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Archiv "Die Franckeschen Stiftungen: Miteinander der Generationen" (12.05.2006)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A1284 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 19⏐⏐12. Mai 2006

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as Familienkompetenzzentrum für Bildung und Gesundheit ist die vorerst letzte Einrichtung, die beim Wiederaufbau und Ausbau der Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale entsteht. Das Zentrum wird neben der Maria-Montessori-Reform- grundschule und einem Altenwohn- und Pflegeheim fester Bestandteil im „Haus der Generationen“ werden. Dieses Haus der Generationen verwirklicht – bundesweit einmalig – das Projekt eines zukunftsfähigen Miteinanders der Ge- nerationen. Zwischen dem Angebot für die Schulkinder und dem Angebot für die alten Menschen wird sich das Famili- enkompetenzzentrum um die Generati- on kümmern, die die Verantwortung für die aufwachsende und die alternde Ge- neration im Familienverbund trägt. Das Konzept der Sorge um den ganzen Men- schen entspringt dem Geist einer über 300-jährigen, einst weltberühmten An- stalt. Diese Sorge für Bildung undGe-

sundheit ist in seiner Tiefe und Trag- fähigkeit nur wirklich zu verstehen aus der Geschichte der Stiftungen.

Es begann mit vier Talern und 16 Groschen

Am Anfang stand die Gründung des „Hallischen Waysen-Haußes“: Mit 28 Jahren wurde August Hermann Francke (1663–1727) Ende des Jahres 1691 als Professor der griechischen und orientalischen Sprachen an die preußi- sche Reformuniversität Halle berufen und gleichzeitig zum Pfarrer von St. Ge- orgen in Glaucha vor den Toren Halles bestellt. Glaucha war das, was heute ein sozialer Brennpunkt genannt würde.

Die verelendende Bevölkerung ver- sank immer mehr in Alkoholismus, Pro- stitution und Bettelei, verwahrloste und elternlose Kinder streunten auf den Straßen. Mit dem Ziel, die Not der Kin-

der zu lindern und ihnen eine Lebens- chance zu geben, stellte der junge Pfar- rer eine Sammelbüchse auf, in die Ostern 1695 jene vier Taler und 16 Gro- schen eingeworfen wurden, aus denen der finanzielle Grundstock für die Ein- richtung einer Armenschule und eines ersten Waisenhauses für neun Kinder wurde. Bereits 1698 konnte mit dem Bau eines großen Waisenhauses begon- nen werden, das 1700 fertig gestellt war und 70 Kinder beherbergte. Es ist heute das Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen (Abbildung 1). Damit be- gann eine erstaunliche Erfolgsgeschich- te. Die Anstalt wuchs kontinuierlich, so- dass bald für die Kinder das längste und höchste Fachwerkhaus der Welt gebaut werden musste; eine Bibliothek, ein Verlag, eine Druckerei, eine Bibelan- stalt, eine Buchhandlung entstanden und nicht zuletzt die Kunst- und Natu- ralienkammer (Abbildung 2)sowie eine

Apotheke.

Die Franckeschen Stiftungen

Miteinander der Generationen

Nach der Wende wurden die Gebäude der Frankeschen Stiftung (links das Haupthaus) saniert und zu neuem Leben erweckt.

Im Familienkompetenz- zentrum soll die

Gesundheitsförderung einen Schwerpunkt der Arbeit bilden.

Richard Toellner

Foto:Reinhard Hentze

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Gottvertrauen, Mut, Geschick, Weit- sicht, Organisationstalent und die Fähigkeit, Menschen für sein Werk zu begeistern und zu gewinnen, waren Ei- genschaften, die August Hermann Francke in hohem Maß besaß und die viel von seinem Erfolg erklären. Was aber die Glauchaischen Anstalten vor den Toren Halles tagtäglich für ihren Gründer und Leiter an Sorge, Fürsorge und Verantwortung bedeuteten, macht man sich selten klar. Als Francke 1727 starb, waren es 3 000 Menschen, die sei- ner Fürsorge und Verantwortung über- geben waren. 3 000 Menschen mussten nicht nur behaust, gekleidet und ernährt werden, sondern auch – zumal sie auf engem Raum zusammenlebten und allermeist im Kindes- und Jugend- alter waren – vor Infektionen bewahrt, in Krankheit betreut und bei Verlet- zung versorgt werden.

Eine Fleckfieberepidemie im Früh- sommer 1699 kostete vielen Kindern und auch dem ersten Waisenhausarzt Christian Albrecht Richter (1675–1699) das Leben. Francke zog die Konsequenz. Es gehört zu den Teilen seines Wirkens, die ohne Vergleich in der damaligen Zeit sind, dass Francke von Anfang an in seinen Anstalten für Hy- giene, reines Wasser und die ärztliche und pflegerische Be- treuung der Kranken und Ver- letzten sorgte.Allein drei Kran- kenpflegeeinrichtungen gab es in Franckes Anstalten mit eige- ner Küche, Krankenmütter, Theologie- und Medizinstuden- ten für die seelsorgerliche und medizinische Betreuung und mindestens einen Anstaltsarzt.

So entstand in Halle das erste Kinderkrankenhaus Europas.

Heute ist es Sitz der Kulturstif- tung des Bundes.

„Die besondere Wohltat, welche die Patienten in diesen Kranken-Anstalten genießen, hat ein jeder mit Dancksagung gegen Gott zu erkennen. Denn es wird nicht leicht, auch bey sehr reichen Leuten, eine sol- che Verfaßung zu finden sey [sic!], da der Patienten geistli- che und leibliche Genesung al- so gesorget wird, in dem man

außer dem Medico ordinario noch zwey Aufseher hat, deren einer fürnehmlich auf die curam animae, der andere aber, als Medicinae Studiosus, auf curam cor- poris siehet“, so heißt es völlig zutref- fend in einem Entwurf zu einer „Ferne- ren Erinnerung für die Krancken auf dem Pflege-Hause“ von 1737.

Christian Sigismund Richter (1672–

1739) und Christian Friedrich Richter (1679–1711) folgten ihrem verstorbe- nen Bruder Christian Albrecht als An- staltsärzte, wobei Christian Friedrich als Verantwortlicher für die Waisenhaus- apotheke unter anderen Medikamen- ten eine Goldtinktur entwickelte, die als Geheimmittel unter dem Namen

„Essentia dulcis“ bald durch eine von ihm gegründete Medikamenten-Expe- dition in alle Welt – von Russland bis Nordamerika, von Skandinavien bis Spanien – vertrieben wurde und große Gewinne einbrachte. Zwischen 1720 und 1730 waren es allein jährlich 15 000 Taler. Der bedeutendste Waisenhausarzt war freilich Johann Junker (1679–1759).

Er war Professor der Medizin an der Universität und hielt jahrzehntelang sein

„Collegium clinicum“ im Waisenhaus ab – die erste Poliklinik Europas.

Sanfte Medizin und ärztliche Mission

Sämtliche Ärzte des Waisenhauses wa- ren Schüler des Georg Ernst Stahl (1659–1734), neben Friedrich Hoffmann (1660–1742) der berühmteste Mediziner der jungen Universität Halle. Im Gegen- satz zu seinem Kollegen Hoffmann, der ein technomorphes Krankheitskonzept vertrat, propagierte Stahl in seiner

„Theoria medica vera“ ein psycho- dynamisches Krankheitskonzept: Um Krankheiten richtig zu erkennen, muss man ihre Symptome sorgfältig beobach- ten. Um diese Symptome richtig zu deu- ten, muss man auf die Gemütsverfassung des Patienten achten. Das heißt nichts anderes als individualisieren, nicht ge- neralisieren. Der einzelne Mensch in sei- ner spezifischen Notlage ist das Gegenüber des Arztes, nicht ein Kollektiv. Die Krankheitssitua- tion des Einzelnen muss richtig erfasst und nach seinem Seelen- zustand gedeutet werden. Mes- ser, Schröpfer und Pillen helfen nicht der Seele. Sie müssen zurückhaltend und vorsichtig eingesetzt werden, um der ent- standenen körperlichen Unord- nung abzuhelfen. Doch eingrei- fende, stark wirkende Mittel (wie Opium und Chinin) und erst recht Rosskuren sind ver- boten. Kontrolliert abwarten und auf die Selbstheilungskräfte der Seele bauen, heißt die Devise. Die Seele stärken, dann wird auch der Leib gesund. Die Theoria medica vera ist die Theorie einer sanften Medizin.

Sie hatte die größte Affinität zur Anthropologie des Halleschen Pietismus.

Am 9. Juli 1706, also vor ge- rade 300 Jahren, erreichten zwei Missionare aus Halle die kleine dänische Handelskolo- nie Tranquebar an der Küste Südindiens. Francke hatte sie auf Initiative des dänischen Kö- T H E M E N D E R Z E I T

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Die Kunst- und Naturalienkammer umfasst weit mehr als 3 000 Objekte in 18 reich verzierten Barockschränken.

Foto:Klaus Göltz

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nigs Friedrichs IV. ausgesandt. Dieses Datum markiert den Beginn des ersten Missionsunternehmens in der prote- stantischen Kirchengeschichte; es wur- de am 18. März dieses Jahres in Anwe- senheit der indischen Botschafterin und des dänischen Botschafters gebührend gefeiert, denn die Verbindung zu Indien und anderen Missionsgebieten ist in den Stiftungen über die Jahrhunderte nie abgerissen. Die dänisch-hallesche Mission ist nicht nur die erste evangeli- sche Mission, sondern auch die Ge- burtsstätte der ärztlichen Mission.

Als Gotthilf August Francke (1696–

1769) ganz im Sinne seines Vaters 1728 sich beim dänischen Missions-Collegium in Kopenhagen für die Einrichtung eines „seminarium missionarium“ ein- setzte, damit neben dem theologischen auch das „Studium Physicum et Medi- cum“ betrieben werden könne, tat er es in der Einsicht, dass in der dänisch- halleschen Mission für das indische Tranquebar das Seelenheil vom körper- lichen Wohl nicht zu trennen sei, so wie er es in seinen Anstalten zu Halle ge- wohnt war. So wurden zwischen 1729 und 1791 in lückenloser Folge fünf Mis- sionsärzte in die Tranquebar-Mission nach Indien ausgesandt.

Obwohl heute die ärztliche Mission unter völlig veränderten politischen, ökonomischen, kirchlichen und ideolo- gischen Verhältnissen in den Ländern der Dritten Welt tätig ist, ist sie doch der Ort, an dem Pietismus und Medizin am engsten miteinander verbunden geblie- ben sind.

Wiederaufbau nach der Wende

Nach einer 250-jährigen Geschichte hob die sowjetische Besatzungsmacht die Francke-Stiftung 1946 auf und überließ deren Gebäude der Martin-Luther-Uni- versität. Das historische Ensemble der ungeliebten pietischen Schulstadt ver- fiel. Mit der Gründung des Freundes- kreises der Franckeschen Stiftungen gleich nach der Wende auf Initiative des Direktors der Herzog August Biblio- thek zu Wolfenbüttel, Paul Raabe, be- gann der Wiederaufbau. Eine der ersten Aktionen des Freundeskreises war eine Wanderausstellung mit dem Titel „Ret-

tet die Franckeschen Stiftungen!“, die in der bundesrepublikanischen Öffentlich- keit das Bewusstsein für den drohenden Verlust eines Juwels der deutschen Ge- schichte im Herzen Deutschlands weck- te. 1992 wurde die Stiftung wieder er- richtet; Paul Raabe wurde ihr erster Di- rektor. Unter dem Motto „Mitten im Aufbruch“ begann der Wiederaufbau.

Mehr als 50 Gebäude auf dem großen Stiftungsgelände waren zu sanieren und zu restaurieren. Von der Stiftung, die ihr ganzes Vermögen verloren hatte, muss- ten in 15 Jahren über mehr als 60 Millio- nen Euro aufgebracht werden.

Heute leben, lernen, arbeiten und musizieren wieder mehr als 4 000 Men- schen in mehr als 45 Einrichtungen, dar- unter fünf Kindertagesstätten, vier Schulen, wie die altehrwürdige Latina mit ihrem exzellenten Musikzweig und Musikinternat, kirchliche, wissenschaft- liche Institutionen und sozialpädagogi- sche Einrichtungen, wie der Bauhof und das Stiftsgut Stichelsdorf. Mit ihren zahlreichen kulturellen Veranstaltun- gen sind die Franckeschen Stiftungen wieder ein kultureller, sozialer, pädago- gischer und christlicher Leuchtturm, der weit über die Region hinausstrahlt.

Im Januar dieses Jahres wurde das

„Haus der Generationen“ bei der Bun- desinitiative „Deutschland. Land der Ideen“ nominiert.Als ein deutschland- weit einmaliges, intergenerationelles Modellprojekt, welches die wechselsei- tige Verantwortung alter und junger Menschen füreinander ermöglichen soll, wurde es aus mehr als 1 200 Bewer- bern als eines der ersten Projekte unter der Schirmherrschaft des Bundespräsi- denten ausgewählt. Der Freundeskreis der Franckeschen Stiftun-

gen wird in der fachwerk- strukturierten Dachetage des sanierten ehemaligen königlichen Pädagogiums gemeinsam mit den Stiftun- gen und der Stadt Halle das Familienkompetenzzentrum einrichten, das der Bera- tung, Betreuung, Unterrich- tung und Hilfe für junge Fa- milien dienen soll. Dabei steht die sozialpädagogi- sche Unterstützung der El- tern und die Gesundheits- förderung der Kinder ganz

im Vordergrund. Gerade die in den Kin- dertagesstätten und Schulen der Stif- tung oft vertretenen Kinder aus Unter- schichten und ihre Eltern können er- reicht werden. So sollen sich beispiels- weise die Eltern mit Sprach- und Bewe- gungsförderung, mit sozialem Lernen, mit gesunder Ernährung, mit der Me- diennutzung beschäftigen und ihre Kin- der durch die vorschulische und schuli- sche Bildung und die berufliche Ausbil- dung begleiten können. Dazu wird ein Netzwerk aller an dem Gedeihen der Kinder in den verschiedenen Lebens- stufen Beteiligten geschaffen: Hebam- men, Tagesmütter, Großeltern und an- dere Verwandte, Freunde, Kinderärzte und Pädagogen in Kindergarten und Schule.Dabei wird die Gesundheitsför- derung einen Schwerpunkt der Arbeit des Kompetenzzentrums bilden. Alles, was der Gesundheit der Kinder dient, körperliche Risikofaktoren mindert und die physischen und sozialen Kräfte stärkt, soll durch ärztliche Beratung, Kurse, Gymnastik- und Sportübungen gefördert und dies alles mit Vortragsrei- hen ergänzt werden.

Die ersten Aktivitäten des Zentrums haben schon begonnen; was fehlt, sind der Ausbau der Dachetage und die finan- ziellen Mittel dazu. Deshalb die herzliche Bitte an die deutsche Ärzteschaft, an die Kolleginnen und Kollegen: „Helfen Sie den Franckeschen Stiftungen!“

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(19): A 1284–8 Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Richard Toellner Vizepräsident des Freundeskreises der Franckeschen Stiftungen

Wachendorfer Straße 31, 72108 Rottenburg T H E M E N D E R Z E I T

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A1288 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 19⏐⏐12. Mai 2006

Spendenaufruf

Die Bundesärztekammer ruft die Ärz- tinnen und Ärzte zu Spenden für die Fertigstellung des Familienkompetenz- zentrums der Frankeschen Stiftungen in Halle auf.

Spenden werden erbeten auf das Konto des Freundeskreises der Franke- schen Stiftungen e.V.

Franckeplatz 1, Hs 37, 06110 Halle Konto-Nummer 750 067 100 bei der Dresdner Bank in Halle/Saale, BLZ: 800 800 00

Stichwort: Familienkompetenzzentrum

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