelle für

behinderte Menschen angestellt werden.

Seit März 1988 sind die Räume in der Eulenstraße 74 das Zuhause für Verein und Beratungsstelle.

Zum gleichen Zeitpunkt wurde auch das RöpersHofcaféals zweites Projekt von Autonom Leben eröffnet.

In den den folgenden Jahren wurden die Räume in der Eulenstraße zu einem wichtigen Treffpunkt für die behinderten Menschen in Hamburg. Der Verein machte viele öffentliche Aktionen und entwickelte sich zu einem kleinen, aber einflußreichen politischen Faktor.

Anfang der neunziger Jahre verzichteten wir offiziell auf das "Aktion" in unserem Namen. Das schlichte, aber zutreffende "Autonom Leben" hatte sich

durchgesetzt. Oder, wie wir es in einen Brief an den Hamburger

Behindertenbeauftragten Dr. Koll schrieben: "Aktion haben wir nicht mehr im Namen, die machen wir lieber!".

Autonom Leben war nicht der erste Versuch in Hamburg, behinderte Menschen mit so unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielen und mit so verschiedenen politischen Biografien zusammenzubringen, um gemeinsam zu handeln und gemeinsam nicht nur g e g e n etwas zu sein, sondern auch um konkret zu zeigen, was man anders und besser machen will. Heute, nach über zehn Jahren können wir feststellen, das es ein gelungener Versuch war. Es ist gelungen,

• politisches Engagement gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung behinderter Menschen,

• die unmittelbare, gegenseitige Unterstützung bei der Führung des eigenen, selbstbestimmten Lebens und

• die Bereitstellung unterschiedlicher Formen der Hilfe für andere

Menschen mit Behinderungen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, in einer Organisation zusammenzufassen.

Die "Krüppelbewegung" - andere bevorzugen den Begriff

"Behindertenbewegung" - ist heute in unterschiedliche Teile zerfallen. Ein Teil rackert sich ab in den "Selbstbestimmt-Leben-Zentren" und in dessen

bundesweiten Zusammenschluß: Interessenverband Selbstbestimmt Leben

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Deutschland (IsL) - hin und her gerissen im Kampf ums finanzielle Überleben und der konzeptionellen Weiterentwicklung ihrer Beratungszentren. Ein anderer Teil engagiert sich im Anti-Eugenik-Forum, dem bundesweiten Zusammenschluß von Frauen, behinderten Menschen und anderen gegen die eugenischen Folgen der modernen Medizin und die wieder aufgekommende "Lebenswertdiskussion".

Ein dritter Teil bemüht sich, das "Forum der Krüppel- und Behinderteninitiativen", das politische und organisatorische Zentrum der Behindertenbewegung in den achtziger Jahren, am Leben zu erhalten. Ein weiterer Teil arbeitet mit Teilen der

"alten" Behindertenorganisationen im Initiativkreis für die Gleichstellung an der Durchsetzung eines Antidiskriminierungsgesetzes.

Autonom Leben engagiert sich in allen diesen Bereichen: Mitglieder von Autonom Leben sind nicht unwesentlich an der Arbeit des bundesweiten Anti- Eugenik-Forums beteiligt. Das Hamburger Anti-Eugenik-Forum trifft sich in den Räumen von Autonom Leben. Mitglieder von Autonom Leben arbeiten im

"Krüppelforum" mit. Autonom Leben war maßgeblich am Gelingen der Aktionstage zur Gleichstellung behinderter Menschen und für ein

Antidiskriminierungsgesetz beteiligt, die seit drei Jahren regelmäßig am 5. Mai durchgeführt werden. Und nicht zuletzt hat Autonom Leben mit der

Beratungsstelle für behinderte Menschen, dem RöpersHofcafé und der Hamburger AssistenzGenossenschaftdrei vorbildliche Projekte des selbstbestimmten Lebens realisiert.

In wohl keiner anderen Organisation behinderter Menschen in Deutschland ist es besser gelungen die auseinandergegangenen Teile der "Krüppelbewegung"

wieder zusammenzubringen.

Für Autonom Leben gehört das auch alles zusammen!

Denn was nützen uns barrierefreie Gebäude und Niederflurbusse, wenn sich behinderte Menschen wegen des gesellschaftlichen Klimas nicht mehr allein aus ihrer Wohnung trauen? Was bringt uns noch ein Antidiskriminierungsgesetz, wenn Behinderungen immer mehr zu vermeidlichen Übeln erklärt werden und sich ein Zwang zur Gesundheit gesellschaftlich durchsetzt? Was bedeutet der Erhalt der "Zentren für selbstbestimmtes Leben", wenn im Namen der

Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der unbehinderten Mitmenschen und durch Kosten-Nutzen-Rechnungen in der Sozial- und Gesundheitspolitik

behinderten Menschen das Lebensrecht abgesprochen wird?

2. An der Schwelle der Akzeptanz:

Heute hat Autonom Lebenüber 60 Mitglieder und ist damit unter den Hamburger Behindertenvereinen kein ganz kleiner mehr.

Wichtiger ist, daß nach über zehn Jahren der Verein bei den Behörden als kompetenter und hartnäckiger Verhandlungspartner geachtet wird. Nicht unüblich ist allerdings auch, daß diese Anerkennung unserer Art der

Interessenvertretung durch BehördenvertreterInnen die Form der durch Sorge

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über vermehrte Kosten geprägten Ablehnung annimmt, daß Autonom Leben bei den behinderten Menschen Bedürfnisse weckt, die behördlicherseits eher nicht geweckt werden sollen.

Bei vielen Behindertenorganisationen und bei noch mehr einzelnen MitarbeiterInnen aus Einrichtungen oder Ämtern hat sich Autunom

Lebeninzwischen Respekt und Anerkennung erworben und arbeitet mit diesen bei vielen Anlässen gut zusammen.

Der Verein ist Mitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte und der Altonaer Behindertenarbeitsgemeinschaft.

Für uns am allerwichtigsten ist aber die breite Zustimmung, die Autonom Leben von den behinderten Menschen erhalten hat, die den Verein durch seine

Beratungsstelle, durch das Röpershofcafé, durch seine Aktionen und sein öffentliches Auftreten oder seit kurzem durch die Assistenzgenossenschaft kennengelernt haben.

Eine weitere, vielleicht ungewollte, Anerkennung sehen wir auch in der

erfreulichen Tatsache, daß einige der "traditionellen" Behindertenorganisationen Teile der Idee des selbstbestimmten Lebens übernehmen. Vor einigen Jahren waren es zum Beispiel nur die wenigen und kleinen Organisationen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die den Begriff "persönliche Assistenz"

benutzten und das Wort "Betreuung" bewußt ablehnten. Sie wollten durch diesen anderen Begriff für "Pflege" und "Hilfe" deutlich machen, daß auch schwer behinderte Menschen, die von der Hilfe durch andere abhängig sind, selbst bestimmende und handelnde Subjekte bleiben müssen und nicht zu bloßen Objekten, die betreut und versorgt werden, gemacht werden dürfen.

Heute ist der Begriff "persönliche Assistenz" zumindest in vielen Publikationen der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte und deren Mitgliedsverbände fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch der Begriff "Selbstbestimmung"

wird dort nahezu inflationär benutzt.

Wir machen uns keine Illusion über den tatsächlichen Wandel der Verhältnisse innerhalb dieser Behindertenorganisationen und von deren Verständnis von Interessenvertretung. Bei einigen ist die gewandelte Sprache sicherlich mehr Kostümierung oder fauler Opportunismus. Aber dennoch, Sprache ist nicht nur Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse, sondern auch ein Mittel zu deren Veränderung. Wenn heute immer mehr behinderte Menschen und deren

Interessenverbände von "persönlicher Assistenz" sprechen - leider machen das noch nicht im gleichen Maße die hilfeabhängigen älteren Menschen und ihre Organisationen - dann ist das eine gute Voraussetzung, daß in absehbarer Zeit die MitarbeiterInnen der Behörden und in den Behinderteneinrichtungen es ebenfalls tun müssen. Und wenn die "Betreuer" gezwungen sind, von der persönlichen Assistenz "ihrer Betreuten" zu sprechen, das ist dann schon ein kleines Stück tatsächlicher Machtverschiebung.

All das ist Ermutigung und Verpflichtung für die weitere Arbeit des Vereins.

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3. Was heißt autonom Leben:

Wenn behinderte Menschen, unabhängig vom Grad ihrer Behinderung, nach ihren eigenen Bedürfnissen, Zielen und Lebensentwürfen leben und sie die gleichen Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten erhalten wie nichtbehinderte Menschen, dann ist es ein autonomes Leben. Im Konzept unserer

Beratungsstelle faßten wir die wichtigsten Voraussetzungen dafür zusammen:

"Voraussetzung für ein autonomes Leben ist, daß

• genügend behindertengerechter Wohnraum zur Verfügung steht;

• uneingeschränkte Mobilität durch den Abbau aller baulichen Barrieren und den behindertengerechten Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs gewährleistet ist;

• alle ausgrenzenden und entmündigenden Sondereinrichtungen abgeschafft werden und durch begleitende Maßnahmen, gesetzliche Auflagen u.ä. gesichert wird, daß behinderte Menschen in den "normalen" Einrichtungen, vom Kindergarten bis zum späteren Arbeitsplatz, sich gleichberechtigt entfalten können;

• ein ausreichendes, an den besonderen Bedürfnissen des einzelnen behinderten Menschen ausgerichtetes Angebot an Hilfsmitteln und ambulanten Hilfen - im

Kindergarten, in der Regelschule, in der eigenen Wohnung, am Arbeitsplatz, in der freien Wirtschaft - bereitgestellt wird;

• die besonderen Belange der aufgrund ihrer Behinderung und ihres Geschlechtes doppelt diskriminierten behinderten Mädchen und Frauen im erforderlichen Ausmaß berücksichtigt und durchgesetzt werden;

• die Vorurteile und Ängste der nichtbehinderten Menschen abgebaut werden;

• allen Tendenzen der modernen Medizin (Gen- und Reproduktionstechnologie, vorgeburtliche Diagnostik u.ä.) und der Sozial- und Gesundheitspolitik, die das Existenzrecht behinderter Menschen in Frage stellen und allen aufkommenden

eugenischen Diskussionen über wertes und unwertes Leben energisch entgegengetreten wird.

Dieser Abbau der "äußeren" Barrieren reicht allein nicht aus. Eine weitere Voraussetzung für ein autonomes Leben ist der Abbau auch der "inneren" Barrieren. Notwendig ist, daß:

• behinderte Menschen Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein entwickeln;

• sie lernen, mit Selbstverständlichkeit die Hilfe Anderer in Anspruch zu nehmen, ohne in emotionale oder sonstige Abhängigkeit vom Hilfeleistenden zu geraten und ohne die eigenen Bedürfnisse zu reduzieren;

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• sie sich aus der Überversorgung und der verlockenden Bequemlichkeit stationärer Einrichtungen oder des Elternhauses befreien;

• sie lernen, die Behinderung zu akzeptieren, eigene Normen und Werte zu entwickeln und diese gegen den Druck anderer behinderter und nichtbehinderter Menschen zu behaupten."

Der Begriff "autonom" oder "selbstbestimmt" kann heute noch aus einen anderen Grund

4. DIE BERATUNGSSTELLE:

Seit Ende 1987 betreibt Autonom Lebenmit hauptamtlichen MitarbeiterInnen, die selbst behindert sind, die Beratungsstelle für behinderte Menschen. Anfänglich waren es zwei ABM-Stellen, eine Psychologin und ein Sozialarbeiter, in den Jahren danach arbeiteten dort bis zu fünf mit ABM-Mitteln bezahlte

unterschiedlich behinderte SozialarbeiterInnen bzw. ein Jurist. Trotz der großen Schwierigkeit, die die immer nur befristeten Beschäftigungsverhältnisse und der damit verbundene häufige Wechsel der MitarbeiterInnen bedeutete, gelang es Autonom Leben ein überzeugendes , von Jahr zu Jahr mehr genutztes

Beratungskonzept zu entwickeln. Ein Vorbild dabei waren die "Independent Living Centers", die es in einigen Städten der USA gab, und deren Konzept des

"peercounseling".

Dieses Konzept der "Betroffenenberatung"mußte allerdings den

bundesdeutschen und speziell den Hamburger Bedingungen angepaßt werden.

Trotz dieser vielen anderen Stellen, bei denen sich behinderte Menschen Rat und Unterstützung holen können, haben diese noch immer ein großes Defizit an Informationen über ihre Rechte und Möglichkeiten. Trotz dieser vielfältigen, aber verstreuten Informationsmöglichkeiten und trotz der Beratungspflicht zuständiger Stellen wird vielen behinderten Menschen dort nicht ausreichend geholfen und sie .

Bei unzähligen behinderten Menschen besteht nach wie vor eine große

Hemmschwelle, Behörden und Ämter aufzusuchen. Sie haben Befürchtungen, zu viel zu fordern, reduzieren deshalb von vornherein ihre Bedürfnisse, formulieren häufig nur mit das "dringendste" Problem und stellen andere, ebenfalls

berechtigte Anliegen zurück.

Die Beratung durch Behörden und Ämter, erfolgt meist durch nichtbehinderte SachbearbeiterInnen und/oder SozialarbeiterInnen und nützt den Ratsuchenden häufig gar nicht oder nur unzureichend. Die Beratung bei diesen Stellen ist meist mit einer formalen Antragsstellung verbunden und richtet sich nach dem

speziellen Fachbereich der beratenden "Expertinnen" und weniger nach den umfassenden Bedürfnissen und individuellen Fähigkeiten der Ratsuchenden.

Gerade Probleme, die nicht unmittelbar bestimmten Fachbereichen zugeordnet

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werden können, sondern die aus der komplexen sozialen Situation der

behinderten Menschen entstehen, bleiben dabei häufig ungelöst oder können oft gar nicht von den Ratsuchenden angesprochen werden. Die gegebenen Tips und Informationen werden wegen Mutlosigkeit, aus falscher Scham, fehlender

Antriebskraft, falscher Bescheidenheit oder anderer Gründe nicht genutzt.

Das Team von Autonom Leben hat daher ein Beratungs- und

Unterstützungsangebot konzipiert, das folgende Komponenten flexibel kombiniert:

• Beratung durch selbst behinderte MitarbeiterInnen

• ein einfaches Informationsgespräch zu konkreten Anfragen

• eine professionelle, umfassende Grundberatung

• psychosoziales Gespräch

• Aufzeigen der Realisierungsmöglichkeiten durch Beratungsgespräche und

umfangreiche Fachliteratur, Ratgeberbroschüren, und Hilfsmittelkataloge, die den Ratsuchenden zur selbständigen Nutzung zur Verfügung gestellt werden

• bei Bedarf Einbeziehung des sozialen Umfeldes, z.B. Angehörige, FreundInnen, Schule etc.

• Hausbesuche und Begleitung über einen längeren Zeitraum

• gemeinsam mit den Hilfesuchenden Erstellung eines Planes zur Problemlösung, Hilfestellung und Begleitung bei dessen Realisierung sowie regelmäßiges

Reflektieren über die erzielte Fortschritte (gegebenenfalls auch in Form von

"Pädagogischer Betreuung im eigenen Wohnraum" im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG)

• nach entsprechender Vereinbarung wiederholtes, unaufgefordertes Nachfragen bei Ratsuchenden, ob das Problem gelöst ist oder ob neue aufgetreten sind

• aktive Kontaktaufnahme zu behinderten Menschen mit unverbindlichem Gesprächsangebot

• Einbettung dieser Angebote zur individuellen Problemlösung in ein Angebot gemeinsamer Problemlösung, bestehend aus Kursen, Arbeitsgruppen,

öffentlichen Veranstaltungen, Aktionen u.ä.

• Orientierungsmöglichkeiten durch Vermittlung gleicher oder ähnlicher Erfahrungen

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Im Folgenden werden einige Komponenten dieses Hilfeangebotes näher

dargestellt. Daraus wird ersichtlich werden, daß die steigende Annahme dieses speziellen und umfassenden Angebotes und sein Erfolg besonders in der flexiblen Kombination der einzelnen Komponenten, dem Hinüberfließen einer

Beratungsform in die nächste, je nach Bedarf in unterschiedlicher Intensität, liegt. Darüberhinaus wird deutlich werden, daß diese Kombination in e i n e r Beratungsstelle und nach Möglichkeit durch e i n e vertrauengebende Person durchgeführt werden sollte.

Der/die Ratgebende ist selbst behindert

Die Beratung wird durch - nach Möglichkeit ähnlich - behinderte Menschen durchgeführt. Diese Tatsache baut die Hemmschwelle bei den Ratsuchenden deutlich ab und führt dazu, daß über den unmittelbaren Anlaß hinaus Probleme angesprochen werden können, die unter anderen Bedingungen unausgesprochen blieben.

Die eigene Betroffenheit der BeraterInnen ermöglicht von vornherein ein größeres Grundverständnis, begünstigt die Entstehung eines

Vertrauensverhältnisses und verringert die Gefahr, daß die Ratsuchenden auch in dieser Beratungsstelle, wie bei so vielen anderen, in ein "Betreuungsverhältnis"

geraten. Gewissermaßen verhandeln so "Gleiche mit Gleichen".

Es hat sich herausgestellt, daß nicht nur die Behinderung, sondern vor allem die

"behinderte Identität" der BeraterInnen eine entscheidende Rolle für die besondere Qualität unseres Angebotes spielt.

Vermittlung gleicher oder ähnlicher Erfahrungen

Ein wesentlicher Grundbestandteil unseres Angebotes ist die Weitergabe eigener Erfahrungen durch gleich oder ähnlich betroffen BeraterInnen, die diese auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben gemacht haben. Gerade diese Weitergabe von Erfahrungen, aber auch der dadurch ausgelöste

gleichberechtigte Austausch zwischen Ratsuchenden und Ratgebenden macht die besondere Qualität dieses Angebotes aus und ist mit der wichtigste Grund für die ausgesprochen positive Annahme unseres Beratungsangebotes.

Das Konzept der Erfahrungsweitergabe durch gleich oder ähnlich Betroffene stößt natürlich auch an die Grenzen der behinderungsspezifischen Erfahrungen der MitarbeiterInnen der Beratungsstelle, obwohl wir durchgehend erleben, daß bei sehr vielen Aspekten die Art der Behinderung keine entscheidende Rolle spielt. Um noch umfassender zu beraten, werden nach Möglichkeit auch andere behinderte Menschen mit ihren Erfahrungen als "Beispielspersonen"

hinzugezogen.

Beispiel:

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Ein Mann, der wegen eines Unfalles auf den Elektrorollstuhl angewiesen ist, kommt in die Beratungsstelle. Er möchte den Führerschein machen und benötigt deshalb u.a. ein auf seine Bedürfnisse umgerüstetes Auto. Er bekommt nun informationen darüber, an wen er sich wenden und was er berücksichtigen muß;

er bekommt Tips für den Umgang mit den Behörden usw. Darüber hinaus hat er in der Beratungsstelle Gelegenheit, sich Prospekte und informationsmaterial von Herstellerfirmen und umfangreiche Kataloge über geeignete Hilfsmittel

anzuschauen. Außerdem erhält er Gelegenheit, eine ähnlich schwerbehinderte Frau, die seit einiger Zeit einen umgebauten Kleinbus selbst fährt, und einen Mann mit gleicher Behinderung, der auch gerade einen Führerschein macht, als Beispielspersonen kennenzulernen. Der Ratsuchende ist in der Lage, den

vorgeschlagenen Weg in dieTat umzusetzen, und nutzt das Anschauungsmaterial und den angebotenen Erfahrungsaustausch mit den Beispielspersonen. In der Folge genügen daher einige telefonische Rückfragen über den Stand der weiteren Entwicklung und die Beratung ist abgeschlossen.

Professionelle Hilfe zur Selbsthilfe

Im Beratungsteam arbeiten derzeit ein hörbehinderter Sozialarbeiter, dessen ABM-Stelle zum November 94 ausläuft, eine blinde Sozialpädagogin und ein querschnittgelähmter Berater ohne anerkannte Qualifikation aber mit über 20- jähriger Praxis in Beratung. Dadurch ist gewährleistet, daß die Ratsuchenden professionelle Unterstützung sowie umfassende und zuverlässige Informationen über die ihnen zustehenden Rechte, finanziellen Hilfen u.ä bekommen.

Richtschnur für die Beratenden ist, die Ratsuchenden so viel wie möglich selbst ausführen zu lassen. Ziel der Beratung ist, daß die behinderten Menschen trotz Assistenzabhängigkeit, so viel wie irgend möglich eigene Kompetenz behalten oder zurückerhalten. Dafür stehen zahlreiche Bücher von und über behinderte Menschen zum Ausleihen, Lesen und Nachschlagen, ein ausführliches

Adressenverzeichnis und Hilfsmittelkataloge, Ratgeber und

Informationsbroschüren zur Verfügung. Die Ratsuchenden sollen schon während der Beratung das selbständige, selbstbestimmte Leben praktizieren und üben.

Das Beratungsteam gibt Unterstützung nach Bedarf und knüpft dabei an den individuellen Fähigkeiten der einzelnen Ratsuchenden an.

Häufig sind es Angehörige oder FreundInnen der Ratsuchenden oder auch andere Einrichtungen, die den Kontakt zur Beratungsstelle herstellen. Das Beratungsteam versucht dann, direkt mit den Assistenz benötigenden

behinderten Menschen zusammenzukommen, um von Beginn an die für viele behinderte Menschen gewohnte - und bequeme - Situation, daß andere für sie handeln, zu durchbrechen.

Fließender Übergang von der "einfachen" zur "intensiven"

Unterstützung

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Das Angebot umfaßt alles: Von der kurzen Auskunft über ein ausführliches psychosoziales Beratungsgespräch bis hin zur regelmäßigen Begleitung bei der Verwirklichung eines gemeinsam aufgestellten Planes für die notwendigen Schritte ins selbstbestimmte Leben.

Anlaß für die erste - meist telefonische - Kontaktaufnahme ist in der Regel eine konkrete "Fachfrage". Oft ist es aber auch so, daß es gleich bei der ersten Kontaktaufnahme zu einem langen psychosozialen Gespräch kommt. Während des Telefonates tauchen häufig zusätzlich weitere Probleme auf. Die

BeraterInnen bemühen sich dann um eine persönliche Begegnung, um

ausführlich über alle Probleme zu sprechen und alternative Lösungsvorschläge zu entwickeln.

Die zeitlichen und inhaltlichen Grenzen eines solchen Unterstützungsangebotes sind nicht von vornherein fest zu bestimmen. In dieser Möglichkeit der

BeraterInnen, sich zeitlich und mit der Art und Weise des Angebotes an den Bedürfnissen der Ratsuchenden zu orientieren und durch gezielte Nachfragen noch unausgesprochene Probleme zu thematisieren, liegt für alle Beteiligten der große Vorteil unseres Konzeptes. Die behinderten Menschen fühlen sich nicht abgefertigt und werden ermutigt, ihre Scham sowie die falsche Bescheidenheit abzulegen, und das zu fordern und so viel anzupacken, wie wirklich notwendig ist, um ihre Probleme zu lösen.

Die BeraterInnen sind selten gezwungen, die Ratsuchenden an andere Stellen und Einrichtungen zu verweisen. Wenn es doch notwendig ist, kann die Beratung aber parallel weitergeführt werden, z.B. durch Zusammenarbeit mit der anderen Stelle, durch wiederholtes Nachfragen über den weiteren Fortgang oder durch Begleitung der Ratsuchenden bei erforderlichen Behördengängen.

Beispiel

Die Beratungsstelle erfährt von der Bekannten einer schwerbehinderten Frau von deren Notlage. Die Frau ist in hohem Maße assistenzabhängig. Bisher wurde diese Assistenz fast ausschließlich von dem Ehemann geleistet. Nun ist es zu einem Auseinanderbrechen der Ehe gekommen, und die Frau weiß nicht, wie und wo sie zukünftig Unterstützung bekommen kann. Eine Mitarbeiterin der

Beratungsstelle nimmt von sich aus Kontakt zu der behinderten Frau auf. Es werden Hausbesuche vereinbart bei denen sich zeigt, daß der Frau mit dem Bereitstellen häuslicher Hilfe nur unzureichend gedient ist. Sie lebt sehr isoliert und hat außerdem große Schwierigkeiten, mit ihrer Behinderung

zurechtzukommen. Das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, bedrückt sie sehr. Sie hat Angst, u.a. bei den Behörden zu viel zu fordern und zeigt weitere, für von fremder Unterstützung abhängige Menschen typische Verhaltensweisen, Ängste und Probleme. Nur mit Mühe ist sie davon zu überzeugen, beim Gesundheitsamt wenigstens für ein paar Stunden pro Tag Assistenz zu beantragen. Andere Unterstützungsangebote nimmt sie vorläufig nicht an.

Durch spätere Nachfragen erfahren wir, daß es in der Folge zu ständigen

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Problemen zwischen der Frau und den zu ihrer Assistenz eingesetzten MitarbeiterInnen sowie der zuständigen Sozialstation kommt. Von der Beratungsstelle erhält sie nun Unterstützung, indem ihr die notwendigen regelmäßigen Hausbesuche und die Begleitung beim Umgang mit der Sozialstation und den dortigen Mitarbeiterinnen angeboten werden.

Von den individuellen zu gemeinschaftlichen Formen der Unterstützung Zu unserem Konzept gehört ebenfalls, daß die individuelle, auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen behinderten Menschen abgestimmte

Unterstützung durch unterschiedliche Formen gemeinschaftlicher Unterstützung ergänzt wird. Hierzu gehören Kurse, Seminare, informationsveranstaltungen, Selbsterfahrungsgruppen und andere Formen des organisierten informations- und Erfahrungsaustausches.

Wesentliche Grundlage des Konzeptes und unserer Arbeit ist ein offensives, nach außen gerichtetes, auch politisches Eintreten der Beratungsstelle für die Belange und Interessen der behinderten Menschen. Gemeinsame Veranstaltungen und Aktionen der Ratsuchenden und der Ratgebenden zum Abbau der "äußeren Barrieren" und zur Veränderung des bei den nichtbehinderten Menschen vorherrschenden Bildes und damit verbundenen Vorurteilen von behinderten Menschen sind daher wichtige Bestandteile unsererArbeit.

Ein besonderer Arbeitsschwerpunkt: Behinderte Mädchen und Frauen

Seit Beginn der Arbeit der Beratungsstelle wurde behinderten Frauen eine geschlechtsspezifische Beratung und Unterstützung angeboten.

Behinderte Mädchen und Frauen sind aufgrund ihres Geschlechtes und ihrer Behinderung in wesentlichen Bereichen ihres Lebens von Aussonderung, Herabwürdigung und Vorenthaltung von selbstbestimmten Lebensentwürfen betroffen. Gesellschaftlich sind sie unterhalb der nichtbehinderten

Mädchen/Frauen sowie der behinderten Jungen/Männer angesiedelt.

Der Buchtitel "Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal:Frau" spiegelt ihre Lebenssituation treffend wieder.

Diese besondere Form der doppelten Diskriminierung äußert sich z.B.in folgenden Lebensbereichen:

• Ausbildung/Berufstätigkeit

• Assistenzabhängigkeit

• mangelnde Anerkennung (Ignorieren) der Weiblichkeit/ Frauenrolle

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• Sexualität

• Gesundheit ("neue Eugenik")

Ihr Geschlecht scheint während der Primärsozialisation der behinderten Mädchen keine wesentliche Rolle zu spielen. Als Konsequenz daraus ist häufig zu

beobachten, daß sie sehr früh lernen, sich als Partnerin im Vergleich zu

nichtbehinderten Mädchen unattraktiv zu sehen. Sie lernen auch, daß ihr Körper nicht liebens- und schützenswert ist, sondern ein "nichtfunktions-fähiges" Objekt.

Dies führt dazu, daß sie in besonders hohem Maß gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Sie erleben diese Übergriffe unter Umständen sogar als

"Bestätigung" als Sexualpartnerin.

Auch in speziellen Behinderteneinrichtungen wird kaum Wert darauf gelegt, daß die sehr intime Körperpflege, die häufig lebenslang notwendig ist, von einer weiblichen Person durchgeführt wird, bzw. es gibt keine Wahlfreiheit in dieser Frage. Ihre Körper sind gewissermaßen "öffentlich". Auch aus diesem Grund erleben viele behinderte Mädchen und Frauen sexuelle Übergriffe oft "nur" als eine weitere Grenzverletzung, gegen die sie sich nicht wehren können.

Ihr Bedürfnis nach Sexualität - geschweige denn der Wunsch nach Mutterschaft - wird ihnen in der Regel gänzlich abgesprochen.

Zielsetzung

Das Ziel unserer Arbeit ist die Förderung und Aktivierung der Selbstbestimmung behinderter Mädchen und Frauen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Situation. Die folgenden Aspekte eines selbstbestimmten Lebens für behinderte Mädchen/Frauen dienen in unserer Arbeit als Zielorientierung:

• Identitätsfindung als behindertes Mädchen/behinderte Frau

• Entwicklung eines positiven Körperbewußtseins unabhängig vom gängigen Schönheitsideal ("Wieder-Aneignung" des Körpers)

• Selbstbestimmung der Assistenz

• Maßnahmen gegen und Prävention vor sexuelle/r Gewalt

Höchstes Ziel hierbei ist, eigene Kompetenzen zu erkennen, sie zu erweitern und zu nutzen.

Die Unterstützung erfolgt in erster Linie durch persönliche Beratung, selbstverständlich durch behinderte Beraterinnen.

Eine Frauengruppe bietet die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch.

Angebote zur Körperwahrnehmung sollen die Entwicklung eines positiven Frauen-Körperbildes unterstützen.

Darüberhinaus soll die Beratungsstelle eine Anlaufstelle für alle Belange

behinderter Frauen sein. Dazu gehören sowohl die Sammlung von Informationen

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(Frauenkartei, Ratgeber, Literatur, Veranstaltungshinweise etc.) als auch verschiedene Arbeitsgruppen.

Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Öffentlichkeitsarbeit, zu dem u.a.

Informations- und Fortbildungsveranstaltungen für MitarbeiterInnen aus Behinderteneinrichtungen gehören.

Angebote

Die Angebote für behinderte Frauen erstrecken sich von Einzelberatung, Unterstützung und Begleitung über eine Frauengruppe bis hin zu

körperorientierten Angeboten und Selbstverteidigungskursen.

Außerdem bieten wir für interessierte Frauen/Lesben, die sich schon länger mit behinderten- und Frauen/Lesben-spezifischen Themen befassen, seit neuestem eine Krüppel-Frauen-Lesben-Gruppe.

Beratung/Unterstützung/Begleitung

Die Beratung/Unterstützung/Begleitung erfolgt durch die behinderte Beraterin.

Da in der Praxis keine Trennung zwischen "konkreten Anliegen" (z.B.

sozialrechtliche Fragen, Ausbildung, Beruf, Wohnungssuche, Möglichkeiten der Organisation von Assistenz etc.) und "psychosozialer Beratung" (in der eine Auseinandersetzung mit frauenspezifischen Fragestellungen angeboten wird - z.B. mit der Identität als behinderte Frau), versuchen wir zu gewährleisten, daß auch in sachbezogenen Fragen Frauen und Mädchen von einer Frau beraten werden.

Angestrebte Ziele der Beratung sind:

• die eigenen Kompetenzen/Stärken zu erkennen, sie zu nutzen und auszubauen hin zu einer Identitätsfindung als behinderte Frau

• Entwicklung eines positiven Frauen-Körperbildes, weg vom gängigen, insgesamt fragwürdigen Schönheitsideal

• Entwicklung eigener Leitbilder und Lebenskonzepte

• eigene Bedürfnisse erkennen und durchsetzen

• Entwicklung von Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung

• Wahrnehmen der eigenen Gefühle und auf sie vertrauen lernen

• Selbstbestimmung der Assistenz ("persönliche Assistenz")

• sexuelle Selbstbestimmung

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Die Frauengruppe

In der Frauengruppe können sich behinderte Frauen treffen und ihre Erfahrungen austauschen.

Behinderten Frauen fehlt oft die Gelegenheit, mit "Gleichgesinnten" über ihre ganz besondere Lebenssituation zu sprechen; diese unterscheidet sich in wesentlichen Bereichen sowohl von der Lage der nichtbehinderter Frauen als (natürlich) auch von der Lage behinderter Männer.

Der Austausch in dieser Gruppe hat eine deutlich entlastende und stabilisierende Wirkung. Die Gruppe gibt ein Gefühl der Solidarität und Stärke, frau fühlt sich nicht mehr so alleine mit ihrer Situation.

Die Gruppe fördert außerdem das Erkennen von und die Auseinandersetzung mit eigenen Bedürfnissen. Sie bietet die Möglichkeit, Erfahrungen und Sichtweisen anderer Frauen kennenzulernen und sich in der Diskussion mit ihnen

weiterzuentwickeln und einen neuen Standpunkt zu finden. Gemeinsam können neue Handlungsstrategien entwickelt und Kompetenzen erweitert werden.

Die Gruppe wird von einer behinderten Frau angeleitet, um auch in diesem Zusammenhang das Prinzip des "Peer-Counseling" umzusetzen.

Angebote zur Körperwahrnehmung/arbeit

Aufgrund der beschriebenen Situation hat sich gezeigt, daß Gespräche allein nicht ausreichen, um ein positiveres Selbstwertgefühl und Körperbewußtsein zu entwickeln. Es ist notwendig, körperorientierte Techniken (wie z.B. Entspannung, Massage, Bewegung) anzubieten, um die "Wieder-Aneignung" des Körpers zu unterstützen. Diese Angebote müssen nicht ausschließlich an behinderte Frauen gerichtet sein; eine notwendige Voraussetzung ist jedoch die Bereitschaft der Anbieterinnen, sich auf die spezielle Lebenssituation der behinderten Frauen einzustellen.

Selbstverteidigungskurs

Alle Frauen müssen mit der Möglichkeit sexueller Gewalt rechnen, behinderte Frauen sind ihr jedoch häufiger ausgesetzt. Um sich entsprechend wehren zu können, bieten wir die Möglichkeit, in Selbstverteidigungskurs (Zusammenarbeit mit Fachfrauen) spezielle Techniken zu erlernen. Dabei kann die Erfahrung gemacht werden, sich trotz körperlicher Einschränkung gezielt wehren zu können. Sie gibt Selbstvertrauen und trägt zu einem sichereren Auftreten bei.

Das macht die Frauen weniger angreifbar.

Wir haben deshalb Ende 93 den ersten Selbstverteidigungskurs mit Lydia Zijdl aus Amsterdam, die selbst Rollstuhlfahrerin ist, organisiert. Da einige Wendo- Frauen aus Hamburg an diesem Wochenende bei ihr eine Fortbildung gemacht haben, können wir nun in Zusammenarbeit mit diesen auch in Hamburg weitere Kurse anbieten.

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Mädchengruppe

Insbesondere die ausgetauschten und reflektierten Erfahrungen behinderter Frauen zeigen deutlich, daß es dringend erforderlich ist, sich mit einem feminsitisch orientierten Ansatz in der Arbeit mit behinderten Mädchen zu befassen und ihn zu praktizieren.

Üblicherweise fehlt behinderten Mädchen - unabhängig davon, ob sie in einer Sondereinrichtung oder "integriert" aufwachsen - ein Rahmen, in dem sie sich mit ihrer speziellen Lebenssituation auseinandersetzen können.

Die Lebensperspektiven behinderter Mädchen entsprechen nicht den (durchaus fragwürdigen!) nichtbehinderter Mädchen:

• gängige (durchaus fragwürdige!) Schönheitsideale spielen keine aktive Rolle; sie werden für unerreichbar gehalten und beängstigen empfunden

• sie gelten nicht als attraktive Lebenspartnerinnen

• ihr Geschlecht wird im pflegerischen Bereich nicht berücksichtigt

• Sexualität/Aufklärung sind häufig mit dem Thema "Sterilisation" verbunden

• in der Mutterrolle sind sie später nicht vorstellbar

• bei Mädchen mit Körper- und Sinnesbehinderungen wird vergleichsweise viel Wert auf Bildung gelegt, ohne ihr Geschlecht zu berücksichtigen

Hinzu kommt die Erfahrung, daß ihr Körper oft schon sehr früh "ein öffentliches Objekt" vieler Menschen ist - z.B. bei Hilfsmittelanpassung durch Techniker etc.

Für viele Mädchen ist ihr Körper daher ein "wertloser Gegenstand", der weder liebens- noch schützenswert ist; Abspaltung ist eine häufige Konsequenz.

Behinderte Mädchen "lernen" also von Anfang ihres Lebens an, daß sie in erster Linie behindert sind. Ihr Geschlecht spielt - wenn überhaupt- nur eine sekundäre Rolle.

Sowohl im Elternhaus als auch in Behinderteneinrichtungen fehlen ihnen in der Regel Leitbilder, an denen sie sich orientieren können. Die Frauen, mit denen sie zu tun haben, sind meistens nicht selbst behindert.

Es ist daher erforderlich, einen Rahmen zu schaffen, in dem behinderte Mädchen die Möglichkeit haben

• sich mit Mädchen in einer ähnlichen Situation auszutauschen und auseinanderzusetzen

• Methoden und Techniken kennenzulernen, die ein positives Körperbewußtsein fördern und der Abspaltung entgegenwirken

• mit behinderten Frauen in Kontakt bzw. Austausch zu treten

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• ihre eigenen Kompetenzen erkennen und nutzen zu lernen

• ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstbehauptung zu stärken.

Deshalb möchten wir als zwei unterschiedlich behinderte Frauen/ Lesben eine Gruppe für unterschiedlich behinderte Mädchen aufbauen und diese zunächst für ein Jahr "anleiten".

Da die Beratungsstelle nur noch über eine Mitarbeiterin im Team verfügt, wollen wir für dieses Projekt eine behinderte Studentin aus dem Fachbereich

Behindertenpädagogik stundenweise als "studentische Hilfskraft" anstellen. Wir haben dafür Gelder bei unterschiedlichen Stellen beantragt.

Öffentlichkeitsarbeit/regionale und überregionale Zusamenarbeit

Es ist dringend erforderlich, die Situation behinderter Mädchen/ Frauen zum Thema zu machen und die Grundsätze eines selbstbestimmtenLebens auch für behinderte Mädchen und Frauen zu verbreiten.

Die Erfahrung der Frauenbewegung hat gezeigt, daß die Initiative für eine gesellschaftliche Veränderung von "Betroffenen" ergriffen werden muß. D.h.: Es werden in erster Linie Frauen mit Behinderung sein (müssen), die ihre Situation und die behinderter Mädchen öffentlich machen und deren Verbesserung fordern.

Auch wir Frauen von Autonom Leben machen daher die Situation behinderter Mädchen /Frauen bekannt und setzen uns auch auf politischer Ebene für eine Verbesserung ihrer selbstbestimmten Lebensgestaltung ein.

Zur Öffentlichkeitsarbeit gehören Berichte in den Medien und Verteilung von Informationsmaterial.

Außerdem bieten wir MitarbeiterInnen aus Einrichtungen für behinderte

Menschen und anderen Interessierten (wie z.B. angehenden PädagogInnen) die Möglichkeit, sich z.B. im Rahmen von Informationsveranstaltungen und

Fortbildungen über die Inhalte und Ziele unserer Frauenarbeit zu informieren.

Um unsere spezielle Situation zu verdeutlichen, ist in einigen Bereichen die Abgrenzung zur Frauenbewegung der nichtbehinderten Frauen und deren Zielen notwendig.

Trotz dieser notwendigen Abgrenzung existiert in unterschiedlichen Bereichen eine Zusammenarbeit mit Hamburger Frauenberatungsstellen und initiativen (gemeinsame Veranstaltungen, Arbeitskreise, Informationsgespräche,

gegenseitige Unterstützung). Dies ist besonders dann der Fall, wenn es um Belange von Mädchen und Frauen geht, die nicht ausschließlich Frauen und Mädchen mit Behinderung betreffen (z.B. sexuelle Gewalt).

Da es im Bundesgebiet mittlerweile diverse Beratungsstellen gibt, die nach dem Konzept der "Betroffenenberatung/Unterstützung" arbeiten, werden auch im Bereich der Frauenarbeit vielfältige Erfahrungen gesammelt. Um diese

konstruktiv nutzen zu können und Möglichkeiten zu suchen, bundesweit politisch aktiv zu werden, ist auch überregionale Zusammenarbeit vor allem mit

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behinderten Frauen ein wichtiger Anteil.

Wir erhalten auch zunehmend Nachfragen für Fort- und Weiterbildungen zu frauen- und mädchenspezifischen Fragen außerhalb Hamburgs.

An dieser Stelle sei erwähnt, daß sich das Senatsamt für die Gleichstellung wegen unseres speziellen Angebotes für Frauen und Mädchen mit Nachdruck für den Erhalt unserer Beratungsstelle eingesetzt hat.

Leider werden wir trotzdem unser Angebot insgesamt drastisch einschränken müssen, da wir dann nach unserem jetztigen Informationsstand über die

Finanzierung der Beratungsstelle nur noch mit 2 hauptamtlichen MitarbeiterInnen (1,5 Stellen) arbeiten können.

Persönliche Assistenz

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beratung und Unterstützung der behinderten Menschen und ihrer FreundInnen und Angehörigen im Bereich der "Persönlichen Assistenz". Wie schon erwähnt, benutzen wir aufgrund unseres

Selbstverständnisses statt der Begriffe "Hilfe" oder "Betreuung" die Begriffe

"Assistenz" und "AssistentInnen" statt "HelferInnen" oder "BetreuerInnen". In diesem Fall sind die behinderten Menschen selbst die ArbeitgeberInnen ihrer AssistentInnen. Das bedeutet zwar für die behinderten Menschen einen zeitlichen und organisatorischen Mehraufwand, bietet jedoch deutlich mehr Möglichkeiten, Einfluß auf die Qualität der erforderlichen Unterstützung zu nehmen, da die AssistentInnen von den Betroffenen selbst ausgesucht und eingestellt werden.

Für die Arbeit der Beratungsstelle bedeutet dies folgendes:

- Beratung und Unterstützung bei der Durchsetzung dieses Modells gegenüber den Kostenträgern

- umfassende Beratung und Unterstützung in der Situation als Arbeitgeberin - Erfahrungs- und informationsaustausch dazu

Für viele behinderte Menschen ist die "Hamburger Assistenzgenossenschaft", kurz HAG, die aus der Arbeit der Beratungsstelle initiiert wurde, inzwischen eine Alternative zum Arbeitgeberin-Modell geworden.

Unabhängigkeit als Voraussetzung

Dieses flexible und umfassende Angebot von Beratung und Unterstützung setzt neben den Erfahrungen und Fachkenntnissen der behinderten MitarbeiterInnen

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voraus, daß die Beratungsstelle unabhängig von Behörden ist.

Die angebotene Hilfe darf nicht abhängig sein von behördlichen

Bewilligungsprozessen von z. B. Pflegegeld oder Pflegestunden. Der Erfolg dieses Konzeptes ist nur dann gewährleistet, wenn es als einheitliches Ganzes angeboten wird und nicht aufgeteilt werden muß nach dem Motto: Bei Beratung diesen Antrag und Verweis auf diese Behörde, bei begleitender Hilfe jenen Antrag und Verweis auf jene Behörde.

5. Das RöpersHofcafé:

Röpershofcafé - Arbeit ohne Aussonderung

Als wir vor fast fünfzehn Jahren die Hamburger Krüppelgruppe mitinitiierten, hatte das seine Gründe: Wir behinderte Frauen und Männer hatten alle

Diskriminierung und Entrechtung im Alltag am eigenen Leib und in der eigenen Seele zu spüren bekommen, wir wußten und hatten erlebt, wie schnell und wie selbstverständlich behinderten Erwachsenen die eigene Initiative aus den Händen genommen wird. Und zwar von wohlmeinenden Freunden, von selbsternannten Behindertenexperten, von etablierten Funktionären der Wohlfahrt oder von Senatoren, die alle diese und andere Mängel zu verwalten hatten.

Seither haben wir versucht, das übliche hierarchische Verhältnis zwischen Bittsteller und Gebenden, Ratlosen und Wissenden, Objekten und Handelnden, zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen ins Wanken zu bringen.

Denn Behinderung ist für uns kein Schicksal, kein medizinisches Problem, sondern letztlich eine Frage des verbreiteten Bewußtseins und der persönlichen und politischen Macht. Ernstgenommen hat uns in diesem Verständnis von

Behinderung fast niemand. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als selbständig zu handeln und zu beweisen,daß behinderte Menschen auch ohne Gönner etwas zustande bringen. Ein Ergebnis dieser Herausforderung ist das "Röpers-Hof- Café", in das viele unserer Ideen eingeflossen sind.

In der Bundesrepublik Deutschland werden immer neue Werkstätten für

Behinderte gebaut. Alternativen hingegen kaum gefördert. Obwohl man sich bei den - selbsternannten - Fachleuten klar darüber ist, daß Institutionen für

mehrere hundert als behindert bezeichnete Personen zu deren sozialen Isolierung führen, werden Millionenbeträge für Bauvorhaben dieser Größenordnung lockergemacht.

Weg von den großen Werkstätten wollen die zahlreichen Selbsthilfefirmen, die in verschiedenen Städten um ihre Existenz ringen. Diese Betriebe umfassen meist

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ein Dutzend handwerklich ausgerichtete Arbeitsplätze: Die Arbeit in kleinen Zusammenhängen einer Bäckerei, eines Fahrradladens oder eines Cafés bleibt überschaubar.

Das Café im Röperhof in Hamburg-Othmarschen ist ein Betrieb, in dem

behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen arbeiten. Fünf behinderte Personen haben hier ihren Arbeitsplatz gefunden, insgesamt beschäftigt das Café acht Personen fest. Dazu kommt eine wechselnde Anzahl von Aushilfskräften.

Träger des Cafés ist "Autonom Leben"

Das Café konnte mit der Eingangsfinanzierung von 227.000,00 DM aus Mitteln der Hauptfürsorgestelle der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie beträchtlichen Lohnkostenzuschüssen für die ersten drei Jahre Ende Mai 1988 eröffnet werden. Seither ist es dem "Röpers-Hof-Café" mit großer Energie gelungen, das Café in der Hamburger Gastronomielandschaft zu etablieren.

Das Röpers-Hof-Café bewegt sich dabei auf einer permanenten Gratwanderung zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Die Vorstellung, daß auch weniger

leistungsfähige Erwachsene eine Arbeitsstelle erhalten sollen, kollidiert mit der harten wirtschaftlichen Realität. Die im Vergleich zu anderen gastronomischen Betrieben extrem hohen Personalkosten werden eingegangen, damit behinderte Erwachsene einen auf die individuellen Fähigkeiten zugeschnittenen Arbeitsplatz bekommen - egal, ob sie als geistig, seelisch oder körperlich behindert gelten.

Das Projekt hat aber nur überlebt, weil - gerade in den ersten Jahren der Aufbauphase - wenige Mitarbeiterinnen zu Bedingungen der Selbstausbeutung arbei(te)ten. Dies trifft auf die individuell über den Arbeitsvertrag hinaus investierte Arbeitszeit genauso zu wie auf die für alle Festangestellten gleiche Entlohnung.

Gleichzeitig mußte die Erfahrung gemacht werden und zur Kenntnis genommen werden, daß behinderte Kolleginnen und Kollegen nicht die besseren Menschen sind. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, daß das Angebot des selbstbestimmten Arbeitsplatzes ein kollektives Miteinander-Umgehen nach sich zieht. Kollektivität muß gelernt werden, wenn sie überhaupt Chancen besitzen soll. In dem Café- Projekt waren die Voraussetzungen insofern zusätzlich schwierig, weil nur eine Mitarbeiterin sich den Ideen der Behindertenbewegung zugehörig fühlte.Es gab auch die Tendenz, daß die Behinderung gezielt eingesetzt wurde nach dem Motto: Diese Arbeit mußt Du machen, weil ich behindert bin. Faktisch war dies ein Ausweg, um unbequeme und mühsame Tätigkeiten zu delegieren. Ein ständiger Balanceakt ist also notwendig, um auszuloten, wo tatsächlich körperliche oder geistige Grenzen erreicht und zu akzeptieren sind.

Es hat sich indes gezeigt, daß das von behinderten Menschen initiierte Café viele behinderte Frauen und Männer ermutigt, einmal völlig unbeschwert in ein Café

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einzukehren. Es wurde eine Alternative geschaffen, die in interessierten

Fachkreisen oder bei Eltern mit behinderten Kindern inzwischen als Perspektive viel Beachtung erfährt. Trotzdem ist eines gelungen: Das Röpers-Hof-Café ist keine institutionalisierte Begegnungsstätte geworden.

Röpers-Hof-Café, Agathe-Laasch-Weg 2, 22605 Hamburg, Tel.:040/ 88 11 200 Öffnungszeiten: Mo, MI, Do 12 - 22 Uhr

FR, SA 12 - 19 Uhr SO 11 - 22 Uhr DI Ruhetag

6. Die Hamburger AssistenzGenossenschaft:

Zu einem würdigen und selbstbestimmten Leben gehört für hilfeabhängige Menschen im besonderen Maße, daß sie über die Art und Weise der benötigten Hilfe und darüber, wer diese Hilfe ausübt, selbst bestimmen können.

Um das zu ermöglichen, haben sich behinderte Menschen aus Hamburg, die auf die Hilfe und Pflege anderer Menschen angewiesen sind, in der Hamburger Assistenzgenossenschaft (H.A.G.) zusammengeschlossen. Die H.A.G. ist eine gemeinnützige Genossenschaft.

Persönliche Assistenz statt Betreuung

Hilfeabhängige Menschen wissen selbst am besten, welche Hilfe und Pflege sie brauchen und wie und wann sie diese bekommen wollen. Sie können selbst am besten entscheiden, was für Fähigkeiten und Qualifikationen die Menschen haben müssen, von denen sie Unterstützung bekommen.

"Helfen" führt sehr leicht zu einem Abhängigkeitsverhältnis. Gerade diejenigen, die auf viel Hilfe, auch bei den ganz persönlichen alltäglichen Verrichtungen angewiesen sind, werden von den Helfenden oft bevormundet und unselbständig gemacht. Eine solche "Betreuung" macht sie vielfach erst zu "Behinderten".

Die H.A.G. will eine Umverteilung der Macht zwischen Hilfegebenden und Hilfenehmenden. Die in der H.A.G. zusammengeschlossenen

behinderten Menschen wollen keine "Betreuung", sondern persönliche Assistenz.

Schon der andere, neue Begriff macht deutlich, daß die persönliche Assistenz durch die Wünsche und die Bedürfnisse des hilfeabhängigen behinderten Menschen bestimmt wird, sowie durch dessen individuellen Fähigkeiten, und

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nicht durch die Bedürfnisse und Vorstellungen der Hilfegebenden, den Arbeitszeiten von ambulanten Pflegeanbietern oder durch die Regeln und Vorschriften von stationären Einrichtungen.

Persönliche Assistenz beinhaltet je nach Bedarf u.a.: Hilfe bei den alltäglichen Verrichtungen, wie Essen, Anziehen, Waschen, etc; medizinische Pflege; Hilfe bei der Haushaltsführung; soziale Begleitung; Assistenz am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung; Unterstützung bei der Lebensgestaltung und -führung.

Die persönliche Assistenz soll gewährleisten, daß behinderte Menschen trotz Hilfeabhängigkeit so viel wie nur irgend möglich an eigener Kompetenz behalten oder zurückerhalten.

Mängel der Sozialstationen und Pflegefirme

Die persönliche Assistenz über einen längeren Zeitraum ist weder unter den gegenwärtigen Bedingungen der stationären Einrichtungen noch mit dem momentanen Angebot an ambulanten Hilfen durch die 41 Sozialstationen oder durch die rund 300 privaten Pflegeanbieter möglich.

Überall dort können behinderte, kranke oder alte Menschen gar nicht oder nur sehr eingeschränkt darüber bestimmen, werihnen hilft und wieund wann sie die Hilfe bekommen.

Ob im Heim, bei den Sozialstationen oder den Pflegefirmen, immer wird die Art, Form und der Zeitpunkt der Hilfe, der Arbeitsablauf und der Personaleinsatz von den Angebotsträgern und deren MitarbeiterInnen bestimmt. Die Interessen, Gestaltungs- und Veränderungswünsche der Betroffenen fallen meistens den Anforderungen an einen reibungslosen und effektiven Personaleinsatz zum Opfer.

Die Hilfeleistungen werden als Sachleistungen bei den Leistungsberechtigten erbracht und ihr Preis durch Pflege- oder Stundensätze zwischen den

Kostenträgern (Sozialämter, Krankenkassen, u.a.) und den Hilfeanbietern ausgehandelt.

Der Umfang der Hilfe orientiert sich an den Vorstellungen der Kostenträger über das, was den behinderten Menschen rechtlich zusteht. Diese selbst haben kaum Einfluß- oder Kontrollmöglichkeiten.

Diese Praxis widerspricht allerdings der tatsächlichen Rechtslage, die die Bedürfnisse und Gestaltungswünsche der Anspruchsberechtigten in den Mittelpunkt stellt. Soweit die finanziellen Mittel von den Leistungsberechtigten nicht selbst erbracht werden können, sind diesen die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.

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Um diese bestehenden Rechte auch wahrnehmen zu können, müssen die betroffenen Menschen die finanziellen Mittel unter eigener Kontrolle zur Verfügung gestellt bekommen.

Die Sozialstationen und die privaten Pflegeanbieter können die Nachfrage nach ambulanten Hilfen nicht befriedigen. Zeitlich umfangreiche Assistenzen oder Begleitdienste für Freizeit oder am Arbeitsplatz, also gerade das, was ein

würdiges Leben behinderter Menschen in der Gemeinschaft erst ermöglicht, sind dort nicht oder nur sehr ungenügend zu bekommen.

Wenn es zu Problemen zwischen den hilfeabhängigen Menschen und den hilfegebenden MitarbeiterInnen der Sozialstationen oder der privaten

Pflegeanbieter kommt, müssen die Betroffenen meist alleine damit fertig werden.

Es gibt keine Schlichtungsstelle, keine psychologische Begleitung oder andere Formen der Unterstützung für die Assistenznehmenden und die

Assistenzgebenden, wie regelmäßiger Erfahrungsaustausch oder Fortbildungsangebote.

Die Assistenzgenossenschaft

Dadurch, daß die Arbeitgeberfunktion bei den Heimträgern, den Sozialstationen oder den Pflegefirmen liegt, haben die hilfenehmenden Menschen nicht das Recht, das Personal auszuwählen, das bei ihnen arbeiten soll.

Viele Hilfen, insbesondere im Bereich der medizinischen oder körperlichen Pflege setzen ein besonderes Vertrauensverhältnis und gegenseitiges Verständnis voraus. Deshalb muß den Hilfenehmenden mindestens ein Ablehnungs- und Mitentscheidungsrecht zustehen.

Am weitesten geht dieses Recht, wenn die Hilfebenötigenden selbst die Arbeitgeberfunktion übernehmen. Sie müssen aber dann auch sämtliche

organisatorischen Leistungen, Risiken und Verantwortlichkeiten als Arbeitgeber selbst übernehmen. Viele dieser Menschen scheuen vor dieser Verantwortung und diesen Verpflichtungen zurück.

Gegenwärtig gibt es nur die Alternative, entweder auf die Einflußnahme auf Art und Weise der benötigenden Hilfe zu verzichten und sich dem Angebot der Sozialstationen und Pflegefirmen zu unterwerfen oder alleine die

Arbeitgeberfunktion zu übernehmen.

Die Hamburger Assistenzgenossenschaft will die Vorteile beider Möglichkeiten zusammenfassen und deren Nachteile vermeiden.

Die H.A.G. schließt mit den sich an sie wendenden behinderten Menschen sogenannte Assistenzverträge. In diesen werden die Verpflichtungen der

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assistenznehmenden Menschen festgelegt und die Leistungen der H.A.G.

vereinbart.

• Die behinderten Menschen suchen sich die benötigten AssistentInnen selber - allein oder mit Hilfe der H.A.G. - und die H.A.G. stellt als gemeinsame Arbeitgeberin diese bei sich ein.

• Die H.A.G. schließt mit den AssistentInnen feste Arbeitsverträge, die die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsinhalte und die gegenseitigen Erwartungen so genau wie möglich bestimmen, und die auch die tariflichen

ArbeitnehmerInnenrechte garantieren.

Nur durch tarifvertragliche Bezahlung und gegenseitige vertragliche Absicherung wird es möglich sein, ausreichend AssistentInnen zu finden und für die

AssistenznehmerInnen die nötige Kontinuität und Sicherheit zu schaffen.

• Die H.A.G. macht die Lohnbuchhaltung und die anderen organisatorischen, arbeits- und versicherungsrechtlichen Notwendigkeiten.

• Die H.A.G. unterstützt bei Bedarf die mit ihr zusammenarbeitenden behinderten Menschen bei den Verhandlungen mit den jeweils zuständigen Kostenträgern über Art und Umfang der benötigten Assistenz.

• Die H.A.G. hilft bei der Suche nach AssistentInnen. Sie organisiert AssistentInnen für Notdienste oder für die Vertretung im Krankheits- oder Urlaubsfall.

• Die H.A.G. vermittelt bei Problemen zwischen den AssistenznehmerInnen und den AssistenzgeberInnen. Sie organisiert regelmäßigen Erfahrungsaustausch und Fortbildungen für die hilfeabhängigen Menschen, ebenso für die

AssistentInnen.

• Die H.A.G. schafft auf diese Weise attraktive Arbeitsplätze für

unterschiedlich qualifizierte und ausgebildete Menschen - auch für diejenigen, die bereits aus den Pflegeberufen wegen der dortigen Arbeitsbedingungen

ausgeschieden sind.

Warum eine Genossenschaft ?

Eine Genossenschaft ist eine sehr demokratische Organisationsform. Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig davon wieviele Anteile der Genossenschaft es erworben hat.

Eine Genossenschaft verbindet ein großes Maß an Eigenständigkeit und Individualität der einzelnen GenossInnen mit der Möglichkeit und der Notwendigkeit des gemeinsamen Auftretens und Handelns.

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Die persönlichen Assistenz,die ja ganz nach den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten des einzelnen behinderten Menschen ausgerichtet ist, setzt möglichst viel Mitarbeit der assistenznehmenden Menschen voraus. Gleichzeitig haben diese aber auch viele gemeinsame Probleme bei der Realisierung ihrer persönlichen Assistenz. Daher bietet sich die Genossenschaft als besonders geeignete Organisationsform an.

In die Genossenschaft können alle eintreten, die bereit sind, mindestens einen Genossenschaftsanteil zu bezahlen.

Die Genossenschaft hat einen geschäftsführenden Vorstand. Dieser wird vom Aufsichtsrat kontrolliert. Oberstes Entscheidungsgremium ist die

Mitgliederversammlung. Zusätzlich für alle Genossenschaftsmitglieder gibt es die AssistenznehmerInnenversammlung.

Durch diese demokratischen, sich gegenseitig kontrollierenden Gremien ist wirtschaftliche Effizienz gewährleistet, und gleichtzeitig wird dadurch ermöglicht, daß die behinderten Menschen ihre benötigte Assistenz nicht nur einfach kaufen oder vorgesetzt bekommen, sondern diese in allen Momenten selbst mitgestalten.

7. Wie weiter

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