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Archiv "Hysterisches Getue" (24.10.2003)

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Blech: . . . der ja bei Ihnen im Deut- schen Ärzteblatt geschrieben hatte**– das habe ich aber auch zitiert, wie es sich gehört, nicht? Also, das British Medical Journal war noch eine ziem- lich gute Quelle. Dort war zum Beispiel ein Schwerpunkt zum Thema Medi- kalisierung veröffentlicht. Und bei Ih- nen lese ich immer ganz genau die Leserbriefe.

DÄ:Und was machen Sie damit?

Blech: Für das Kapitel „Neue Leiden alter Männer“ habe ich zum Beispiel ei- nen Ihrer Leserbriefschreiber angerufen, und der entpuppte sich als sachkundiger Endokrinologe. Das war ein hoch span- nendes Gespräch. Ein anderer hat mir

etliches zu Leitlinien erläutert. Er hat mir zum Beispiel erklärt, dass es für ein Medikament quasi ein Blankoscheck ist, wenn es in einer Leitlinie aufgeführt wird. Vieles, was mir Ihre Leserbrief- schreiber gesagt haben, habe ich notiert und im Buch präzisiert.

DÄ:Nun haben Sie ja selbst reichlich Leserbriefe von Ärztinnen und Ärzten auf den „Spiegel“-Artikel und Ihr Buch hin bekommen, noch dazu meist zustim- mende, sagen Sie . . .

Blech: Ja, vor allem von niedergelasse- nen Ärzten. Ich habe den Eindruck, die schreiben häufiger Leserbriefe. Viele scheinen schon einige Berufserfahrung zu haben und aus eigener Anschauung

zu wissen, wie und wann Krankheitsmo- den zustande kommen.

DÄ: Was hat Sie denn am meisten überrascht an den Zuschriften?

Blech: Man freut sich, wenn Leserbrie- fe anfangen mit „Herzlichen Glück- wunsch“ oder „Gratuliere“. Oder dass mein alter Deutschlehrer mir geschrie- ben hat und gratuliert. Meist bekommt man Leserbriefe, wenn man et- was falsch gemacht hat, und das ist auch richtig so. Aber es ist schön, dass es diesmal anders ist. Und der große Zuspruch von Ärzten hat mich wirklich gefreut.

DÄ:Keine Gegendarstellun- gen von Unternehmen, denen Sie unseriöse Einflussnahme vorwerfen?

Blech: Nein, keine Gegendar- stellungen. Und die kritischen Stimmen kommen von diesen scheinbar unabhängigen Pati- enten- und Lobbygruppen. Da geht es aber nicht um Falsches, sondern die schicken mir seitenlange Faxe mit ihrer Sicht der Dinge.

DÄ:Worüber haben Sie sich bei den Briefen am meisten geärgert?

Blech: Wenn man nicht auf meine Ar- gumentation eingeht, sondern beispiels- weise zum Thema Osteoporose schreibt:

Menschen, die Wirbelbrüche haben und nicht mehr gehen können, sind doch nicht erfundene Kranke! Das ist aber doch gar nicht meine Argumentation. Natürlich ist Osteoporose eine Krankheit – aber nicht, wenn man beschwerdefrei ist.

DÄ:Kommen wir mal auf das Thema Wissenschaftlichkeit. Sie verweisen gleich am Anfang Ihres Vorworts darauf, dass Sie kein Arzt sind, aber sehr wohl kom- petent genug als Autor. Warum?

Blech: Es gibt eine gewisse Arztgläubig- keit in der Bevölkerung. Das will ich gar nicht bewerten. Aber deshalb ist es bei so einem Buch wichtig, früh Ross und P O L I T I K

A

A2766 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003

Hysterisches Getue

Leser des Deutschen Ärzteblatts haben der Redaktion ihre Meinung zu Jörg Blechs Buch und dem „Spiegel“-Artikel geschrieben – ei- nige Auszüge: „Das höchst spannend zu le- sende Werk bietet sich auch uns Ärzten an, eben nicht nur um gewappnet zu sein auf Pa- tientenfragen, sondern insbesondere um ei- nen Eindruck von einer Phar-

mabranche zu bekommen, die nach immer neuen Geschäfts- feldern sucht“, lobt Dr. med. To- bias Gamberger aus Ulm „Die Krankheitserfinder“.

Dr. Wolfgang Baur aus Vie- nenburg hingegen findet, dass der Artikel im „Spiegel“ alle seine Vorurteile bestätigt: „Er lässt die eigentlichen Verursa- cher von Krankheit, ,life style’- Faktoren, unberücksichtigt, weil der ,Spiegel’ von genau deren Anzeigen lebt: Die mehr kg-Ge- wicht machen, die Raucher un- terstützen, die Autounfälle mit immer schnelleren Autos indu- zieren, die Alkohollebern ma-

chen . . . Stattdessen greift er die an, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, zu Ge- sundheit zu verhelfen und (welche Schande) damit auch Geld verdienen und Arbeitsplätze schaffen . . .“

Dr. med. Dirk Arenz aus Euskirchen weist dar- auf hin, dass es in der Medizin immer schon Er- krankungen gegeben hat, „die sich bei genauer Betrachtung als ,Fake’ entpuppten. In der Pari- ser Salpétrière des 19. Jahrhunderts wurden von dem berühmten Nervenarzt Charcot und seinen

Mitarbeitern bei den Patientinnen ,hysterische’

Krankheitsbilder erzeugt . . .“ Arenz sieht als Ursachen Therapeuten, die etwas Besonderes diagnostizieren wollten, aber auch „die Be- reitschaft vieler Menschen, lieber ,unverschul- det’ in eine Krankenrolle zu geraten als aus an- deren Gründen als dysfunktional zu gelten“.

Dr. med. Wieland Walther aus Kirchzarten findet, dass in Blechs Buch „vieles mit gutem Recht bemängelt wird. Ein Nachdenken über

unsere ,große Nähe zur Pharmaindustrie’ er- scheint dringend geboten.“ Außerdem könne

„das beinahe hysterische Getue ums Chole- sterin nicht mit ehrlichen Forschungsergeb- nissen begründet werden: Vor 50 Jahren lern- te ich, bis 250 mg/dl Gesamt-Cholesterin sei als normal anzusehen. Einige Jahre später wurde der Grenzwert auf 230, dann auf 220 und schließlich auf 200 herabgesetzt. Konse- quenz: millionenweiser Behandlungsbedarf mit Kosten in Milliardenhöhe.“

** Prof. Dr. med. Asmus Finzen: Pharma-Sponsoring. Wir dankbaren Ärzte, DÄ 12/2002. Blechs Thema behandelte schon ein Jahr vor der Bucherscheinung unter anderem Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner in „In der Fortschritts- falle“, DÄ 38/2002. Beide Aufsätze findet man auch unter www.aerzteblatt.de/archiv.

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Reiter zu nennen, also zu sagen: Das ist meine Kompetenz. Dazu kommt, dass in Ärztekreisen schon mal der Vorwurf erhoben wird: „Der ist doch kein Arzt.“

Ein Beispiel aus dem Deutschen Ärzte- blatt: Ein Autor von Ihnen, Klaus Koch, hatte einen sehr guten Beitrag zur Hor- monersatztherapie geschrieben. Und da fragte eine Leserbriefschreiberin: „Was ist Herr Koch? Ist er Arzt? Was bildet er sich ein?“ Das fand ich das Allerletzte.

Für mein Buch habe ich entschieden: Mit diesem Kunstgriff am Anfang entziehst du möglichen Einwänden die Basis.

DÄ:Ihnen ist schon sehr wichtig, dass das Buch wissenschaftlich solide ist.

Aber Sie sind Journalist und kein Wis- senschaftler, und Ihr Buch ist auch kein Wissenschaftsbuch.

Blech: Ich trete ja auch als Journalist an.

Und geschrieben habe ich es in etwa für „Spiegel“-Leser. Dazu zählen auch Fachleute.

DÄ:Ist manches aber nicht zu sehr zugespitzt oder vereinfacht? Wird man- che komplexe wissenschaftliche Diskus- sion nicht zu stark eingedampft?

Blech: Ich hatte natürlich eine Aus- gangsthese. Die braucht man, wenn man ein Buch schreiben will. Zuspitzen klingt immer so, als ob man etwas weg- lassen würde. Aber es geht darum, dass man sich einige gute Beispiele heraus- nimmt. Ich finde, mein Buch genügt wissenschaftlichen Ansprüchen.

DÄ:Ist dafür manches aber nicht zu einseitig dargestellt?

Blech: Wenn ich 100 Artikel im Archiv zu Osteoporose finde, dann interessie- ren mich natürlich die drei Artikel, in denen steht, wie die Krankheit damals umdefiniert worden ist. Der Rest hat mich nicht interessiert und ist auch nicht neu im Sinne meiner These.

DÄ:Im Vorwort behaupten Sie, es sei eine billige Ausrede, dass Menschen selbst nach Therapien verlangten.An an- derer Stelle schreiben Sie, dass von gut informierten Patienten sehr wohl gewis- ser Druck ausgeht. Das ist doch ein Wi- derspruch.

Blech: Sicher ist Menschen das Streben nach Gesundheit angeboren. Aber die Krankheitserfinder nutzen das aus. Ich

verlange eigentlich, dass der Arzt einem Patienten beispielsweise sagt: Lieber Patient, das ist eine experimentelle Sa- che mit dem Testosterongel, ich halte da nichts von. Das Wichtigste ist doch die ärztliche Überzeugung und nicht, was der Patient will.

DÄ:Aber es gibt doch Bereiche, wo die Erkenntnisse im Fluss sind!

Blech: Ja, aber ich bleibe bei meinem Vorwurf im Vorwort: Das Argument, die Menschen kämen selbst und ver- langten nach Therapien, ist eine Aus- rede. DÄ-Fragen: Sabine Rieser P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003 AA2767

V

on schräg oben betrachtet ist Deutschland – so stelle ich mir es vor – ein malerisches Miteinander sanfter Berge und weiter Ebenen, auf de- nen blitzblaue, mäandernde Flüsse hingetupfte, verträumte Städtchen umarmen, in denen eifrig vor sich hin wuselnde Menschen einvernehmlich ihrem Tage- und Nachtwerk nachgehen. Wie das tägliche Leben jedoch lehrt, treten mitunter im menschlichen Miteinander Friktionen auf. Aber es gibt ja eine Spezies, die sich auf ihre Fahnen geschrieben hat, derartige Kollisionen vorausschauend zu eliminieren: die Bürokraten. Das ist äußerst löblich. Die Komplexizität dieser Aufgabe lässt sich unschwer anhand der unendlichen Kilometer von Verwaltungs- und Rechtsvorschriften erken- nen, die die Republik zupflastern, Flüsse verstopfen und sogar Berge ver- schütten. Früher hatten sich die Ärzte diesem Regulierungswahn erfolg-

reich entzogen, bis ein paar gelangweilte Bürokraten entdeckten, dass es sich bei Assistenzärzten tatsächlich um Menschen handelte und somit zum Beispiel ein Weiterarbeiten nach erfolgreichem Nachtdienst strafrechtlich verfolgungswürdig sei. Auch das ist lobenswert. Ich kann mich noch gut an die vielen Falten in meinem zentralen und peripheren Nervensystem erin- nern, die 30 Stunden am Stück hineingeknittert hatten, und kein Bügeleisen der Welt hätte sie je glätten können. Der heutigen Jugend sei es von Herzen gegönnt – Assistenzärzte können jetzt in den Genuss eines geregelten, büro- kratisch verordneten Nachtschlafes kommen. Das wäre alles wunderschön, wenn nicht die Bürokraten vergessen hätten, entweder den Zustrom von Pa- tienten oder den Bedarf frischen Assistenzarztblutes in gleichem Maße er- folgreich zu regeln. Dieses Missverhältnis hat nun zur Folge, dass verant- wortungsvolle Ober- und Chefärzte, da ihnen keine Assistenten zur Verfü- gung stehen, sich aufopferungsvoll um die Nöte unserer Patienten kümmern.

Auch das ist wunderbar: Jeder Husten findet nunmehr eine habilitierte Hand, die ihm zu schlafestrunkener Zeit hilft.Aber auch dies ist, so fürchte ich, nicht von großer Dauer. Irgendwann einmal wird irgendein Bürokrat entdecken, dass es sich bei den Ober- und Chefärzten im Nachtdienst ebenso um Menschen han- delt. Die müssen demzufolge auch die Klinik verlassen, wenn es anfängt zu dämmern. Und damit können sich unsere leidgeprüften Patienten nachts nur noch an die Bürokraten wenden, die alle anderen in die Betten ge- schickt haben. Aber das hilft ihnen wenig. Die haben von Medizin keinerlei Ahnung. Dr. med. Thomas Böhmeke

Bürokratie

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