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ie Linie der Bundesregierung schien bisher klar: Die Zahl der Krankenkassen soll radikal redu- ziert und kassenartenübergreifende Fu- sionen sollen ermöglicht werden. So war es zumindest in einem Arbeitsent- wurf zur Gesundheitsreform vorgese- hen. Ob sich dieses ehrgeizige Vorha- ben auch in dem für Mitte Mai an- gekündigten Referentenentwurf wie- derfindet, bleibt jedoch abzuwarten.Nach Medienberichten könnte die Re- gierung zurückrudern und von Teilen ihrer Reformpläne abrücken.
Dabei hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch in seiner Regierungser- klärung vom 14. März 2003 im Bundes- tag betont, ein System mit 350 Kassen sei veraltet. „So viele werden es nicht bleiben.“ Ende letzten Jahres hatte be- reits Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt in einer Fernsehtalkshow er- klärt: „Mit 50 kämen wir genauso gut hin.“
Sollte es bei den bisher bekannt ge- wordenen Plänen der Regierung blei- ben, ist auch mit weitreichenden Konse- quenzen für die Ärzteschaft zu rechnen.
Dies gilt insbesondere, wenn künftig Einzelverträge zwischen Ärzten und Krankenkassen ermöglicht werden.
Mehr Qualitätswettbewerb unter den Kassen
Reichlich Anlass für Reformen gibt es, wie die prekäre Kassensituation und die steigenden Beitragssätze zeigen:
Für das Jahr 2002 ergab sich in der Ge- setzlichen Krankenversicherung (GKV) ein Defizit von rund 2,96 Milliarden Eu- ro; mit durchschnittlich 14,3 Prozent la- gen die Beitragssätze zu Beginn des
Jahres auf Rekordniveau. Mehr als hun- dert der überregionalen Krankenkas- sen mussten ihre Beiträge zudem zum Jahreswechsel erhöhen. Nach Informa- tionen des „Manager-Magazins“ waren davon 26 Millionen Kassenmitglieder betroffen.
Ulla Schmidt erwog bislang, mit den kassenartenübergreifenden Fusionen den „Qualitätswettbewerb“ unter den Kassen anzukurbeln. Davon versprach man sich im Bundesgesundheitsmini-
sterium „leistungsfähigere Strukturen“.
Dem im März bekannt gewordenen Ar- beitsentwurf zur Modernisierung des Gesundheitssystems zufolge könnten viele der kleinen Kassen den neuen
„Aufgabenübertragungen“ nicht mehr in „wirtschaftlicher Weise“ gerecht wer- den. Nur ein Zusammenschluss zu größeren Krankenkassen würde sie auf Dauer wettbewerbs- und leistungsfähig machen, hieß es dort. Deswegen müss- ten die „bisher ungenutzten Potenziale“
erschlossen und kassenartenübergrei- fende Fusionen ermöglicht werden. Ob dann mit sinkenden Kassenbeiträgen zu rechnen wäre und wie hoch diese aus- fallen könnten, wollte man im Ministe- rium allerdings nicht kommentieren.
Dass die Ministerin ihre Pläne mögli- cherweise noch einmal überdenkt, könnte auch daran liegen, dass sie wohl kaum auf die Unterstützung der Union hoffen kann. „Wir lehnen kassenar- tenübergreifende Fusionen klar ab“, sagte der Vorsitzende der Arbeitsgrup- pe Gesundheit und Soziale Sicherung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Storm, dem Deutschen Ärzte- blatt. Diese führten regional zu markt- beherrschenden Stellungen einzelner Kassen und würden so den notwendi- gen Wettbewerb blockieren. Sinnvoller sei es, so der Unionspolitiker weiter, den Konzentrationsprozess in den be- stehenden Kassenarten weiterlaufen zu lassen. Storm: „Wir brauchen Wettbe- werb zwischen leistungsstarken Kassen in jeder Region.“
Die Krankenkassen hoffen durch Fusionen Synergie-Effekte nutzen zu können. Unter Umständen ließen sich so Verwaltungskosten einsparen, die Kundenbetreuung verbessern und die Verhandlungsposition gegenüber den P O L I T I K
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A1322 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2016. Mai 2003
Gesundheitsreform
Bald deutlich weniger Krankenkassen?
Kassenartenübergreifende Fusionen in der Diskussion.
Kritiker befürchten verstärkte Monopolbildung.
Die bunte Kassenvielfalt könnte bald ein Ende haben.
„Die Regelung ermöglicht eine freiwillige Vereini- gung von Ortskrankenkassen, Betriebskranken- kassen, Innungskassen und Ersatzkassen auch über die Kassenartgrenzen hinweg. Hierdurch wird der Prozess der Bildung dauerhaft wettbe- werbs- und leistungsfähiger Einheiten dieser Krankenkassen und der Angleichung der Wettbe- werbsebenen der Krankenkassen beschleunigt.“
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„Kleine Krankenkassen sind jedoch nur be- schränkt in der Lage, diesen erhöhten Anforde- rungen in wirtschaftlicher Weise gerecht zu wer- den. Daher ist es wünschenswert, dass sich die Krankenkassen zu größeren Einheiten zusam- menschließen, die auf Dauer wettbewerbs- und leistungsfähig sind.“
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„Absatz 2 legt fest, welcher Kassenart die ver- einigte Krankenkasse zuzuordnen ist. [. . .] Maß- gebliches Kriterium für diese Zuordnung ist die Mitgliederzahl der an der Vereinigung beteiligten Krankenkassen an dem Tag, an dem die Genehmi- gung der Vereinigung beantragt wird. Da die mit- gliederstärkste der an der Fusion beteiligten Krankenkassen in der Regel den Fusionsprozess und das Erscheinungsbild der neuen Krankenkas- se maßgeblich prägt, soll die neue Krankenkasse der gleichen Kassenart zugeordnet werden, der auch die vor der Fusion mitgliederstärkste Kran-
kenkasse angehört hat.“ TBL
Auszüge aus dem Reformentwurf vom 13. März 2003
Leistungserbringern stärken, erklärte der Geschäftsführer des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung, Wilhelm F. Schräder. Mit Blick auf die USA fügt er hinzu: „Dort ist ein Markt- anteil von ungefähr 20 Prozent notwen- dig, um von den Leistungserbringern auf Dauer ernst genommen zu wer- den.“ In Deutschland könne man ins- besondere bei den Disease-Manage- ment-Programmen sehen, dass kleine Kassen mit deren Konzeption häufig überfordert seien.
Zusammenschlüsse ja – aber nur innerhalb der Kassenarten
Die Spitzenverbände der Krankenkas- sen – mit Ausnahme des AOK-Bundes- verbandes – äußern sich kritisch zu den Plänen der Gesundheitsministerin.
Einstimmiger Tenor der Be- triebs-(BKK), Innungs- und Angestellten-Krankenkassen:
Zusammenschlüsse ja, aber nur innerhalb einer Kassen- art.
So sieht es auch die bishe- rige Regelung vor. Als mit dem Gesundheitsstrukturge- setz von 1992 Kassenzusam- menführungen erleichtert wurden, nahm ihre Zahl rapi- de ab. Gab es damals noch mehr als 1 200 gesetzliche Krankenkassen, sind es der- zeit weniger als 350. Allein zum 1. Januar 2003 fusionier- ten weitere 25 Kassen.
Auch die BKK Rhein-Sieg und die BKK DuMont haben sich zum 1. Janu- ar des Jahres zusammengetan. Ziel der Fusion, so Rüdiger Schüller, Presse- sprecher der BKK Rhein-Sieg, war es, zu expandieren und ein „festeres Standbein“ im Kölner Umland zu ent- wickeln. Zwar glich sich der hohe Bei- tragssatz der BKK DuMont von 15,8 Prozent nach der Fusion auf den niedri- geren Satz der Rhein-Sieg von 13,8 Prozent an. Für die Mitglieder der BKK Rhein-Sieg, die 90 Prozent aller Mitglieder stellen, änderte sich damit jedoch nichts.
Ebenfalls Anfang 2003 vereinigten sich auch die Betriebskrankenkassen von Volkswagen und Post beziehungs-
weise Telekom zu der Deutschen BKK.
Vor der Fusion erhoben beide Kassen einen Beitrag von 13,8 Prozent. Mitt- lerweile ist dieser jedoch auf 14,3 Pro- zent gestiegen. Die Gründe hierfür lä- gen allerdings nicht in dem Zusam- menschluss, erklärte deren stellvertre- tender Vorstandsvorsitzender, Ralf Sjuts. In den nächsten fünf Jahren er- hofft er sich von der neuen BKK Bei- tragssatzsenkungen um ungefähr 0,4 Beitragspunkte.
Prof. Dr. med. Fritz Beske, Direktor des Instituts für Gesundheits-System- Forschung in Kiel, sieht in den Fusio- nen indes kein besonderes Potenzial für Beitragssenkungen. Das sei weder von kassengleichen noch von kassen- artenübergreifenden Fusionen zu er- warten. Beske: „Der Spareffekt durch einen Zusammenschluss ist nicht groß genug.“
Auch für die Ärzte dürfte sich mit den geplanten kassenartenübergreifenden Fusionen einiges ändern. Dann stehen wir vor einem „strammen Marsch in die Monopolbildung“, sagt der Vor- standsvorsitzende des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen, Herbert Rebscher. In der Folge würden sich die von der Politik anvisierten Einzelver- träge zwischen Ärzten und Kranken- kassen auf eine immer kleinere Zahl von Kassen beschränken. Dadurch wären die Ärzte auf Vertragsabschlüs- se mit den marktbeherrschenden An- bietern angewiesen. Für den Gesund- heitssystem-Forscher Beske wären die Kassen damit eindeutig die „Gewin- ner“: Diese könnten so ihre „Verhand- lungsmacht ausbauen“.
Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Hans Jürgen Ahrens, sieht hingegen bei kas- senartenübergreifenden Zusammen- schlüssen keine große Änderung für die bisherige Praxis. Schon jetzt sei die AOK als Vertragspartner für einzelne Ärzte „zu groß“. Bei einer Liberalisie- rung des Vertragswesens, erklärte der AOK-Chef gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt, „müssen sich die Ärzte Gedanken machen, wie sie sich orga- nisieren“. Bei den bisherigen kassen- arteninternen Fusionen fühlen sich die Ortskrankenkassen benachteiligt. An- ders als bei den anderen Kassenarten sind die Ortskrankenkassen bei einem Zusammenschluss auf die Zustim- mung der Bundesländer angewiesen.
Setze der Gesetzgeber sein Vorhaben nicht um, sollten zumindest die Wett- bewerbsvoraussetzungen identisch und „Fusionen ohne Staats- vertrag möglich sein“, for- derte Ahrens.
Genossenschaften und Medi-Verbünde
Eine ausufernde Macht mo- nopolartiger Kassenzusam- menschlüsse befürchtet Dr.
med. Manfred Richter- Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung (KBV), nicht, vorausgesetzt, dass es gleich- gewichtige Kassenärztliche Vereinigungen gibt. Ein unkoordinier- tes Nebeneinander von Einzel- und Kollektivverträgen hingegen lehnt der KBV-Chef strikt ab: „Je nachdem, wer gerade der Stärkere ist – Kassen oder Ärzte –, kann er den anderen erpres- sen: Ich kauf dich – aber zu meinen Preisen.“
Auch für den Fall, dass der Sicher- stellungsauftrag an die Kassen übertra- gen werden würde, gibt sich Richter- Reichhelm gelassen. Über Parallel- strukturen, wie zum Beispiel Genossen- schaften oder Medi-Verbünde, wäre man schon jetzt in der Lage, sich den Kassen als Gegengewicht zu stellen.
Wie ein „Airbag“ könnten diese bei ei- nem Wegfall der KVen die Folgen für die Ärzte abfedern. Timo Blöß P O L I T I K
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A1324 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2016. Mai 2003
Bundeskanzler Gerhard Schröder: Ein System mit 350 Kassen ist veraltet.
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