Gut, dass der Autor im 14. Kapitel seines Buches eine Zusammenfas- sung des Begriffs der psychischen Krankheit bietet. In den vorherge- henden Kapiteln hat er das Thema tiefgründig und umfassend behan- delt und der Leserschaft eine ganze Menge abverlangt, indem er sie in Diskurse zu vielen Einzelheiten des Themas geführt hat. Dabei hat er das Thema in einer Differenziertheit be- handelt, die hier nicht ansatzweise dargestellt werden kann. Verschiede- ne Aspekte hat er mit Ideen der Phi- losophen Karl Jaspers, Max Scheler, Immanuel Kant, Martin Heidegger, Harry G. Frankfurt und besonders Helmuth Plessner diskutiert.
Ein tragfähiger Begriff der psy- chischen Krankheit integriert ver- schiedene Aspekte. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine Erkran- kung vorliegt, ist das subjektive Leid des Betroffenen. Vergleichba- re Leidenszustände treten aber nicht nur im Rahmen von Erkrankungen auf: Trauer beim Tod naher Ange- höriger, Gefühle der Demütigung bei sozialer Ausgrenzung oder Furcht angesichts der Endlichkeit des eigenen Lebens sind keine Krankheiten. Nur wenn wesentli- PSYCHISCHE KRANKHEITEN
Gegen die Pathologisierung des „Normalen“
che Organfunktionen beeinträchtigt sind, kann von Krankheiten gespro- chen werden, sonst handelt es sich um einen allgemein menschlichen Leidenszustand, der solidarischer Hilfe bedarf. Damit soll eine Patho- logisierung menschlicher Lebens- und Erlebensweisen vermieden und der Missbrauch psychiatrischer Di- agnosen verhindert werden. Hat ei- ne psychische Störung den Status einer Krankheit, ist die Solidarge- meinschaft zu Hilfe verpflichtet.
Wenn Andreas Heinz die Krite- rien „überlebenswichtig“ und „we- sentlich“ einführt, reduziert sich die Zahl der psychischen Erkrankungen drastisch. Während in derzeit gülti- gen Klassifikationssystemen mehrere Hundert Störungen als Krankheiten gelten, sieht der Autor im engeren Sinn lediglich exogene und endoge- ne Psychosen und Suchtkrankhei- ten als psychische Krankheiten.
Denn nur hier werden die für die Diagnose einer psychischen Krank- heit notwendigen Kriterien regelhaft erfüllt: Die Beeinträchtigung objek- tivierbarer, universell lebenswichti- ger Funktionen sowie das Vorliegen eines ausgeprägten Leidenszustan- des oder einer schweren Beeinträch-
tigung der sozialen Teilhabe. Der Autor rekonstruiert das Subjekt, wenn er feststellt, dass bei sozialen Rückzügen die Unterschiedlichkeit menschlicher Lebensführung beach- tet werden, keine allgemeingültigen Grenzen definiert werden können und damit entscheidend die Selbst- beurteilung des betroffenen Indivi- duums ist.
Der Ansatz von Andreas Heinz beeindruckt dadurch, dass er auf der einen Seite psychische Erkran- kungen anerkennt und ihnen folge- richtig Krankheitsstatus zuweist und auf der anderen Seite entschie- den die Pathologisierung des Men- schen (und des „Normalen“) zu- rückweist und damit die Vielfalt des menschlichen In-der-Welt-Seins verteidigt. Joachim Koch
Andreas Heinz: Der Begriff der psychischen Krankheit.
Suhrkamp, Berlin 2014, 371 Seiten, kartoniert, 18 Euro