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Archiv "Unsere Verantwortung im Schwangerschaftskonflik" (24.09.1982)

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Humanembryologie und prä- natale Psychologie geben ge- nügend Hinweiseauf die Indi- vidualität des menschlichen Lebens in der Frühschwan- gerschaft. Durch diese objek- tivierend-wissenschaftliche Erkenntnis ist der Arzt im

Schwangerschaftskonflikt (§-218-Beratung) hinrei- chend in die Verantwortung genommen —das Bewußtsein der Frau bedarf aber der von ihr erfahrenen Beziehung zu ihrem Kind, damit sich bei ihr Verantwortung bildet. Diesen Prozeß der Verantwortungs- bildung muß der Arzt wahr- nehmen und ihm Raum ge- ben. Notwendigerweise ver- wirklicht sich beim Arzt und bei der Frau Schuld (nicht jedoch Schuld-Gefühl) mit bewußt vollzogener Verant- wortung — Schuld nicht als drückende Last, son- dern als Chance und Heraus- forderung. Der Beitrag ba- siert auf einem in der Aka- demie für ärztliche Fort- bildung in Bad Segeberg ge- haltenen Vortrag, der für das DEUTSCHE ÄRZTE- BLATT bearbeitet wurde.

Aufsätze • Notizen

Heft 38 vom 24. September 1982

Unsere Verantwortung

im Schwangerschaftskonflikt

Peter Petersen

Um antworten zu können, ist ein Gegenüber, ein anderer Mensch nötig, dem wir dann auch Verant- wortung schulden. Im konkreten Gespräch über das Austragen oder Abbrechen der Schwanger- schaft ist unser Gesprächspartner zunächst einmal die Frau, selten auch ihr Mann. Ihr sind wir als Arzt verantwortlich — über ihre inner- seelischen, tiefenseelischen und sozialen Konflikte und Bedräng- nisse bei der ungewollten Schwangerschaft ist inzwischen viel geschrieben worden.

Es geht mir diesmal um die Ver- antwortung gegenüber dem ange- kommenen Menschen in der Früh- phase der Schwangerschaft. Der Arzt ist hier Anwalt zweier Welten

— so unangenehm und neu diese Rolle für ihn ist, so muß er sich doch diesem Konflikt stellen, so- fern er sich überhaupt auf die §- 218-Beratung einlassen will. Wie ist überhaupt Verantwortung ge- genüber diesem ankommenden Menschen möglich und denkbar?

Die objektivierende Wissenschaft gibt darauf Antwort aus dem Be- reich der Humanembryologie und Psychologie. Diese beiden Wis- senschaften möchte ich jetzt nur kurz zitieren. Der Göttinger Em- bryologe Erich Blechschmidt hat als Fazit seines lebenslangen For- schens zwei wesentliche Befunde herausgestellt.

1. Der Mensch ist von Anfang an unver- wechselbar Mensch — und keine Vorstufe eines Tieres oder ein tierhaftes Durch- gangsstadium; auch wenn in der em- bryonalen Entwicklung des Menschen gelegentlich morphologische Ähnlich- keiten mit einem bestimmten phylogene-

tischen Stadium in der Tierreihe ins Auge fallen, so handelt es sich doch dabei nur um Ähnlichkeiten einzelner Elemente, aber nicht um Gleichheit des Ganzen. Es ist deshalb wissenschaftlicher Unsinn, beispielsweise vom Kaulquappensta- dium der menschlichen Embryonalent- wicklung zu sprechen. „Ein menschli- ches Ei enthält in seinem Innern als Erb- träger keine Hühner- oder Fischchromo- some. Dieser heute erwiesene Sachver- halt erlaubt es nicht mehr, darüber zu diskutieren, ob und wann, also in wel- chem Monat der Ontogenese (Keiment- wicklung), gleichsam nachträglich ein Mensch entsteht ... " „Ein Mensch wird nicht Mensch, sondern ist ein Mensch, und zwar in jeder Phase seiner Entwick- lung. „ Ein menschlicher Keim ist keine Bildung, zu der nachträglich als Akzi- denz (Zugabe) das Menschsein hinzukä- me." (Blechschmidt)

2. Der Mensch ist von Anfang an Indivi- dualität. Das wird u. a. bewiesen durch den individuellen Chromosomenansatz, wie er mikrochemisch beschreibbar ist.

Auf die von Anfang an bestehende Indivi- dualität bekommen wir außerdem Hin- weise durch die Zwillingsforschung bei eineiigen Zwillingen: Eineiige Zwillinge nehmen auch dann schon in der frühen Kindheit eine unterschiedliche Entwick- lung, wenn sie im gleichen Milieu auf- wachsen.

In den letzten 40 Jahren hat sich die Wissenschaft von der Pränatalen Psy- chologie entwickelt (Hau, Graber, Schindler). Dort ist man sich darüber ei- nig, daß der Mensch vor der Geburt eine seelische Dimension besitze — die Frage ist nur, wie diese im einzelnen zu be- schreiben ist. So etwa ist es sicher, daß seelische Qualitäten wie Intentionalität (Zuwendung und Abwendung) und Kom- munikation (Austausch von Signalen) vorhanden sind — am Ultraschallbild läßt sich das zeigen. Wir wissen genaueres über die sinnlichen Wahrnehmungen des Embryo — auf sinnliche Reize, die den Organismus der Mutter treffen (z. B. ein Nadelstich in die Bauchwand der Mut-

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Schwangerschaftskonflikt

ter), reagiert auch der Embryo, und zwar schon von den ersten Schwanger- schaftsmonaten an. Einiges spricht da- für, daß solche Reize, besonders schädi- gende Reize, das Seelenleben des Kin- des nachhaltig prägen. Traumforscher sind geneigt, von pränatalen Schädigun- gen zu sprechen, weil bestimmte Traum- inhalte und krankhafte Verhaltensweisen des später seelisch Kranken sich anders nicht erklären lassen. Man kann anneh- men, daß vorgeburtlich nicht nur Sinnes- eindrücke aufgenommen werden. Sie werden auch gespeichert und verarbeitet und bestimmen das spätere Leben mit.

Weiterhin ist bekannt, daß die menschli- chen Sinne sich in einer typischen Abfol- ge entwickeln:

> Zuerst entstehen die Hautsinne (also das Getast), und zwar zuerst um die Mundregion. Vom Mund breitet sich die- se Empfindungsfähigkeit über den gan- zen Körper aus.

> Später entwickelt sich der Gleichge- wichtssinn, womit die Lage im dreidi- mensionalen Raum kontrollierbar wird.

• Erst dann wird das Gehör entwickelt, I> und zuletzt formt sich das Sehorgan.

Bemerkenswert finde ich diese hierarchi- sche Entwicklung des vorgeburtlichen Sinnesleben auch deshalb, weil wir als zivilisierte Europäer heute fast aus- schließlich unser gesellschaftliches Le- ben auf das Sehen abstellen, also das zu letzt entwickelte Sinnesgebiet. Das Se- hen ermöglicht eine distanzierte Er- kenntnis des Lebens—wir lassen uns die Dinge nicht zu nahe kommen und halten alles auf Abstand. Damit werden die Din- ge natürlich auch leichter manipulierbar.

Weil wir den unmittelbaren Kontakt ver- loren haben, der über die Haut vermittelt wird, spüren wir auch nicht mehr den Schmerz, den ein anderer bei unseren Eingriffen erleidet. Die anderen, weniger distanzierten Sinnesgebiete, die vorge- burtlich früher angelegt wurden, sind bei uns unterentwickelt oder werden tabu- iert.

Aus der Ehe- und Lebensberatung mit Sexualstörungen wissen wir, daß dabei in erster Linie die Fühl- und Empfin- dungsfähigkeit der Haut gestört oder aufgelöst ist. Um diese Empfindsamkeit und Zartheit der Hautsinne zu erspüren und zu beschreiben, genügen die ratio- nalen Begriffe unserer Wissenschaften nicht mehr. Es sind dafür andere Dimen- sionen der Erkenntnis notwendig, die uns gegenwärtig fehlen. Das ist auch der tiefere Grund dafür, daß uns das ganze vorgeburtliche Leben unheimlich, myste- riös, jedenfalls unbekannt vorkommt.

Im Grunde ist es deshalb fast aus- geschlossen, sich diesem Gebiet der frühen Schwangerschaft mit den Worten unserer zielgerichte- ten, zweckbetonten, rationalen Sprache zu nähern. Wir kommen dabei in die Gefahr, dieses höchst sensible Lebensgut zu zerstören.

So sind Schwangere, wenn sie echt empfinden, meist auch sprachlos über ihren Zustand. Ihr instinktives Ahnen ist wie ein zar- tes Pflänzchen und ihr scheinba- rer Rückzug vom Leben ist ver- ständlich. Es ist zwar ein Rückzug von der Hektiv und dem Druck un- serer Zivilisation, aber es ist ihr Rückweg zu den Quellen und dem Ursprung des Lebens. Frauen sprechen über ihre wirklichen Empfindungen nur ungenau oder scheu — und so meiden sie auch die Verbalisation ihres tiefen Schmerzes nach dem Schwanger- schaftsabbruch. Nachsorgegrup- pen nach Schwangerschaftsab- bruch haben deshalb in der Regel nur eine kurze Dauer, wenn sie überhaupt zustande kommen.

Soweit zwei Antworten aus der neueren wissenschaftlichen For- schung. Sie bestätigen im Grunde das mit neueren Methoden und Er- kenntnissen, was in anderer Form jahrtausendelang uraltes Weis- heitsgut der Menschheit war. Aber diese Erkenntnisse sind Wissens- gut, sie gehören der Sphäre der wissenschaftlichen Abstraktion und der Sphäre allgemeiner Re- geln, auch ärztlicher Standesre- geln an. Im Falle einer individuel- len Verantwortung geht es noch um anderes — und darüber möchte ich heute vor allem sprechen: um die Beziehungen der Frau — ein- mal die Beziehungen zwischen Arzt und Schwangerer und um die Beziehung zwischen der Frau und ihrem Kind.

Ein Beispiel zur Beziehung

Bei einer 17jährigen Frau war die psych- iatrische Indikation zum Schwanger- schaftsabbruch im Sinne des § 218 StGB durch eine schwere depressive Fehlent- wicklung gegeben — zumal die eigene

Familie diese Frau innerlich im Stich ließ, indem sie auf Abtreibung drängte, und der Freund sich aus dem Staub gemacht hatte. Jedoch fragte ich die Frau, ob sie jemals eine innere Beziehung zu dem Kind gespürt, ob sie etwas dafür empfun- den habe. Sie antwortete darauf mit au- ßerordentlicher Klarheit, sie habe sich wochenlang auf das Kind gefreut — aber sie könne es jetzt nicht verantworten, diesem Kinde das Leben zu schenken.

Auf meine weitere Frage, unter welchen Umständen sie daran denken könne, das Kind kommen zu lassen, antwortete sie überraschend präzise mit drei Forderun- gen: nach einer Zusicherung des Arbeit- gebers, daß sie ihre Tätigkeit fortsetzen könne, nach menschlichem Beistand während Schwangerschaft und Stillzeit, nach finanzieller Unterstützung für den Fall, daß sie ihr Elternhaus verlassen müsse.

Alle drei Forderungen ließen sich mit Hil- fe der kirchlichen Beratungsstelle PRO VITA innerhalb von 24 Stunden garantie- ren. Daraufhin entschied sich die junge Frau zum Austragen der Schwanger- schaft. Wie ich von der betreuenden So- zialarbeiterin erfuhr, verlief die Schwan- gerschaft ordentlich — sie lernte später einen jungen Mann kennen, der mit der Heirat das Kind als sein eigenes adop- tierte.

Hier hat eine junge Frau eine ganz klare Beziehung zu ihrem Kind.

Diese Beziehung zum vorgeburtli- chen Menschen ist auch für mein Vorgehen entscheidend; ich for- sche deshalb immer danach. Es ist ein äußerst zartes Etwas — begriff- lich nicht faßbar, ungreifbar, aber doch deutlich und stark, so daß derjenige, der Ohren hat zu hören, sofort darauf aufmerksam wird.

Diese Beziehung ist ganz und gar unsentimental, und sie hat nichts mit subjektiven Emotionen zu tun, schon gar nichts mit einem Glücksrausch. Sensible Frauen können den Moment der Kindes- ankunft sehr genau als etwas ob- jektiv Notwendiges beschreiben — etwa mit den Worten: „Ich wußte, ich würde ein Kind empfangen — es war wie ein großer dunkler Raum, der auf mich zukam. Aber ich wollte nicht ausweichen, ich wollte darauf zugehen. Und dann, nach der Empfängnis, erlebte ich die Leichtigkeit und das Gefühl in- nerer Kraft, alles Miese und Schwere durchstehen zu können —

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diese Kraft hatte ich vom Kind be- kommen — diese Kraft hatte ich nicht aus mir selbst" — soweit die Schilderung einer 20jährigen Frau mit einer ausgeprägten Konflikt- schwangerschaft.

Rede und Antwort spielen sich hier in einer Sphäre der einzigarti- gen Intimität ab. Es ist nicht die Sphäre, die mit Hilfe von Tonband und Videorecorder reproduzierbar und begrifflich fixiert würde; re- produzierbar ist diese Rede und Gegenrede überhaupt nicht, denn sie ist einzigartig —das Re-Produkt dagegen ist ein Wiederholungs- Stück. Es gehört Intuition und Em- pathie, also geschärftes Ahnungs- vermögen und Einfühlung dazu, um sich dieser Sphäre zu nähern.

Diese in der ärztlichen Ausbildung heute leider vernachlässigten, wenn nicht sogar belächelten the-

rapeutischen Fähigkeiten unter- scheiden sich klar vom Sachwis- sen und von der wissenschaftli- chen Analyse, wie es zum Stan- dard des wissenschaftlich ausge- bildeten Arztes gehört. Aber weder Faktenwissen noch analytische Fähigkeit widersprechen Intuition und Empathie — vielmehr ergän- zen sie einander.

Auf meine Frage, wie antworten wir auf den vorgeburtlichen Men- schen, würde ich jetzt etwa diese Antwort versuchen: Es ist für den Arzt im Schwangerschaftskonflikt zwar von großer Wichtigkeit, über die pränatal-psychologischen und humanembryologischen Tatsa- chen Bescheid zu wissen. Aber da- mit erreicht er im Zweifelsfall die schwangere Frau nicht — denn sie hat zu dem gerade erst empfange- nen Kind eine völlig andere Bezie- hung, als sie mit embryologischen Begriffen oder solchen der Präna- talpsychologie beschreibbar sind.

Wenn wir die lebendige Bezie- hung der Frau zu ihrem Kind errei- chen (ich versuche sie mit den Schlagworten Intuition und Em- pathie anzudeuten), dann befin- den wir uns in der Sphäre, wo von wirklicher Verantwortung gespro- chen werden kann. Hier gibt es Rede und Antwort — hier gibt es

Ich und Du. Nur wo Ich und Du da sind, kann von Ver-Antwortung gesprochen werden — und auch von Ethik.

Diese durch die menschliche Be- ziehung begründete Ethik ist eine andere Ethik als die, welche durch Vorschriften, Reglements oder Gesetze oder allgemeine Rahmen- bedingungen gegeben sind. Die Gesetzes-Ethik entstammt der Sphäre der Vergangenheit — auf- grund von gegebenen Geboten und Verboten wird der Mensch und sein Verhalten so beschrie- ben, wie er sein soll. Das ist Ethik des Sollens. Die aus der ursprüng- lichen Mutter-Kind-Beziehung er- wachsene Verantwortung ist we- der durch Sollens-Vorschriften noch durch die Vergangenheit be- stimmt, sie ist auf die Zukunft aus- gerichtet: Das, was auf die Mutter zukommt, ist reine Zukunft, es ist noch nicht einmal greifbare Ge- genwart. Das ankommende Kind kann nur aus der Zukunft heraus antworten — es ist noch gar nicht existent und greifbar, gleichwohl die Mutter kraft ihrer Liebe zu ih- rem Zukünftigen schon durchge- stoßen ist.

Offene Erwartung — festgelegte Erwartung

Dieses zukunftsgerichtete Offen- sein hat Julia Schwerdtfeger in ei- ner Studie über das Erleben der frühen Schwangerschaft empi- risch belegt. Unter anderem kam dabei eine seelische Haltung zuta- ge, die als offene Erwartung zu bezeichnen ist, im Gegensatz zur festgelegten Erwartung, die durch bestimmte Wunschvorstellungen eingeengt und fixiert ist, z. B. das Kind möge ein Mädchen oder blauäugig sein, oder es möge die Stammhalterschaft der Familie tragen, oder es möchte zu einem bestimmten Termin kommen. Die- se Offenheit des geduldigen War- tenkönnens steht allerdings im Gegensatz zu einer heute verbrei- teten Einstellung, die durch Hektik und Sicherheitsbestreben be- stimmt ist.

Man lebt in der Illusion, durch Si- cherheitsmaßnahmen und Versi- cherungen der Zukunft begegnen zu können — dabei büßt man den Blick für das Neue ein, das mit Sicherungen niemals erreichbar ist. Die Zukunft kommt zu uns aus der Sphäre des Neuen — sie ist nur durch die Hoffnung erreichbar, und wirkliche Hoffnung hängt im- mer zusammen mit dem Unvor- stellbaren und Unmöglichen — so wie für jene 17jährige Schwangere die Zukunft mit ihrem Kind unvor- stellbar und unmöglich war; aber die lebendige Beziehung mit ih- rem Kind war für sie der Leitfaden, es mit der Unmöglichkeit aufzu- nehmen. Mut und Risikobewußt- heit gehören allemal zu einem sol- chen Schritt.

Wir suspendieren die Kräfte der Hoffnung und des Mutes, wenn wir nicht auf diese tieferen Schich- ten der Beziehung mit unserem dritten Ohr hören. Und wir kom- men in die Gefahr, diese entschei- denden Kräfte zu verschütten, wenn wir in einem Beratungsge- spräch mit einer Konfliktschwan- geren zuerst die ganze Skala der sozialen Hilfen anbieten, statt uns um die tiefere Beziehung zu küm- mern. Soziale Hilfen sind notwen- dig — wie der Fall meiner 17jähri- gen Patientin zeigte. Aber sie sind zweitrang ig.

Wir werden durch unser Angebot sozialer Hilfen keine Schwangere zum Austragen ihrer Schwanger- schaft bewegen, wenn die Frau zur Abtreibung entschlossen ist.

Jede zum Abbruch fest entschlos- sene Frau bekommt heute auch diesen Abbruch — und es ist meine Frage, ob hier überhaupt von Ver- antwortung gesprochen werden kann, oder auch von Verantwor- tungslosigkeit. Denn vielfach sind diese Menschen abgepanzert ge- gen jede Beziehung zum vorge- burtlichen Menschen. Rede und Antwort finden hier nicht statt — das ist ihnen auch nicht vorwerf- bar. Ich halte es deshalb auch für fraglich, bei einem Menschen von Verantwortungslosigkeit zu spre- chen, dem diese Sphäre im Fall

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Schwangerschaftskonflikt

seiner eigenen Schwangerschaft überhaupt fremd ist, der sie aus Unfähigkeit gar nicht betreten kann.

Und meine weitere Frage: Findet hier nicht auch die Verantwortung des Arztes ihre Grenze? Auch dann, wenn der Arzt weiß, daß er mit dem Schwangerschaftsab- bruch ein vorgeburtliches Men- schenleben tötet? Das ist ein Kon- flikt für den Arzt: einerseits zu wis- sen um das Faktum, daß hier ein Mensch angekommen ist und auch in die Welt geboren werden will — das sagt ihm seine wissen- schaftliche Ausbildung — und an- dererseits zu sehen, daß hier kei- nerlei Empfangsbereitschaft vor- handen ist. Diese Konfliktspan- nung auszuhalten und aus diesem Bewußtsein zu handeln, erfordert mehr Stärke, als den Abbruch et- wa mit dem Gedanken vorzuneh- men: „Wenn ich's nicht mache, macht es ein anderer." Dieser Ge- danke ist zwar realistisch, aber un- ter dem Aspekt einer tiefverstan- denen Verantwortung ist er billig und eine Art von Flucht.

Zwei Aspekte sind bei der §-218- Beratung wesentlich: die Einzigar- tigkeit jeder Situation und meine Schuld als Arzt. Für den wahren Arzt gehört die Einzigartigkeit je- der Situation zum Altbekannten, wenn auch die Statistiken in der Medizin diese Einmaligkeit lieber verleugnen. Allgemeine Maßstäbe und ärztliche Kunstregeln sind nö- tig, und der Arzt muß sie kennen, aber er muß sich doch immer wie- der der Einmaligkeit jedes Patien- ten stellen. Wenn ich meine, ich hätte erfolgreich gehandelt, so straft mich der Verlauf für meinen Glauben.

Ich wähnte das Schicksal jener siebzehnjährigen Frau einigerma- ßen gefestigt, aber mein Wähnen stellte sich als Wahn heraus. Jetzt nach 1 1/2 Jahren erfahre ich von ihrem Tod — es sieht nach Freitod aus. Ich war sehr betroffen bei die- ser Nachricht, und ich dachte so- fort daran, daß das Kind womög- lich zu viel für ihre zarte Seele

gewesen sei. Natürlich fühle ich mich nicht persönlich schuldig in dem Sinn, wie wenn ich als Arzt ein falsches Medikament rezep- tiert hätte. Aber ich habe dieses Schicksal als Berufsmensch mit zu verantworten — ich bin als Schuldiger mit hineingezogen. Ob wir wollen oder nicht: Wir werden beim Schwangerschaftsabbruch in das Schicksal eines anderen Menschen oder eines Menschen- paares mit verwickelt in viel tiefe- rer und intensiverer Weise, als das sonst bei unserem therapeuti- schen Tun der Fall ist.

Es ist für uns eine neue Art von Therapie. Denn Schmerzen kön-

nen wir nur selten dabei lindern, bei einem leidvollen Schicksal können wir wachsame und teil- nehmende Begleiter sein, nicht weniger, aber auch nicht viel mehr. Wenn ich meine Verantwor- tung in diesem Leiden ernst neh- me, so entsteht bei mir fast immer ein Bewußtsein objektiver Schuld, nicht Schuldgefühl. Denn durch mein Handeln oder Nichthandeln bin ich langfristig an das Schick- sal dieser Frau gebunden. Daß hier persönliche und individuelle Verantwortung übernommen wer- den muß, die in dieser oder jener Form mit objektiver Schuld ver- bunden ist, macht die Sache neu.

Denn Abtreibung als technischen Eingriff gibt es schon seit Jahrtau- senden, aber früher war er unper- sönlich, z. B. durch das Clanbe- wußtsein oder durch die göttliche Stimme legitimiert, und heute noch meinen manche Zeitgenos- sen, die Verantwortung dafür ei- nem § 218 delegieren zu können.

Das ist illusionär. Die Schuldfähig- keit des Arztes wird damit ver- deckt. Wesentlich ist vielmehr, das Bewußtsein für die objektive Schuld zu schaffen und auch die- sem Bewußtsein standzuhalten, daraus wachsen neue Kräfte, die uns selbst und unserem Patienten zugute kommen. Zu unterschei- den ist immer das emotionale, de- pressiv-getönte Schuldgefühl von der Bewußtheit der Schuld:

Schuldgefühle werden sich auf die Dauer in Bewußtheit von Schuld

verwandeln, dazu gehört Kraft, aber es fließen uns auch wieder neue Kräfte aus dieser Verwand- lung zu.

Entschleierung der Schuldgefühle

Es ist unbedingt notwendig, Schuldgefühl und Schuld zu un- terscheiden. Diese Unterschei- dung nicht zu treffen, hieße, die Wirklichkeit zu verschleiern.

Schuldgefühl verschüttet das Be- wußtsein objektiver Schuld. Wenn echte Bewußtheit von Schuld kon- struktiv ist, so ist Schuldgefühl der destruktive Anteil. Schuldbe- wußtsein ist ein soziales, verbin- dendes Element, dagegen ist Schuldgefühl ein rein tiefenpsy- chologischer Vorgang, eine Emo- tion, die sich im Inneren des ein- zelnen Menschen abspielt und ihn in Isolation und Vereinzelung treibt. Schuldgefühle werden ge- speist durch kollektive Normen, Vorschriften, häufig sogar durch moralisierende Vorwürfe.

Bei Entschleierung der Schuldge- fühle wird echte Schuld erkenn- bar, beim Abbruch Schuld am Nichtleben dieses Menschen. Das ist ein objektiver Vorgang, an die- ser Schuldwirklichkeit kann gege- benenfalls auch der Ehemann teil- haben. Insofern durchbricht das Bewußtsein der Schuld die Isola- tion. Schuldbewußtheit wirkt ver- bindend, es bildet sich Gemein- samkeit. Diese Bewußtheit objekti- ver Schuld ist auch für den Mann vollziehbar, sie wirkt kommunika- tiv. Darüber hinaus kann auch der Arzt an dieser Schuldbewußtheit teilnehmen.

Auch die Trauer nach dem Ab- bruch ist dann für beide Ehepart- ner teilbar. Denn auch der Tod und die Tötung eines gemeinsa- men Kindes betrifft beide. Echte Anerkennung von Schuld geht Hand in Hand mit Trauerarbeit.

Auch hier ist darauf zu achten, daß wirkliche Trauer unterschieden wird von depressiver Verstim- mung, die oft mit Schuldgefühlen

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gepaart ist. Depression kann ein Begleitsymptom der Trauer sein, aber der Kern der Trauer hat nichts mit Depression zu tun.

Trauer bezieht sich auf die bewuß- te Trennung von diesem bestimm- ten Menschen, dessen Leben ge- tötet wurde.

Frauen mit dieser seelischen Hal- tung sind sehr bewußt lebende, verantwortlich denkende differen- zierte Persönlichkeiten, die ihr ei- genes Handeln einer klaren Kritik unterziehen. Sie sagen mir über- einstimmend sinngemäß: „Unter der Abtreibung damals leide ich – ich weiß, es war nicht richtig. Aber es war notwendig, und wahr- scheinlich würde ich es wieder tun, wenn ich wie damals in der gleichen Situation wäre!" Diese Frauen stehen zu ihrer Abtrei- bung, sie haben das Bewußtsein dafür nicht verdrängt. Sie leiden darunter, aber sie bilden keine Symptome im medizinischen Sinn, seien es psychovegetative Be- schwerden oder depressive Ver- stimmungen, die sie dann mit Hilfe von Psychopharmaka zudecken.

Ich möchte nochmals anders aus- drücken, warum ich die Bewußt- heit von Schuld für so wesentlich halte. Es hat nichts mit Strafe zu tun, auch nicht mit „das nächste Mal mußt du es aber besser ma- chen". Vielmehr ist es das Offen- halten des eigenen Bewußtseins für die Zukunft. Im Aushalten des schmerzlichen Bewußtseins wächst eine Kraft – eine Kraft, die für die zukünftige Lebensgestal- tung fruchtbar sein kann. Dieses Bewußtsein würde verdeckt durch den Gedanken: „Wenn ich diese Schwangerschaft nicht austrage, so will ich dafür in drei Jahren nach Abschluß meiner Ausbildung um so mehr Liebe dem nächsten Kind widmen" – dieser Gedanke verschüttet die Trauer, und damit bagatellisiert er auch die Wirklich- keit einer tatsächlichen Tötung. Er steigert unsere ohnehin schon grassierende Empfindungslosig- keit und unsere Armut an Emp- findsamkeit. Es ist unsere Chance, aus unserem Handeln beim

Schwangerschaftsabbruch unsere Sensibilität zu steigern – sonst schneiden wir uns selbst ab von den Quellen unserer Humanität.

Es dürfte selbstverständlich sein, daß ich die Fristenlösung des

§ 218 StGB befürworte: Nur bei echter Freiheit der Entscheidung kann sich echte Verantwortung verwirklichen – legalistischer Zwang macht verantwortungslos.

Literatur

Blechschmidt, E.: Wie beginnt das menschli- che Leben, 4. Aufl., Stein a. Rh., Christiana VIg., 1976 — Petersen, P.: Konzeption und Ur- sprung Sexualmedizin 9: (1980) 338-341 — Pe- tersen, Seelische Veränderungen nach Schwangerschaftsabbruch, Münch. Med.

Wschr. 123: (1981) 1 105-1 108 — Petersen, P.:

Verantwortete Dreierbeziehung, Zschr. Medi- zin-Mensch-Gesellschaft (Enke) Heft 4 (1982),

— Schwerdtfeger, J.: Das Erleben der frühen Schwangerschaft, Dissertation, Medizinische Hochschule Hannover, 1982 — Schindler, S.:

Geburt — Eintritt in eine neue Welt, Göttingen, VIg. Psychologie, 1982

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Peter Petersen Arbeitsbereich Psychotherapie im Zentrum Psychologische Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover

Pasteurallee 5 3000 Hannover 51

ZITAT

Bettenberg?

„Wie die bereits vorher unter Bettenmangel leidende Ver- sorgung der Patienten – teu- re Privatkliniken ausgenom- men – künftig mit weniger Einrichtungen gesichert werden kann, weiß nicht ein- mal der Westberliner Senat, der dafür verantwortlich zeichnet."

Aus einem Kommentar der Ostberliner Zeitung für Me- dizin und Gesellschaft „hu- manitas" über den „Sozial- abbau" in Westeuropa

Unfallverhütungs- vorschrift

„Gesundheitsdienst"

tritt in Kraft

Am 1. Oktober 1982 tritt die Unfall- verhütungsvorschrift „Gesund- heitsdienst" (VBG 103) in Kraft.

Sie löst die seit 1956 gültigen Unfallverhütungsvorschriften „Be- handlung, Pflege und sonstige Betreuung von Kranken und Sie- chen" (VBG 103 a) und „Medizi- nische Laboratoriumsarbeiten"

(VBG 114) ab.

Nach mehr als zehnjähriger Bearbeitung der Unfallverhü- tungsvorschrift „Gesundheits- dienst" im Fachausschuß „Ge- sundheitsdienst und Wohlfahrts- pflege" beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossen- schaften wurde ein Kompromiß gefunden, dem auch der Bundes- minister für Arbeit und Sozialord- nung seine Zustimmung erteilte.

Im Fachausschuß haben Vertreter der Gemeindlichen Unfallversi- cherungsverbände, der Staatli- chen Gewerbeaufsicht, der Ge- werkschaften (ÖTV und DAG), der Träger und Betreiber von Kran- kenhäusern, Vertreter der Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte mitge- wirkt. Nach mehrfacher Beratung in den ehrenamtlichen Organen der Berufsgenossenschaft für Ge- sundheitsdienst und Wohlfahrts- pflege (BGW) wurde die Unfallver- hütungsvorschrift in der Vertreter- versammlung der BGW am 27. Mai 1982 für die Mitgliedsbetriebe der BGW beschlossen und das In- kraftsetzungsdatum festgelegt.

Die Unfallve'rhütungsvorschrift wurde auch sehr eingehend im Hinblick auf Maßnahmen zur Ko- stendämpfung im Gesundheits- dienst geprüft.

Die Unfallverhütungsvorschrift ,,Gesundheitsdienst" regelt be- sondere Arbeitsverfahren in den Einrichtungen des Gesundheits- dienstes. Neben ihr gelten für alle Unternehmen weitere Unfallverhü-

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