A 330 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 8|
20. Februar 2015KOMMENTAR
Dr. med. Georg Fischer, Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Der Jammer ist groß:
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bei der Wirtschaft wie bei den Krankenkassen, weil psychische Er- krankungen die zweithäufigste Begrün- dung für Arbeitsunfähigkeit darstellen – mit seit Jahren steigender Tendenz;●
bei Patienten, die auch in angeb- lich überversorgten Regionen, wenn überhaupt, nur über Wartezeiten Zu- gang zu psychotherapeutischer Betreu- ung finden beziehungsweise – seit Jahrzehnten unverändert – jahrelang in einem der (nach perpetuierter Selbst-einschätzung) „besten Medizinsysteme der Welt“ ohne angemessene Diagnose oder gar Therapie herumirren;
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bei der Ärzteschaft, die ein feh- lendes Angebot an einschlägig kundi- gen Kollegen und/oder das Schrump- fen der Quote psychotherapeutisch tä- tiger Ärzte gegenüber psychologischen Psychotherapeuten beklagt.Tatsächlich taucht in letzter Zeit in den berufspolitischen Veröffentlichun- gen, wenn auch eher unter „Vermisch- tes“, Besorgnis über das Schwinden ärztlicher Psychotherapie auf. Schade nur, dass die real existierende Ärzte- schaft in den 30 Jahren meiner psy- chosomatischen Arbeit nicht nur nichts getan hat, um solcher Entwicklung ent- gegenzuwirken, sondern zum Teil aktiv alles getan hat, um die entsprechenden Kollegen auszugrenzen: Eine altvordere Position beansprucht, dass ein appro- bierter Arzt quasi als Generalist selbst- verständlich auch in problematischen Seelenzuständen kundig sei.
Fortschreitende Differenzierung der Seelenheilkunde wird nicht als überfälli- ge Bereicherung für das diagnostische wie therapeutische Spektrum gewür- digt. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe: Der bewusste ist die Furcht vor zusätzlichen Essern am (kassen-)ärztli- chen Pfründetopf, unbewusst wehrt
man sich gegen die Bedeutung, die nicht „naturwissenschaftlich“ erklärba- ren Zusammenhängen bei Krankheits- entstehung und -aufrechterhaltung zu- kommt. Mit den eigenen Seelenhinter- und -untergründen will man ja selbst am liebsten nichts zu tun haben. (Wel- chem dieser Gründe der einst verbisse- ne Kampf gegen das Psychotherapeu- tengesetz zuzuschreiben ist, sei dahin- gestellt. Wahrscheinlich beiden.)
Offene und subtile Diffamierung psychotherapeutischer Kompetenz fei-
ert weiterhin fröhliche Urständ: Ob mir Patienten von abschätzigen Stellung- nahmen ihrer Haus- und Fachärzte zur Psychotherapie berichten oder ob an der Universitätsklinik, an der ich meine internistische Weiterbildung absolvier- te, der Medizinpsychologische Lehr- stuhl zur Abteilung eines epidemiologi- schen eingedampft wurde, weil die psychosomatischen Bewerber zu weni- ge harte Daten präsentieren könnten – allfällig zeigt sich die Stigmatisierung psychogenen Leidens auch in der ei- genen Zunft. Sie verstärkt die patien- teneigene Abwehr, ein „Psycherl“ zu sein: Lieber will man an einer „echten“
Krankheit leiden – und seien die ange- botenen, zum Teil invasiven, organme- dizinischen Angebote noch so irrefüh- rend bei der Heilssuche.
Nun sind mittlerweile psychosoma- tische Verstehensansätze immer un- abweisbarer auch naturwissenschaft- lich untermauert, wovon Psycho-Neu- ro-Immunologie sowie bio-psycho-so- ziale Forschungsergebnisse für jeden, der ausreichend guten Willens ist, be- redtes Zeugnis geben. Diese belegen immer deutlicher, wie unverzichtbar im existenziellen Verständnis der con- ditio humana neben dem cartesiani- schen Ansatz der der Psychologik in der Betreuung von Kranken ist, und
dass polare Unterscheidung von orga- nisch/seelisch, Soma/Psyche obsolet ist und nur eine Hilfskonstruktion zum Zweck von (unvermeidlich zerglie- dernder) Forschung und Didaktik dar- stellt. Dann allerdings hat man „die Teile in seiner Hand, fehlt leider(!) nur das geistig Band.“ (Goethe,
„Faust“)
Dieses wieder zu knüpfen, ist genui- ne Aufgabe der Psychosomatik mit ih- rem (auch) hermeneutischen Zugang zum Krankheitsgeschehen. Sie sollte in
allen Gebieten verankert sein, auch in den chirurgischen und den sogenann- ten kleinen Fächern, obwohl sie natür- lich mittlerweile als elaborierte „Spezia- lität“ selbst ein Fachgebiet ist. Ein sol- cher systemimmanent in jedes Fach gehöriger Platz müsste sich endlich auch angemessen in der Lehre wider- spiegeln: „State of the art“ ohne Psy- chosomatik gibt es nicht!
In vielen standespolitischen Sonn- tagsreden wird der „sprechenden Me- dizin“ Tribut gezollt – ohne echte prak- tische Konsequenzen. Die sogenannte psychosomatische Grundversorgung ist sowohl in der Fortbildung wie in der Praxis eher Augenwischerei und Ab- rechnungszubrot, taugt sie doch nur, soweit Zeit für die Begegnung mit dem Patienten bleibt. Die Kollegen aber, die
„organmedizinisch“ gut ausgebildet zusätzlich (und teuer selbstfinanziert) die notwendige psychotherapeutische Qualifikation und Gesprächskompetenz haben, bekommen immer noch – auch mit der schlechtesten Honorierung al- ler Fachdisziplinen in der „kollegialen Hackordnung“ – oben beschriebene Missachtung zu spüren. Wen wundert es da, dass die vielbeschworene
„Ganzheitlichkeit“ in paramedizinische Felder und psychosomatische Experti- se zur Psychologie abwandert . . . PSYCHOSOMATIK