V A R I A
Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 457. November 2003 AA2963
S
ie tanzen auf öffentlichen Plätzen, winken aus Mu- seumsshops und Buchlä- den und recken Museumsbe- suchern in aller Welt ihre ge- waltigen Rundungen entge- gen: die Nanas, Niki de Saint Phalles knallbunte Frauenfi- guren aus Papiermaché und Polyester. Kaum zu glauben, dass die heute eher harmlos anmutenden Plastiken vor dem Hintergrund der bürger- lichen Prüderie der frühen 1960er-Jahre Skandale aus- lösten, allen voran die rie- sengroße begehbare Nana„Hon“. Sie gewährte 1966 im Moderna Museet in Stock- holm 100 000 Museumsbesu- chern durch das große Tor zwischen ihren weit gespreiz- ten Beinen Einlass und erwarb damit
den Ruf der
„größten Hure der Welt“.Allzu sinnenfreu- dig ka- men
die Nanas daher und leisteten damit mancherlei Spekula- tionen Vorschub. War der Na- me der Künstlerin mit den phallischen Anklängen nicht höchst verdächtig? Von dem Straßenmädchen Nana in Emile Zolas gleichnamigem Roman hat die franko-ameri- kanische Künstlerin sich di- stanziert. Ihre Nanas waren Ausdruck der Freude und Sinnlichkeit nach einer Phase der Wut, für die sie bereits 1961 einige internationale Berühmtheit erlangt hatte.
Nachdem sie in Gegenwart von Freunden
und Kollegen in der Pariser Rue Impasse Ronsin am 12.
Februar 1961 ihre erste Schießaktion abgehalten hat- te, wurde sie auf Einladung des Kunstkritikers Pierre Re- stany erstes und einziges weib- liches Mitglied der Künstler- gruppe Nouveaux Réa- listes und zugleich gefragter Gast in zahlreichen interna- tionalen Fernseh- shows.Die Schießak- tionen waren spek- takulär und griffen aktuelle Tendenzen wie das Happening, den Kollektivge- danken und die Praxis der objets trouvés auf, also die künstlerisch modifizier- te Verwendung von Fund- stücken aus dem alltäg- lichen Leben im Kunstwerk.
Niki de Saint Phalle bat die Zuschauer, mit einem Gewehr auf ihre zuvor mit Flüssig- keiten und Gips präparier- ten Leinwände zu schießen.
Dabei spritzten die Farben, Eier, Nudeln und sonstigen Inhalte unkontrolliert über das Bild und vollendeten es zu einem einmaligen, unwieder-
holbaren Kunstwerk („Schießbild“).
Wenn Niki de Saint Phalle zum Ge- wehr griff, stilisierte sich das ehemalige Fotomodell selbst als Teil des Kunstwerks in weißem Hosenan- zug. Als Racheengel rechnete die ehe- malige Klosterschü- lerin und Autodidak- tin aus verarmtem französischen Land- adel mit der Gesell- schaft und ihrer per- sönlichen Geschichte ab: „Ich schoss auf:
Papa, alle Männer, kleine Männer, gro- ße Männer, bedeu-
tende Männer, dicke Männer, meinen Bruder, die Gesell- schaft, die Kirche, den Kon- vent, die Schule, meine Fami- lie, meine Mutter, auf mich selbst . . . ich schoss, weil mich die Beob- achtung faszi- nierte, wie das Gemälde blutet und stirbt.“
Mit dem Anspruch, das Autobiografische zum Politi- schen zu erheben, war sie der feministischen Bewegung vor- aus. Auf die spektakulären Schießaktionen folgte eine Phase der Rückbesinnung auf die Ursachen der Gewalt. Um 1963 entstanden „Huren“,
„Hexen“ und „Bräute“. Aus den aufgebrochenen Häuten der halbplastischen Figuren quoll der Ramsch der Waren- welt. Noch hatten sich die Fi- guren nicht von der Bildfläche gelöst, sondern hingen am Rücken auf den Leinwänden befestigt wie aufgespießte In- sekten. Wie schon in ihren frühesten Bildern weckt Niki de Saint Phalle archetypische Ängste in einer ambivalenten Welt voller Spinnen, Monster und Monstrositäten.
Mit ihren lebensbejahenden Nanas gelang ihr 1964 schließ- lich der Durchbruch zu einem neuen positiven Frauenbild.
Seit Beginn ihrer künstleri- schen Arbeit hatte Niki de Saint Phalle die Kunst als Mit- tel der Selbsttherapie ange- wandt, und immer waren es
persönliche Krisen, die sie zu neuen Formen inspirierten. Bis zu ihrem Tod am 22. Mai 2002 in San Diego, Kalifornien, hat die Künstlerin immer neue Ausdrucksformen gefunden.
Neben Malerei, Relief, Plastik und fantastischer Architektur entstand ein umfangreiches grafisches Werk, außerdem entwarf sie Möbel, Schmuck und andere Gebrauchswaren.
Dank ihrer großzügigen Schenkung besitzt das Spren- gel Museum Hannover eine der größten Sammlungen der Kunst Niki de Saint Phalles.
Unter dem Titel „Die Geburt der Nanas“ zeigt Kurator und Direktor Prof. Dr. Ulrich Krempel bis Mitte November Arbeiten aus den 60er-Jah- ren, anhand derer Niki de Saint Phalles künstlerische Entwicklung bis zur Erfin- dung der Nanas anschaulich wurde. Kleinere Teile des Konvolutes sind ständig in der Museumshalle zu sehen.
Bei einem Besuch des Mu- seums lohnt sich ein Ab- stecher zum Leineufer, wo die Künstlerin 1974 drei Riesen- nanas aus Polyester dauerhaft installierte. Elke Bartholomäus
Niki de Saint Phalle
Mit Gewehr,
Charme und Polyester
Niki de Saint Phalles Nanas in Hannover
Nana (petite Gwenolyn I), 1965
Copyright:VG Bildkunst,Bonn
Birth (Study for King Kong), 1963
Informationen:
Sprengel Museum Hannover Kurt-Schwitters-Platz 30169 Hannover Telefon: 05 11/16 84 38 75 Fax: 05 11/16 84 50 93 www.sprengel-museum.de Feuilleton