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argnägel für die Solidarität nannte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vor anderthalb Jah- ren Überlegungen der Opposition, den Leistungskatalog der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) in Grund- und Wahlleistungen zu unterteilen. Diese Diskussion wollte die Ministerin nicht aufkommen lassen – schon gar nicht vor der Bundestagswahl im Herbst 2002.Auch heute ist das Solidarprinzip nicht beerdigt. Doch lässt die gerade Gesetz gewordene Gesundheitsreform mit ihren zahlreichen Einschnitten erahnen, dass künftig verstärkt auf private Absi- cherung gesetzt wird.
Etwa 2,5 Milliarden Euro Ein- sparungen durch das Reformgesetz er- hoffen sich die Reformkoalitionäre von Rot-Grün und Union allein in die- sem Jahr durch Streichung ganzer Kostenblöcke in der GKV. Während die Übertragung versicherungsfremder Leistungen auf den Fiskus für den Ver- sicherten nicht spürbar ist, setzte der Gesetzgeber in anderen Bereichen, wie bei nicht verschreibungspflich- tigen Arzneimitteln und Fahrkosten, den Rotstift an. Ab dem nächsten Jahr müssen Versicherte Zahnersatz mit einem eigenen monatlichen Beitrag absichern. Von 2006 an wird den GKV- Mitgliedern ein Sonderbeitrag für die Gewährung von Krankengeld in Höhe von 0,5 Prozent abverlangt.
Politische Planspiele
Planspiele der Politik für weitere Lei- stungsausgrenzungen (zum Beispiel private Unfälle und Zahnbehandlung) existieren seit langem. Denn schon jetzt scheint klar: Neben der Debatte über Bürgerversicherung und Kopf- pauschalen dürfte die Frage nach dem Leistungsumfang der GKV zu den
großen Reformthemen der näheren Zukunft gehören.
Dabei ist die Sinnhaftigkeit umfang- reicher Streichlisten zumindest in der Wissenschaft umstritten. Einer Arbeits- gruppe aus Wissenschaftlern unter- schiedlicher Fachrichtungen um den Essener Philosophie-Professor Dr. phil.
Carl-Friedrich Gethmann gehen die bis- her vorgenommenen Einschnitte nicht weit genug. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet Gethmann gemeinsam mit elf Kollegen im Auftrag der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wis- senschaften an Reformempfehlungen für das Gesundheitswesen. Grundtenor des noch nicht veröffentlichten Papiers: statt Staatsgarantien mehr private Absiche- rung bei einer Mindestversicherungs- pflicht für alle. Zur Begründung führt das interdisziplinär zusammengesetzte Gre- mium nicht allein ökonomische Aspekte an, sondern bemüht auch ethische Begriffe wie Moral und Gerechtigkeit.So kritisiert Kommissionsleiter Gethmann,
dass im Rahmen moralischer Überlegun- gen in der Regel diskutiert werde, ob Ab- striche vom gegenwärtigen Leistungsni- veau zu rechtfertigen seien. Primär sei al- lerdings die Frage, inwiefern sich die For- derung nach einer Gesundheitsversor- gung für jedermann überhaupt rechtfer- tigen lässt.Wer grundlos von Arzt zu Arzt laufe, habe bisher keine Sanktionen zu erwarten, bemängelt Gethmann. Dabei müsse es auch „im Sozialen um Maß und Mäßigung gehen“.
Streichen kann teuer sein
Der Augsburger Volkswirtschaftler Dr.
rer. pol. Axel Olaf Kern warnt hingegen vor zu großen Erwartungen an Lei- stungsausgrenzungen. In einer für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stif- tung erstellten Studie kommt Kern zu dem Ergebnis, dass die Streichung von Leistungen auch Mehrkosten zur Folge haben kann. So lasse etwa der Wegfall des Zahnersatzes aus der GKV-Erstat- tung negative Auswirkungen erwarten.
Wenn Versicherte finanziell nicht in der Lage seien, sich privat abzusichern und deshalb notwendige zahnärztliche Be- handlungen nicht ausführen ließen, be- laste dies die GKV mit zusätzlichen Ko- sten. Mund- und Zahnerkrankungen schädigten mitunter den Organismus und führten nicht selten zu Magen- und Darmleiden. Statt ganze Leistungs- blöcke auszugrenzen, sei es sinnvoller, im Kleinen genau zu überprüfen, was von der Kasse bezahlt wird, so Kern. So würden auch Ärzte in ihren Möglich- keiten weniger stark beschnitten, was wiederum der Qualität ihrer Arbeit zu- gute käme.
Gänzlich verteufeln will Kern Lei- stungsausgrenzungen nicht. Vorteile wären, dass die Eigenverantwortung der Patienten gestärkt würde und individu- P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 105. März 2004 AA613
GKV-Leistungskatalog
Streichlisten statt Staatsgarantien
Die Frage nach Leistungsausgrenzungen dürfte künftige Reformdebatten prägen.
Über die Sinnhaftigkeit solcher Bestrebungen sind sich die Experten noch uneins.
Leistungsausgrenzungen würden auch die Arzt-Patient-Beziehung berühren.
Foto:Ute Grabowsky
elle Präferenzen der Versicherten mehr zum Tragen kämen. Zuvor müsse aber den Patienten „offen und ehrlich“ gesagt werden, welche Auswirkungen die Aus- grenzungen für sie hätten. Dafür sei unabdingbar, dass Transparenz auf dem Krankenversicherungsmarkt geschaffen werde. Folgekosten für die gesetzlichen Krankenkassen bei Nichtinanspruch- nahme von Gesundheitsleistungen müss- ten vermieden werden.
Hat die Politik mit dem GKV-Moder- nisierungsgesetz (GMG) ganze Kosten- blöcke aus der GKV-Erstattung gestri- chen, kommt bei der Überprüfung ein- zelner Leistungen dem neu gegründeten Gemeinsamen Bundesausschuss (wie auch seinen Vorgängergremien) eine zentrale Rolle zu. Seit dem 2. GKV- Neuordnungsgesetz von 1997 obliegt den Selbstverwaltungspartnern die Aufgabe, die vertragsärztlichen Leistungen auf ihren therapeutischen und diagnosti- schen Nutzen, ihre medizinische Not- wendigkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Negativ bewertete Leistungen dürfen nicht mehr zulasten der GKV verordnet werden. Für den stationären Bereich gilt dies seit dem 1. Januar 2000.
Kritik an Selbstverwaltung
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Lehr- stuhl für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, hat für die Hans-Böckler-Stiftung in einem zweiten Forschungsprojekt die Verfahren und Kriterien zur Bestimmung des GKV- Leistungskataloges untersucht. Sein Fa- zit: Im internationalen Vergleich sei be- sonders augenfällig, dass in Deutschland bei der Entscheidungsfindung zwischen ambulant und stationär getrennt werde.
Krankenhäuser könnten Innovationen problemlos einführen.Vertragsärzte hin- gegen bekämen Neuerungen nur be- zahlt, wenn diese vom Ausschuss positiv bewertet wurden. Diese Ungleichbe- handlung sei insbesondere mit Blick auf die Integrierte Versorgung kontrapro- duktiv. Positiv findet Wasem, dass mit dem GMG auch Patientenvertreter im Ausschuss sitzen. Trotzdem sei auch künftig mehr Transparenz bei den Ent- scheidungen nötig und eine verständli- che Übersetzung der Beschlüsse für die Patienten wünschenswert. Samir Rabbata
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A614 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 105. März 2004
KOMMENTAR
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ie man’s macht, macht man’s verkehrt“, dürfte sich so man- cher Vertragsarzt in den ver- gangenen Wochen gedacht haben.Noch vor zwei Jahren heftig dafür ge- scholten, zu viele so genannte umstrit- tene Arzneimittel zu verordnen und da- mit die Arzneimittelausgaben der ge- setzlichen Krankenkassen unnötig in die Höhe zu treiben, heißt es jetzt um- gekehrt, die Ärzte verordneten nicht- verschreibungspflichtige Arzneimittel – darunter viele umstrittene – viel zu re- striktiv.
In der Tat sind die Verordnungen rezeptfreier Medikamente zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Januar gegenüber dem Vor- jahresmonat um rund 70 Prozent zurückgegangen. Denn seit dem 1. Ja- nuar werden diese Präparate grund- sätzlich nicht mehr
von der GKV be- zahlt. Ausnahmen gelten für Verord- nungen bei Kindern bis zum vollendeten 12. Lebensjahr, bei Jugendlichen mit Entwicklungsstörun-
gen bis zum 18. Lebensjahr und für diejenigen rezeptfreien Präparate, die bei der Behandlung schwerwiegen- der Erkrankungen als Therapiestan- dard gelten. Welche Arzneimittel dar- unter fallen, legt der Gemeinsame Bundesausschuss bis zum 31. März fest. So will es das GKV-Modernisie- rungsgesetz.
In der Übergangszeit, bis die ver- bindliche Ausnahmeliste mit Indikatio- nen und Wirkstoffen vorliegt, müssen die Ärzte selbst entscheiden – und do- kumentieren, welches rezeptfreie Arz- neimittel sie warum ausnahmsweise auf Kassenkosten verordnen. Dazu Dr.
med. Leonard Hansen, im Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zuständig für Arzneimittelfragen: „Das Gesetz gilt seit 1. Januar und die Bot- schaft ist klar: Nichtverschreibungs- pflichtige Arzneimittel sind nur noch bei schwerwiegenden Erkrankungen verordnungsfähig, wenn sie zum Thera- piestandard gehören.“ Angesichts dro- hender Wirtschaftlichkeitsprüfungen und möglicher Regresse tun die Ärzte gut daran, den gegebenen Spielraum nicht zu überschreiten – einen Spiel-
raum, für den weder der Gemeinsame Bundesausschuss noch „Panik schüren- de“ Kassenärztliche Vereinigungen, sondern allein die Politik verantwort- lich ist. Diese ist aber offenbar nicht ge- willt, in der Öffentlichkeit für die Fol- gen ihrer Entscheidungen – höhere fi- nanzielle Belastungen der Kranken – einzustehen. Aufgeschreckt durch die Entrüstung der im Rahmen der Ge- sundheitsreform vielfach geschröpften Patienten, reicht die Politik den Schwarzen Peter weiter. So fordert die Patientenbeauftragte Helga Kühn- Mengel von den Ärzten ein großzügi- geres Verschreibungsverhalten. Der- weil übt Grünen-Politikerin Antje Voll- mer massive Kritik an den Entschei- dungen des Bundesausschusses zur Ausnahmeliste. In einem Kommentar in der Zeitung „Tagesspiegel“ bezeich- net sie es als „hoch bedenklich“, dass ein Großteil der Natur- heilmittel auf dieser Liste wohl keinen Platz finden wird.
Pflanzliche, homöo- pathische und antro- posophische Arznei- mittel müssten auch weiterhin zulasten der GKV verordnet werden können, fordert sie. Dabei hat nicht der Bundes- ausschuss, sondern der Gesetzgeber den Standard gesetzt. Und wenn Natur- heilmittel, die bei schwerwiegenden Erkrankungen nicht zum Therapie- standard gehören, partout auf die Li- ste sollen, muss man das ehrlicherweise auf die eigene politisch-ideologische Kappe nehmen.
Die Krankenkassen stoßen ins selbe Horn. Angesichts massiver Versicher- tenproteste kritisieren auch sie das restriktive Verordnungsverhalten der Ärzte. Offenbar will man die Kund- schaft nicht an die Konkurrenz verlie- ren. Unglaubwürdig wird die Position allerdings dann, wenn man gleichzeitig mit ungeschmälerten Einsparungen kal- kuliert und diese auch in den regionalen Verhandlungen über die Arzneimittel- ausgabenvolumina mit den KVen an- setzt. Wird jetzt aus purem Populismus die Ausnahme zur Regel, bleibt von den anvisierten Einsparungen nicht viel übrig. Laufen die Ausgaben dann wieder aus dem Ruder, dürfte der Schuldige bereits feststehen. Heike Korzilius