Kunstkritik
Willkürliches Verstehen
Susanne Niemeyer-Langer: Der kreative Dialog der Künstlerin Niki de Saint Phalle. Eine psycho- dynamische Betrachtung. Ima- go. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2003, 173 Seiten, 16 meist farbige Abbildungen, kartoniert, 19,90 A
Eine psychoanalytische An- näherung an Niki de Saint Phalle, diese außergewöhn- liche Frau und begnadete Künstlerin, ist ein spannendes Projekt. Die Autorin geht mit einem originellen Ansatz her- an, der in der Psychoanalyse bisher wenig Beachtung fand:
Sie versucht, die Entstehung des kreativen Impulses in der aktuell gelebten Beziehung der Künstlerin zu orten, und sieht ihre künstlerische Ent- wicklung in der wechselseiti- gen schöpferischen Befruch- tung durch Jean Tinguely be- gründet – sie versteht jeden der Künstler als Muse des an- deren. Sie folgt darin Niki de Saint Phalle: „Die Männer in meinem Leben, diese Bestien, sie waren meine Musen. Das Leiden und meine Rache an ihnen, davon zehrte viele Jahre meine Kunst. Ich danke ihnen.“ Der „kreative Dialog“
ist folglich der stimmige Leit- gedanke des Buches, die Pas- sagen, die sich darauf konzen- trieren, so etwa „Le paradis fantastique – ein Liebeskampf der Kunst“, sind die gelun- gensten – informativ und anregend zugleich.
Das Buch richtet sich an Leser, die sich bereits zur Tiefenpsychologie bekennen, denn ansonsten können die von weit herkommend wirken-
den Interpretationen nicht im- mer überzeugen. Eine schlüs- sigere Ableitung, die sich verstärkt den Unbilden der Phänomene stellte, wäre wün- schenswert gewesen, sodass für den deutenden Zugang gilt:
Es könnte so sein, aber auch ganz anders. Derart trägt das Buch nicht zum interdiszi- plinären Dialog bei. Psycho- analytisches Setting und Kunstinterpretation oder gar Kunstkritik sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe.
Kunsthistoriker kritisieren seit Jahren diesen Trend inner- halb der Psychoanalyse als veraltet.Wenn moderne Kunst einen Kommentar erfordert, kann es nicht die Rolle psychoanalytischer Interpreta- tion sein, sich zwischen gym- nasialem Deutschleistungs- kurs und einer psycholo- gischen Spielart von Moral- theologie einzupendeln. Wer sich jedoch für Niki de Saint Phalle interessiert und auf die milieutherapeutische Wir- kung tiefenpsychologischen Jargons setzt, wird mit diesem Buch zu einem kreativen Dialog finden. Christian Maier
Medizingeschichte
Häufig tabuisiertes Thema
Dirk Schultheiss, Christian G.
Stief, Udo Jonas (Hrsg.): Klas- sische Schriften zur erektilen Dysfunktion. Eine kommentierte Sammlung von Originaltexten aus drei Jahrtausenden. ABW · Wis- senschaftsverlag, Berlin, 2004, XII, 236 Seiten, 150 Abbildungen, mit CD-ROM, 29,90 A
Kein Tag vergeht, an dem die E-Mail nicht mindestens ein Dutzend unerwünschter An- gebote zur Penisverlängerung oder zur Potenzsteigerung enthält. Die hier angezeigte Sammlung medizinischer Tex- te zum Thema „erektile Dys- funktion“ aus drei Jahrtau- senden (samt CD-ROM) ist allerdings nicht darunter.
Diese würde nämlich eine Bestellung durchaus lohnen.
Ein internationales Exper- tenteam (darunter namhafte
Urologen, Andrologen und Sexualwissenschaftler) haben 39 medizinhistorische Klassi- ker, die von der Sexualfunkti- on des Mannes und deren unterschiedlichen Störungen handeln, kommentiert.
Das früheste Textzeugnis stammt aus dem Papyrus- Ebers. Es ist ein Rezept, das die „Schwäche des männli- chen Gliedes“ beheben soll.
Die Behandlung erfolgte mit einer Salbe aus Bilsenkraut, Weide, Wacholder, Akazie, Christusdorn, Myrrhe, gel- bem und rotem Ocker. Der jüngste kommentierte Text, ein Artikel aus der Zeitschrift
„International Journal of Im- potence“, stammt aus dem Jahre 1989 und befasst sich mit dem Problem der Ver- änderung der männlichen Sexualität im Alter.
Dass bei diesem häufig tabuisierten Thema nicht nur medizinische Texte im enge- ren Sinne in die Auswahl auf- genommen wurden, sondern auch Beispiele aus der eroti- schen Literatur (zum Beispiel Ovid, Kamasutra) macht durchaus Sinn; denn diese sind wichtige Zeugen dafür, dass man über Erektions- störungen durchaus offen sprechen konnte. Robert Jütte
A
A1734 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 2411. Juni 2004
B Ü C H E R
Kulturgeschichte
Spannende Studie
Jessica Ullrich: Wächserne Kör- per. Zeitgenössische Wachsplastik im kulturhistorischen Kontext.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2003, 351 Seiten, 82 SW-Abbil- dungen, 4 Farbtafeln, 17 × 24 cm, Broschur, 49,90 A
Beginnend mit einer so mi- nutiösen wie faszinierenden Materialanalyse „Vom We- sen des Wachses“, eröffnet die Autorin in ihrer brillan- ten kulturgeschichtlichen Studie einen Zugang zum Verständnis der Wachspla- stik der Gegenwart. In sie- ben Kapiteln werden rund 40 künstlerische Positionen des 20. Jahrhunderts behan- delt und unter thematischen Leitbegriffen wie Vergäng- lichkeit, Fragment, Anato- mie, Heiligkeit und Simu- lakrum reflektiert. Dabei kommen Aspekte wie Tod, Krankheit, Konzepte des Selbst, Kopie und Original, Hyperrealität, Körperver- ständnis, die Rhetorik des Materials oder wächserne Reliquien zur Sprache.
Wen Ceroplastiken wie etwa „La Nona Ora“ (1999)
von Maurizio Cattelan mit der Darstellung eines durch einen Stein getroffenen, ver- letzt zu Boden gestürzten Papstes vielleicht irritierten, der erhält durch die Studie von Jessica Ullrich Material zur Verortung solcher Kunst- werke.
Doch auch abgesehen von den künstlerischen Gesichtspunkten, die für das 20. Jahrhundert mit dem vorzüglichen Werk erstmals umfassend gewürdigt wer- den, hat die spannende Stu- die derart viel Nützliches über die Kunst der Wachs- bildnerei auch älterer Zeiten (Votivgaben, Effigies, La Specola) aufzuweisen, dass sie für alle, denen ein tieferes Verständnis des Menschen und seines Körpers Anliegen ist, von großem Interesse sein dürfte. Matthias Mochner