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Archiv "Medizin hinter Gittern: „Abzuschließen vergisst man hier nicht“" (15.08.2003)

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chönen Dienst noch!“ Freundlich grüßend verabschiedet sich ein Wärter von seinem Kollegen, der noch die nächsten Stunden die Ein- gangspforte überwachen muss. Der nickt und lehnt sich, nachdem er einen weiteren prüfenden Blick auf den Ein- gangsbereich geworfen hat, gemütlich in seinem Stuhl zurück. Die mit bunten Blumen bepflanzte Rasenfläche vor dem weißen, großen Gebäude neben der Pforte ist menschenleer, die Sonne scheint. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass auf dem 270 000 Quadrat- meter großen Gelände Menschen un- tergebracht sind, die nach dem Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßre- geln der Besserung und Sicherung (StVollzG) eine „Straftat“ begegangen haben – die nach § 2 StVollzG „resozia- lisiert“ werden sollen, wobei der Schutz der Bevölkerung vor dem Straftäter durch Sicherheitsverwahrung im Vor- dergrund steht. Denn erst nachdem das weiße Verwaltungsgebäude hinter ei- nem liegt, wird er sichtbar: ein etwa acht Meter hoher Sicherheitszaun, der die 587 Insassen der Bützower Justizvoll- zugsanstalt (JVA) von der Außenwelt abschirmt – diese vor ihnen sichert.

Ebenso wie es die zahlreichen Gitter- stäbe vor den Fenstern des alten Back- steingebäudes tun sollen, hinter denen neugierige Augenpaare hervorblicken.

Seit 1997 arbeitet Dr. med. Barbara Nieszery als leitende Medizinaldirekto- rin in der JVA Bützow – der größten und einzigen JVA in Mecklenburg-Vorpom- mern mit einer eigenen stationären Krankenabteilung. Sie ist hier mit Men- schen konfrontiert, die entweder ge-

raubt, betrogen, vergewaltigt oder sogar gemordet haben. Das Feld dessen, wofür Nieszery zuständig ist, ist weit: Beinahe täglich melden sich Häftlinge zur Sprech- stunde an, meist wegen leichter Gesund- heits- und Befindlichkeitsstörungen wie Durchfall, Bronchitis, Schwächeanfällen oder afebrilen Infekten. Regelmäßig kä- men aber auch Häftlinge zu ihr, die an unheilbaren Erkrankungen,Tuberkulose oder Psychosen leiden, HIV-positiv sind oder einen Herzinfarkt hatten, erklärt sie auf dem Weg zu ihrem Büro. Manchmal ginge es auch um Drogen- oder Alkohol- probleme, und die Häftlinge wüssten ein- fach nicht mehr weiter, wollten reden.

„Sie wissen eben, dass der Arzt eine Schweigepflicht hat, wissen, dass ich im- mer ein offenes Ohr für sie habe.“ In der Regel fänden zwischen 40 und 50 Arztbe- gegnungen am Tag statt. Darüber hinaus

muss Nieszery alle Häftlinge zu Beginn und zum Ende der Haft medizinisch un- tersuchen, ebenso wie vor einem mögli- chen Arbeitsbeginn während der Haft.

Hinzu kommen Ausfahrten zu Ärzten, die sie genehmigen muss, Akutbehand- lungen, Notdienste, tägliche Rundgänge durch die einzelnen Trakte und Do- kumentationen der Krankendaten und -verläufe.

Grundsätzlich mag Nieszery das, was sie tut, bevorzugt ihre jetzige Tätigkeit gegenüber der vorherigen Arbeit in ei- gener Praxis. Der Zeitaufwand, sagt sie, sei hier geringer, die Arbeitszeiten ge- genüber denen in einer eigenen Praxis weitaus geregelter. Und das sei mit Kind ein nicht zu unterschätzender Aspekt.

Außerdem wäre der damalige Abrech- nungsaufwand so hoch gewesen, dass sie hier in der JVA nichts vermisse. Nicht zu- letzt habe ihre Tätigkeit in einer Ge- richtsmedizin schon früh ihr Interesse an Täterprofilen geweckt. Und die Arbeit dort sei ein guter Test hinsichtlich ihrer jetzigen Arbeit gewesen. Schnell habe sich herausgestellt, dass sie psychisch sta- bil genug ist, mit schwierigen Situationen umzugehen. Dass sie unter Bedingungen arbeiten kann, die manchmal mit denen eines Arztes, der auf einer Bohrinsel tätig wäre, vergleichbar sind.

Dass Nieszery bei all ihren Tätigkei- ten neben der Rolle der Ärztin für viele Häftlinge auch die der Vertrauten, der Psychologin und der Mutter einnimmt, belegt ein Rundgang mit ihr durch das Gebäude. Vor beinahe jeder Tür, die sie mithilfe eines Generalschlüssels auf- T H E M E N D E R Z E I T

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A2126 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003

Medizin hinter Gittern

„Abzuschließen vergisst man hier nicht“

Die Anforderungen, die der Alltag an die ärztliche Tätigkeit hinter Gefängnismauern stellt, sind hoch. Das Deutsche

Ärzteblatt hat zwei Ärztinnen bei ihrer Arbeit im Justizvollzug und im Maßregelvollzug begleitet.

Die Justizvollzugsanstalt Bützow

Die JVA Bützow ist eine von sechs Justizvollzugsan- stalten in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Die er- sten Gebäudetrakte stammen aus dem Jahr 1842.

Die Zahl der Inhaftierten beträgt knapp 600 Er- wachsene, darunter 39 Frauen. Die JVA Bützow ist die einzige JVA in MV mit einer stationären Kran- kenhausabteilung. Der Medizinische Dienst unter- teilt sich in eine Ambulanz und in eine Bettenstati- on für 36 Patienten. Im Bereich der Ambulanz befin- det sich ein Medikamentenlager, das unter Aufsicht einer auswärtigen Apotheke steht. Zurzeit arbeiten vier Ärzte hauptamtlich (Dr. Nieszery als leitende Anstaltsärztin, zwei weitere Kollegen und eine Zahnärztin) und 15 Ärzte (darunter ein Augenarzt, ein Orthopäde und ein HNO-Arzt) nebenamtlich in der JVA. Zudem gibt es eine hauptamtliche Sucht- beraterin, nebenamtliche Suchtberater sowie einen nebenamtlichen Psychotherapeuten. Etwa 14 Per- sonen arbeiten im Bereich der Pflege. MM Kann unangenehmen Dingen als Ärztin im Ju-

stizvollzug nicht aus dem Weg gehen: Dr.

med. Barbara Nieszery Foto: Frank Pubantz

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oder zuschließt, werden ihr Grüße ent- gegengebracht, der ein oder andere ver- sucht ihr etwas zuzuflüstern oder winkt sie heran. So natürlich geht sie mit den Inhaftierten um, dass man ihr selbst bei einem Mann wie Klaus G.* nicht an- merkt, dass Nieszery einem mehrfachen Mörder in die Augen schaut. „Profes- sionalität“ nennt sie das selbst, ohne die man hier handlungsunfähig wäre.

Klaus G. ist einer der langjährigsten Häftlinge in der JVA Bützow, seit mehr als 20 Jahren sitzt er nun

schon hier ein. Weitere Jahre stehen ihm bevor. Er versteht sich als Beschützer der neu- en, jüngeren Häftlinge, erbost sich sichtlich darüber, wenn man einen Neuankömmling

„einfach so“ als „Kinder- ficker“ beschimpft. Nieszery hört ihm eine Weile geduldig zu, gibt ihm dann aber zu ver- stehen, dass sie weiter muss, sie sich aber um sein Anlie- gen kümmern werde. Klack, die Tür fällt ins Schloss, der Schlüssel wird mehrfach um- gedreht. Klaus’ Kopf klemmt zwischen den Gitterstäben, seine Blicke verfolgen uns noch lange. „Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen können, eine Tür abzuschlie- ßen, hinter der sich ein Mensch befindet.“ Nieszery schaut ernst auf die Gitterstä- be. Dennoch scheint es so, als sei das ständige Auf- und Zu- schließen der zierlichen Itali- enerin in Fleisch und Blut übergegangen.

Seit einiger Zeit wird die leitende Anstaltsärztin von

zwei weiteren Ärzten unterstützt, die mit ihr im Wechsel die erkrankten Häft- linge betreuen. 15 nebenamtlich tätige Ärzte kommen ein- bis zweimal wöchentlich für speziellere Untersu- chungen; in besonderen Fällen können aber auch so genannte „Ausfahrten“ zu anderen Ärzten oder in Krankenhäuser vorgenommen werden. Damit befindet sich die JVA Bützow, verglichen mit an- deren JVAs in Deutschland, personal- technisch mittlerweile in einer privile-

gierten Situation. Denn viele der An- stalten, so Nieszery, müssten mit einem hauptamtlich tätigen Arzt auskommen oder seien gar auf Ärzte von außen an- gewiesen. Insgesamt sind nach Anga- ben des Bundesministeriums für Justiz 295 Ärzte hauptamtlich in deutschen JVAs tätig; 2002 wurden 60 742 Perso- nen inhaftiert.

Nieszery und ihren beiden Kollegen stehen 14 Krankenpfleger und -schwe- stern zur Seite, die sich auf den ambu-

lanten Bereich und die Bettenstation verteilen. „Die meisten, die stationär aufgenommen werden, sind wegen Ent- giftungen hier, im Durchschnitt etwa 15 Personen monatlich“, so Nieszery. Zu- sammen mit den Häftlingen aus den restlichen JVAs in Mecklenburg, für dessen stationäre Versorgung die JVA Bützow mit zuständig ist, fänden auf das Jahr hochgerechnet etwa 500 Behand- lungen statt. Viele Häftlinge seien auch abhängig von Betäubungsmitteln, litten an chronischen psychischen Erkran- kungen oder hätten versucht, sich das

Leben zu nehmen. Dies alles mache et- wa 70 Prozent der Erkrankungen auf der Bettenstation aus.

Bei einem Rundgang durch die Bet- tenstation gesteht Nieszery mit einem Blick auf den Flur und die Patienten- zimmer, dass „doch alles sehr alt und einfach hier drin“ sei. Meist teilen sich zwei bis drei Personen ein Krankenzim- mer, die Toilette steht mitten im Raum.

In manchen Zimmern lässt sich ein Vor- hang davor ziehen, geduscht wird im Sammelraum. „Anstrengen- der als im Krankenhaus“, so eine der beiden Schwestern, die für die stationäre Abtei- lung zuständig sind, sei die Arbeit hier im Vollzug. „An- strengender, weil die Anten- nen immer überall sein müs- sen.“ Außerdem werde man von vielen Patienten nur aus- genutzt, weil jeder, der freundlich zu ihr sei, sich da- von irgendeinen Vorteil für seine Haft erhoffe. Während die Schwester das erzählt, blickt sie immer wieder auf einen der beiden Monitore, die die einzelnen Kranken- zimmer überwachen. Beson- ders wichtig ist dabei der Raum für „gefährliche Kran- ke“. Ein alter Schrank steht hinten links in der Ecke die- ses Raumes, vorne ist eine Einbuchtung im Boden – die Toilette. An der linken und rechten Außenkante einer schmalen Holzpritsche mit- ten im Zimmer sind Fixierha- ken angebracht. Eine Video- kamera hängt an der Decke.

„Wir haben hier zwar keine Personen vom Schlag eines Hannibal Lecter, aber man muss schon aufpas- sen.“ Nieszery lacht. Ein Lachen, das ihr keine 30 Sekunden später vergehen soll.

„Tot?“ Nieszery schaut ihren Kolle- gen Horst Eckart, der über den Stations- flur gerannt kommt und ihr hektisch et- was ins Ohr flüstert, entsetzt an. Eckart, Sanitätsdienstleiter der JVA Bützow, hat Nieszery soeben die Botschaft über- bracht, dass sich ein Häftling das Leben genommen hat. „Ja, Hirntod.“ In seinem Gesicht spiegelt sich Sorge. Es sei der er- ste Suizidversuch seit ziemlich langer T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003 AA2127

Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung spielen sowohl im Justizvollzug als auch im Maßregelvollzug eine große Rolle. Die Aufnahme zeigt eines der Gebäude des Hamburger Maßregelvollzugs.

*Alle abgekürzten Namen von der Redaktion geändert

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Zeit, fügt er beinahe entschuldigend hinzu. „Wenn sich jemand umbringen will, dann tut er es sowieso, sei es mit ei- nem Bettlaken, einem Gürtel oder mit seiner Unterhose“, sagt Nieszery. Nein, dies ist sicherlich kein „normales“ Ar- beitsumfeld, ebenso wenig wie Dr. Bar- bara Nieszery eine „normale“ Ärztin ist.

Es sei ein Häftling aus der Untersu- chungshaft gewesen, einer, der gerade einmal ein Vierteljahr in der JVA unter- gebracht gewesen sei. Ein Sexual- straftäter, so Nieszery. „Da kommt noch eine ganze Menge Arbeit auf uns zu.“

Sie verzieht das Gesicht. Zündet sich ei- ne Zigarette an. Die Justiz müsse aus- führlich über den Vorgang informiert werden, es würden Nachforschungen angestellt, Fragen kämen und und und.

Lieber wäre es der kleinen, resoluten Frau Ende vierzig wohl gewesen, dieser Teil der Arbeit als Anstaltsärztin wäre nicht zum Vorschein gekommen.

Der Alltag an diesem Donnerstag endet damit, dass sich ein Krankenwa- gen in Anfahrt auf die JVA befindet, in

dem ein Häftling mit Platz- und Schürf- wunden sitzt. „Der hatte gerade seinen ersten Urlaubstag, hat sich betrunken und randaliert“, erklärt ein Wächter der Ärztin. „Wir brauchen jemanden für die Notversorgung.“ Nieszery verdreht die Augen. „Das wird eine lange Nacht.“

Müde sieht sie aus, geschafft. Einen er- heblichen Vorteil habe ihre Arbeit, er- gänzt sie noch: Sie sei auf jeden Fall ge- duldiger geworden. Denn schließlich werde man täglich mit Situationen kon- frontiert, denen man nicht ausweichen könne. Wie auf einer Bohrinsel . . .

Als Ärztin im Maßregelvollzug

Einer Insel gleicht auch Abteilung VI des Hamburger Klinikums Nord Heid- berg-Ochsenzoll. Knapp 200 psychisch kranke Straftäter wurden als Maßregel der „Besserung und Sicherung“ in diese forensische Psychiatrie eingewiesen.

Das Gericht stufte sie im Sinne des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund ih- rer Erkrankungen gemäß §§ 20, 21 StGB als schuldfähig oder minder- schuldfähig ein. Keinem von ihnen soll- te es gelingen, diese „Insel“ so schnell wieder zu verlassen. Denn auch hier sind die Gebäude umgeben von hohen Mauern mit angebrachten Sicherheits- zäunen, sind die Fenster und Trakte ver- gittert. Der Weg in die Abteilung VI führt durch eine Sicherheitsschleuse.

„Herr K., hören Sie noch Stimmen“?

Catrin Mautner schaut den Mittdreißi- ger freundlich, aber bestimmt an. Die 31-jährige Ärztin arbeitet im Rahmen ihrer Facharztausbildung für Psychia- trie und Psychotherapie seit knapp zwei Jahren als Assistenzärztin in Abteilung VI. In Jogginghose sitzt K. ihr gegen- über, freut sich sichtlich über das Ge- spräch, das von Sicherheitspersonal be- obachtet wird. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Nein, höre ich nicht.“ Stefan K. hat, seinen eigenen Angaben nach im Affekt, einen Men- schen getötet, ist als psychotisch einge- stuft worden und bekommt Medika- mente, über deren Dosierung nachge- dacht werden soll. Vor kurzem machte er einer Frau, die er nur dem Bild nach kannte, einen Heiratsantrag. „Was ist denn dabei?“ fragt er Mautner tod- ernst, er möge nun einmal gerne Frau-

en, Zigaretten und Kaffee. „Sehen Sie, Herr K., und das finden wir besonders.“

Besonders sind die Menschen, die in den Hamburger Maßregelvollzug (MRV) eingewiesen wurden. Besonders ist auch die Abteilung VI für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nord.

Freundliche Bilder hängen an den Wän- den, eine der Stationen gleicht einem Blumenmeer. Auf dem Weg zu Maut- ners Arbeitszimmer bleibt der Blick an einem der Außengärten hängen – Enten hocken um den Teich herum. Fast idyl- lisch wirkt das Ganze, besonders bei Sonnenschein. „Manchmal lassen be- sonders psychisch Erkrankte ihre Ag- gressionen auch an den Enten aus – sie haben dann keine Beine mehr.“ Stille.

Die Bilder an den Wänden, erklärt Mautner weiter, stammten von den Pa- tienten selber, manche gingen in die Kunsttherapie. Und die Blumen auf

Station 7 sollen für eine freundliche At- mosphäre sorgen, denn auf Station 7 seien Personen mit besonders schweren Persönlichkeitsstörungen untergebracht.

Personen wie Thomas H., aus den Medien als „Heidemörder“ bekannt.

Während die junge Ärztin erzählt, wirkt sie konzentriert und angespannt.

Nicht nur Stefan K. steht für heute auf dem Programm, sondern noch einige T H E M E N D E R Z E I T

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A2130 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003

Das Klinikum Nord Heidberg-Ochsenzoll/

Abteilung VI für Psychiatrie und Psychothe- rapie/Forensische Psychiatrie in Hamburg Die Versorgung psychisch kranker Straftäter über- nimmt in Hamburg die Abteilung VI für Psychiatrie und Psychoterapie/Forensische Psychiatrie am Kli- nikum Nord Heidberg-Ochsenzoll, eine von 27 wei- teren Fachabteilungen. Die Zahl der Inhaftierten be- trägt zurzeit circa 180, davon 34 Personen nach

§ 64 StGB/137 StVollzG (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) und 136 nach § 63 StGB/136 StVollzG (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus). Sie ist allein in den Jahren 1999 bis 2002 um 82 Prozent angestiegen. Als Gründe für die wachsenden Patientenzahlen nennt Dr. Gun- tram Knecht, Chefarzt der Abteilung VI für Psychia- trie und Psychotherapie/Forensische Psychiatrie, vor allem erschwerte Entlassungsbedingungen durch eine Gesetzesänderung im Jahr 1998, die geänder- te Spruchpraxis der Gerichte sowie schwerere Störungen bei psychisch kranken Straftätern. Abtei- lung VI ist in zehn Stationen unterteilt, wovon Stati- on 5 (Prärehabilitationsstation, Akutaufnahmesta- tion für Frauen) die einzige geschmischt geschlecht- liche Station ist. In der gesamten Abteilung VI sind neun Ärzte, zwei Oberärzte und ein Chefarzt be- schäftigt. Darüber hinaus arbeiten sechs Psycholo- gen, fünf Sozialarbeiter, zwei Lehrerinnen, eine Kunsttherapeutin sowie eine Ergotherapeutin dort.

Etwa 200 Personen arbeiten in der Pflege. Über die Anzahl derjenigen Ärzte, die insgesamt in Deutsch- land im Maßregelvollzug beschäftigt sind, gibt es bisher keine genauen Angaben. Knecht geht von et- wa 400 Ärzten aus. Zurzeit sind an die 6 000 Patien- ten im MRV in Deutschland inhaftiert. MM

„Man muss geduldig sein.“ Catrin Mautner, Ärztin in der Forensischen Psychiatrie Hamburg Fotos (2): Martina Merten

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andere Patienten von den Stationen 5 und 7, für die sie von Anfang an zu- ständig war. „Die Hoffnungslosigkeit vieler Patienten stellt sich irgendwann auch für einen selber dar, man misst sich schließlich an den eigenen Thera- pieerfolgen, und die sind gering.“ Lan- ge, so Mautner, könne man diese Ar- beit nicht machen, auch wenn die bis auf wenige Ausnahmen geregelten Ar- beitszeiten sehr familienfreundlich sei- en. Nach einigem Nachdenken ergänzt sie noch: „Spannend ist natürlich auch, die Menschen in ihrer Gänze betrach- ten zu können, also medizinisch, sozio- logisch, rechtlich und psychologisch.“

Und man habe als Ärztin in einem Maßregelvollzug ausreichend Zeit, Entwicklungen der Patienten mitzuer- leben. Auch wenn die Nachteile der Arbeit genau mit diesem Zeitfaktor einhergingen . . .

Beim Erzählen schließt die Ärztin mit einem großen Generalschlüssel, den sie ebenso wie Nieszery immer bei sich trägt, die Tür zu Station 5 auf, um sie sofort wieder zuzuschließen. Auf die Frage, ob sie das Abschließen der Türen denn niemals vergesse, schüttelt Maut- ner nur amüsiert den Kopf: „Abzu- schließen vergisst man hier nicht.“ Ein kleines, viereckiges Gerät klemmt am Hosenbund der Ärztin, darf niemals fehlen: der Pieper. Kommt es zu Hand- greiflichkeiten oder sonstigen Beson- derheiten, ruft ein Knopfdruck auf das Gerät das Sicherheitspersonal zu Hilfe.

Auf Station 5 befinden sich Frauen und Männer, deren Vollzug entweder verstärkt gelockert werden soll oder die akut aufgenommen werden. Es ist die einzige gemischtgeschlechtliche Station von insgesamt zehn. Hier unterhält sich Mautner mit dem Pflegepersonal über tägliche Vorfälle, spricht Besonderhei- ten ab und dokumentiert Gespräche mit Patienten. Die Zeit ist knapp, da ne- benbei noch Besprechungen und The- rapiegespräche stattfinden. Bei Maut- ners nächstem Gespräch soll sie prüfen, ob der Vollzug bei einer Patientin gelockert werden kann. Weil die Dauer des Maßregelvollzugs im Gegensatz zum Justizvollzug nicht von vornherein zeitlich befristet ist, sind solche Ge- spräche notwendig, um anhand der The- rapiefortschritte über mögliche Locke- rungen zu entscheiden. Sabine L. leidet,

erzählt Mautner, unter Verfolgungs- wahn. Vor kurzem habe sie behauptet, sie sei auf der Station vergewaltigt wor- den. Obwohl längere Zeit für das Ge- spräch angesetzt war, dauert es keine fünf Minuten. Nein, Frau L. wollte nicht reden, so Mautner gegenüber der Psy- chologin, die mit im Aufenthaltsraum sitzt. Es sehe nicht danach aus, als kön- ne man an der Dosierung der Medika- mente etwas ändern. Es herrscht für ei- nen langen Augenblick Stille im Stati-

onsraum, die Psychologin kaut lustlos auf ihrem Brötchen.

„Die meisten von ihnen sind auf- grund ihres Krankheitsbilds nicht in der Lage, mehr als zwei Stunden täglich zu arbeiten.“ Mautner scheint sich zu sam- meln. Es seien eben keine Belastungen möglich, weil die Krankheiten so bela- steten. Krankheiten wie Psychosen, af- fektive Störungen oder Süchte, die oft- mals eng miteinander zusammenhingen oder sich gegenseitig bedingten. Wenn die Patienten es schaffen, gehen sie täg- lich dreieinhalb Stunden vormittags und zwei Stunden nachmittags in die Arbeitstherapie; je nach Motivation

können sie zwischen Kunsttherapie, Er- gotherapie und Arbeitstherapie (unter anderem Beschäftigung in Druckerei, Buchbinderei, Tischlerei und Wäsche- rei) wählen. Jeweils auf dem Hin- sowie auf dem Rückweg werden sie vom Si- cherheitspersonal abgescannt – Vor- sicht ist oberstes Gebot. Je nach Art der Erkrankung fällt die Sicherung stärker oder schwächer aus, aber auch die The- rapiemaßnahmen versteht man als in- nere Sicherheitsmaßnahme. Bei jeman- dem wie Thomas H. kann der Sicherheitsstandard nicht hoch genug sein. H., für den Mautner unter an- derem zuständig ist, hat mehrere Frauen brutal vergewaltigt und ermor- det. Nachdem ihm vor ei- nigen Jahren mithilfe ei- ner damals auf seiner Sta- tion tätigen Psychologin die Flucht gelang, wird er heute besonders gesichert untergebracht. Jeder Schritt des 37-Jährigen, den er außerhalb seiner Station tut, wird von ein bis zwei Sicherheitskräften be- wacht.

Sicherheit ist eines der Hauptthemen im Ham- burger Maßregelvollzug, eines der Themen, um die es auch auf der anschlie- ßenden Stationsbespre- chung am frühen Nach- mittag geht. So wird zum Beispiel über die Frage diskutiert, ob Patient A das Kontaktzimmer zum gemeinsamen Abendessen mit dem Freund nutzen darf oder ob Patient B eine neue CD haben kann. Vorsichts- maßnahmen müssen getroffen, Eventu- alitäten durchgesprochen werden. Am späten Nachmittag steht ein letztes The- rapiegespräch auf dem Programm.

Anschließend geht es nach Hause, Mautners Sohn wartet. Und mit ihm die Rückkehr in die Normalität. Alles an- dere, das betonen sowohl Nieszery als auch Mautner, muss man mit dem Ab- schließen der letzten Tür hinter sich las- sen können. Ansonsten könne man die- sen Beruf nicht ausüben. Die Insel wür- de sonst zu klein. Martina Merten T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3315. August 2003 AA2131

Kunsttherapie im Hamburger Maßregelvollzug: ein Bild eines psychisch kranken Häftlings Repro: Martina Merten

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