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Von deutsch-brasilianischer Literatur zur Transkultur

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Von deutsch-brasilianischer Literatur zur Transkultur

Weltliteratur, Exil und Globale Archive

The present paper deals with the concepts of global literature, world literature and transcultural literature in the context of German-Brazilian literature. After a terminological discussion, it focuses on two case studies of intellectuals in Brazilian exile which illustrate the archival di- mension of the theoretical discussion, viz. the Jewish translator Herbert Caro and the artist Lasar Segall, thereby developing the concept of Global Archives.

Keywords: world literature – Global Archives – German-Brasilian literature – literature in exile – global networks of intellectuals

Einführung

Die Debatten um die globale Dimension von Literatur, die in den letzten Jahrzehnten in literatur- und kulturwissenschaftlichen Fachkreisen ge- führt wurden, haben zu einer Vielzahl von Begrifflichkeiten geführt, welche die Verschmelzung von Kulturen, Sprachen und Bewegungs- mustern genauer beschreiben. Unter den Begriffen Weltliteratur / world literature / Literaturen der Welt wurden Phänomene globaler Literaturre- zeption, literarische Wertungs-, Kanons- und Gültigkeitsbedingungen, Übersetzungen,1 ökonomische und verlegerische Rahmenbedingungen sowie (post)koloniale Transfer- und Kontaktprozesse beleuchtet.2 Es

1 In fast allen Theorien zur Weltliteratur spielt die übersetzerische Dimension eine mehr oder minder explizite Rolle. Vgl. David Damrosch: “Most literature circulates in the world in translation.” Damrosch, David: How to Read World Literature. New York: John Wiley & Sons ²2009. S. 83.

2 Vgl. hier stellvertretend die wegweisenden Arbeiten von Emily Apter, David Dam- rosch und Franco Moretti. Apter, Emily: Against World Literature. On the Politics of Un- translatability. London/New York: Verso 2014; Moretti, Franco: Conjectures on World Literature. In: New Left Review 1 (2000). S. 54-68; Damrosch, David: What Is World Literature? Princeton: Princeton University Press 2003. Gesine Müller stellt in ihrer ERC-Forschergruppe “Reading Global. Constructions of World Literature and Latin America” wirtschaftliche, verlegerische und materielle Zirkulationsprozesse in den Vordergrund: http://readingglobal.phil-fak.uni-koeln.de/25876.html. Letzter Zu-

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wurden Konzepte der Hybridität3 und der literarischen Globalisierung4 sowie inter- und transkulturelle Literaturtheorien diskutiert.5 Immer wie- der näherten sich die Forschungen zur Weltliteratur dabei den Exilstu- dien an, einerseits als naheliegende Verbindung zweier von Zirkulations- prozessen bestimmter Bewegungsmuster, andererseits mit der Frage nach der spezifischen Verbindung von Weltliteraturkonzepten und Exil- status.

Der vorliegende Beitrag beleuchtet anhand von zwei Beispielen an der Schnittstelle transkultureller und translingualer Austauschprozesse (mit einem Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Exil in Brasilien) die dreiecksartige Konstellation aus transkulturellen Zirkulationsprozes- sen,6 Poetiken der Bewegung7 und multilateralen Archiven. Gewählt

griff: 13.01.2018. Vgl. Auch Müller, Gesine: Literaturen der Amerikas und ihre Re- zeption in Deutschland. Weltliteratur als globales Verflechtungsprinzip. In: Dies.

(Hg.): Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanisch-deutsche Kulturtransfers zwischen interna- tionalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin: tranvía 2014. S. 117-132. Außer- dem: Müller, Gesine/Locane, Jorge/Loy, Benjamin (Hg.): Re-Mapping World Literature.

Writing, Book Markets, and Epistemologies between Latin America and the Global South.

Berlin/Boston: de Gruyter 2018. Zuletzt legte Sandra Richter mit ihrer Weltgeschich- te der Literatur ein Werk vor, das den Begriff Weltliteratur zwar explizit vermeidet, die globalen Zirkulationsprozesse von Texten und grenzüberschreitende Rezeptionspro- zesse, die den Begriff der Nationalliteratur in Frage stellen, indes minutiös nach- zeichnet. Richter, Sandra: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München: C.

Bertelsmann 2017.

3 Ottmar Ette und Uwe Würth fassen dabei den Begriff des cultural crossing als ein Durchqueren, “bei dem sich Gewohnheiten, Überzeugungen und Denkweisen Stichwort: travelling concepts – aufgrund von Migrationsbewegungen im kulturellen cross-over vermischen”. Ette, Ottmar/Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin: tranvía 2014. S. 7. Uwe Wirth führt als Ergänzung zum Hybriditätskonzept das von Jacques Derrida entlehnte Konzept der Propfung ein:

Wirth, Uwe: Nach der Hybridität: Propfen als Kulturmodell. Vorüberlegungen zu einer Greffologie. In: ebd. S. 13-35.

4 Vgl. zu Globalisierungskonzepten in der Literaturwissenschaft Amann, Wilhelm/

Mein, Georg/Parr, Rolf (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur: Konstellationen Konzepte – Perspektiven. Heidelberg: Synchron 2010. Vgl. auch Ette, Ottmar: TransArea.

Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin/Boston: de Gruyter 2012. Hier wird die Globalisierung in vier Phasen eingeteilt.

5 Vgl. Özkan, Ezli/Kimmich, Dorothee/Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kul- turenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript 2015.

6 Unter dem Terminus Zirkulationsprozesse werden in diesem Beitrag alle Bewegungen von Autoren, Texten und Rezeptionsvorgängen gefasst.

7 Ottmar Ette knüpft die Poetiken der Bewegung an sein Konzept der Literaturen ohne festen Wohnsitz. Sie sind nicht einem Kulturraum bzw. einer Nationalliteratur zuzuord-

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wurde die deutsch-brasilianische Literatur aufgrund ihrer lange zurück- reichenden Verflechtungsgeschichte und der herausragenden und bislang nur im Ansatz untersuchten Rolle, die das deutschsprachige Exil in Bra- silien8 einnahm. Am Beispiel des Literaturübersetzers Herbert Caro und des Künstlers Lasar Segall wird gezeigt, inwiefern die künstlerische Pro- duktion im Exil mit weltliterarischen und transkulturellen Konzeptionen verknüpft ist, die auf der Ebene der materialen Grundlagen die Idee von globalen Archiven geradezu notwendig werden lässt.

Zur Verbindung von Weltliteratur, Transkultur und globalen Archiven

Im Schicksal des Romanisten und Literaturtheoretikers Erich Auerbach, der vor dem NS-Regime zunächst nach Istanbul, später in die USA floh, zeichnet sich die Verschränkung von Exil und weltliterarischer Begriffs- geschichte ab. Auerbach, für den die Heimat des Philologen explizit nicht die Nation, sondern die Welt gewesen ist, wie er in seinem be- rühmten Aufsatz “Philologie der Weltliteratur” konstatiert,9 entwickelte sein weltliterarisches Konzept im Exil. Ette erkennt in Auerbachs Odys- seus-Rezeption eine Grundkonstellation, in der Odysseus’ Schicksal eines niemals Heimkehrenden und Auerbachs eigenes Schicksal als das eines vor dem NS-Regime geflohenen jüdischen Exilanten verflochten sind.10 Aus dieser zunächst singulär erscheinenden Ausgangssituation

nen, sondern speisen sich gerade aus den kulturellen Querungen, deren Vorausset- zung die Dynamik der Bewegung ist.

8 Vgl. Furtado Kestler, Izabela Maria: Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien. Frankfurt a.M.: Peter Lang 1992; Eckl, Marlen:

‘Das Paradies ist überall verloren’. Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus.

Frankfurt a.M.: Vervuert 2010; Neumann, Gerson Roberto: “Brasilien ist nicht weit von hier!”. Die Thematik der deutschen Auswanderung nach Brasilien in der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (1800-1871). Frankfurt a.M.: Lang 2005; Schulze, Frederik: Auswan- derung als nationalistisches Projekt. ‘Deutschtum’ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien (1824–1941). Köln: Böhlau 2016; Gertz, René: Imprensa e imigração alemã. In: Dreher, Martin N. et al. (Hg.): Imigração e imprensa. XV Simpósio de História da Imigração e Coloni- zação. Porto Alegre/São Leopoldo: EST 2004. S. 100-122; Bendocchi Alves, Débora:

Das Brasilienbild der deutschen Auswanderungswerbung im 19. Jahrhundert. Berlin: Wiss. Verl.

2000.

9 Auerbach, Erich: Philologie der Weltliteratur. In: Muschg, Walter/Staiger, Emil (Hg.):

Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Bern: Francke 1952. S. 39-50.

Hier S. 49.

10 Ette, Ottmar: Konvivienz – Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin: Kadmos 2012.

S. 24f.

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spinnt Ette das Paradigma der Literaturen ohne festen Wohnsitz, das nicht ausschließlich die Literatur und ihre Produktion, sondern vor allem auch die Literaturtheorie einschießt:

In ihrer oszillierenden, unterschiedliche regionale und nationale, aber auch kontinentale Literatursysteme beständig querenden Bewegung ha- ben die Literaturen ohne festen Wohnsitz einen Bewegungsraum zwi- schen Nationalliteratur und Weltliteratur aufgespannt, der es nicht er- laubt, sie aus der Perspektive einer einzigen Nationalliteratur, ja sogar einer einzelnen Area zu begreifen. Sie sind Poetiken der Bewegung verpflich- tet, deren Entfaltung in der Literaturtheorie uns noch bevorsteht.11

Einige Jahre später geht Ette gar so weit zu konstatieren, “der über- dachte, an sein Hauptwerk anknüpfende Entwurf einer Philologie der Weltliteratur wäre Auerbach ohne diesen Hintergrund eines Philologen ohne festen Wohnsitz und ohne nationalliterarische Verortung gewiss nicht möglich gewesen.”12 Ette geht wie andere Wissenschaftler13 davon aus, dass die Außenperspektive, i.e. der Blick auf die abendländische Literatur aus dem türkischen Exil mit Istanbul als ZwischenWelt14 an der Schnittstelle orientaler und okzidentaler Kultur, eine wesentliche Vor- aussetzung für Auerbachs zentrales Werk Mimesis und die später daraus entstehende Weltliteraturkonzeption bildet. Die literaturtheoretische Konsequenz dieser Sichtweise wäre die Zusammenführung von Theo- rien der Weltliteratur und Exilstudien.

Transkulturelle Muster in literarischen Texten scheinen dabei zum einen von allgemeinen Zirkulationsprozessen in einer globalisierten Welt bestimmt (Buchmarkt, Übersetzungen, globale Verlagsstrategien), zum anderen stehen sie in enger Verbindung mit den Bewegungsmustern der jeweiligen Autoren. Sie hängen aber auch mit der globalen Dimension der Textmaterialität zusammen. Das Konzept der Globalen Archive, das am Deutschen Literaturarchiv Marbach entwickelt wurde,15 transponiert

11 Ebd. S. 37.

12 Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: Metzler 2017.

S. 14.

13 Klemperer, Victor: Philologie im Exil. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Berlin: Akademie- Verlag. 1956. S. 224-229. Hier S. 225. Vgl. zur Thematik auch Konuk, Kader: Erich Auerbach in Istanbul: Exil als literaturkritische Distanz. In: Exil 31, H. 2 (2011). S. 33-41.

14 Vgl. zur Provenienz dieses Begriffs Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos 2005.

15 Vgl. Schmuck, Lydia: ‘Global Archives’ als neues Forschungs- und Erschließungskonzept: ein Projektbericht. Beitrag für die Jubiläumspublikation des AsKI anlässlich seines 50jähri- gen Bestehens [erscheint 2018]. S. 184-195.

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die globale und transkulturelle Dimension literarischer Texte auf die Archivebene, i.e. auf die materielle Ebene der Literatur. Die der Konzep- tion vorausgehende Debatte zwischen Zachary Leader und Marcel Lep- per zeigt dabei exemplarisch die verschiedenen Pole des Umgangs mit Autorennachlässen. Leader nimmt Bezug auf Philip Larkin und konsta- tiert: “Larkin wants English literary manuscripts in England because ‘I think they are more likely to be studied there, and studied with greater understanding’”16 und nimmt diese Forderung nach territorialer Einhei- tlichkeit als Ausgangspunkt für die Argumentation gegen eine Zersplitte- rung von Archivbeständen. Lepper hält dem die genuine Deterritorialität und Zirkulation von Archivdokumenten entgegen und verweist auf die zunehmend digitale Dimension von Archivalien: “The possibility of re- producing, transcribing, and editing literary manuscripts (as well as digi- tal-born [sic] objects) does not diminish the relevance of uniqueness.

Quite the contrary.”17 Er plädiert daran anschließend für eine multilatera- le Lösung.

Auf Basis dieses am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) ange- siedelten Projekts Global Archives18 soll die Implikationen dieser Sicht- weise verdeutlichen. Im Fokus stehen deutsch- und mehrsprachige Be- stände von Exilautorinnen und -autoren in internationalen Archiven, bis- lang vor allem in Israel, Lateinamerika (Argentinien, Brasilien, Uruguay), Großbritannien, der Türkei und China. Forschung und Erschließung sind dabei eng verzahnt; die Ergebnisse (Findbücher, Forschungsbeiträ- ge, Digitalisate) werden digital zur Verfügung gestellt und ermöglichen somit den Zugang zu bislang unbekannten und unerforschten Teilen der Exilgeschichte. Die genuine Mehrsprachigkeit und die Kreuzung globaler Linien in solchen multilateralen Projekten sind indes in der Archivland- schaft keineswegs einzigartig. Bereits 2009 hatte das DLA das umfang- reiche Siegfried Unseld Archiv (SUA) erworben, das die Archive des Suhrkamp Verlags, des Insel Verlags, des Jüdischen Verlags und des Deutschen Klassiker Verlags sowie Dokumente von bedeutenden Intel- lektuellen wie Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Samuel Be- ckett, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Octavio Paz, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig enthält. In den 1970er-Jahren legte der

16 Leader, Zachary: Cultural Nationalism and Modern Manuscripts: Kingsley Amis, Saul Bellow, Franz Kafka. In: Critical Inquiry 40 (2013). S. 160-193. Hier S. 168.

17 Marcel Lepper: Critical Response. Against Cultural Nationalism: Reply to Zachary Leader. In:

Critical Inquiry 41 (2014). S. 153-159. Hier S. 156.

18 http://global-archives.de/. Letzter Zugriff: 13.01.2018.

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Suhrkamp Verlag unter der Ägide von Siegfried Unseld ein ambitionier- tes lateinamerikanisches Programm auf, das zu großen Teilen für den Erfolg lateinamerikanischer Autoren (der sogenannten Boom-Gene- ration) verantwortlich war, darunter Isabel Allende, Mário de Andrade, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Clarice Lispector, Pablo Neruda und Mario Vargas Llosa. Unter den Dokumenten finden sich zahlreiche mehrsprachige Briefe, Übersetzungsmanuskripte sowie Korresponden- zen mit Verlegern, Literaturagenten und Autoren, die neben Lateiname- rika vor allem auch nach Osteuropa und in die USA weisen. Die globalen Linien dieser lokal aufbewahrten Bestände sind vielseitig: Sie betreffen multi- und transkulturelle Phänomene wie beispielsweise den deutschen Buchmarkt für lateinamerikanische Literaturen, Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen Fragen kultureller Übersetzungen sowie globale wirtschaftliche und verlegerische Fragen.

Nimmt man die globalen Dimensionen von lokal gesammelten mate- riellen Dokumenten zum Ausgangspunkt, werden die Prozesse der De- territorialisierung und des ZwischenWeltenSchreibens augenscheinlich, insbe- sondere wenn man an die Exilsituation der 1930er und 1940er-Jahre denkt. Die Exilantinnen und Exilanten ließen nicht nur ihre Sprache und Kultur zurück, sondern auch konkrete materielle Spuren wie ihre Bücher, Manuskripte und Korrespondenzen. Die meisten Exilschicksale schlos- sen dabei mehrere Transitstationen ein; manche Autorinnen und Auto- ren remigrierten nach Jahren, sodass die Autorenbibliotheken und Nach- lässe zerstreut sind. Von dieser materiellen Warte aus gesehen ist die von Ette postulierte Theorie einer Literatur der Bewegung geradezu un- ausweichlich. Literatur ist ein dynamischer Prozess jenseits des Paradig- mas einer Nationalliteratur. Sie entstand in der Bewegung – sie ist in Be- wegung und beinhaltet transkulturelle, translinguale und transspatiale Elemente.

Die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Brasilien

Die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Brasilien reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist Deutschland ein Auswanderungsland. Brasilien ist dabei nach den USA das wichtigste Ziel der Emigranten und nimmt zudem in den 1930er- und 1940er- Jahren eine Vielzahl von Emigranten auf. Im Jahr 2024 wird sich die Gründung der ersten deutschen Kolonie im südbrasilianischen São Leo- poldo, die in einer bis heute sichtbaren lokalen, kulturellen und sprachli-

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chen Verbindung resultiert, zum zweihundertsten Mal jähren. Umso er- staunlicher ist es, dass deutschsprachige Literaturen in Brasilien bislang nur ansatzweise und in höchst heterogenen Forschungskontexten mit punktueller Schwerpunktsetzung untersucht wurden und – abgesehen von wenigen prominenten Ausnahmen wie Stefan Zweig und Vilém Flusser – keinen Eingang in die deutschsprachige Literaturgeschichts- schreibung gefunden haben. Dabei finden sich in brasilianischen Archi- ven zahlreiche fiktionale Texte, die von deutschsprachigen Auswande- rern des 19. Jahrhunderts in Kalendern, Zeitschriften oder Almanachen veröffentlicht wurden, sowie ebenfalls gedruckte deutsch- und portugie- sischsprachige Texte von Exilanten des 20. Jahrhunderts. Die bekanntes- ten unter ihnen sind Leopold Andrian, Herbert Caro, Otto Maria Car- peaux, Ernst Feder, Paul Frischauer, Fritz Oliven, Anatol Rosenfeld, Paulo Ronai und Stefan Zweig. Neben den prominenten großen Archi- ven wie dem Martius Staden Institut und dem des Museu Lasar Segall in São Paulo oder der Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro finden sich vor allem in Südbrasilien einige Archive mit wichtigen deutschsprachigen Dokumenten, die bislang noch gar nicht oder kaum erschlossen und/

oder erforscht wurden.19

Im Zentrum dieses Beitrags stehen weniger klassische deutsch-brasi- lianische Exilautoren, die ihre literarische Produktion in deutscher Spra- che im Exil fortsetzten, sondern zwei Intellektuelle, die sich im ersten Fall als Journalist und Übersetzer, im zweiten Fall als Künstler einen Na- men machten, die aber aufgrund ihrer kulturellen Mittlerfunktion, der genuinen Mehrsprachigkeit ihrer Arbeitsweise und der aktiven Einbin- dung in transatlantische (Intellektuellen-)Netzwerke als fruchtbare Bei- spiele für eine in der Exilsituation entstehende Transkultur gelten kön- nen: Herbert Caro und Lasar Segall.

Herbert Caro: Übersetzung als weltliterarische Praxis

Der 1906 in Berlin geborene Herbert Caro floh, nachdem er als Anwalt Berufsverbot von den Nazis erhalten hatte, 1935 nach Porto Alegre, Brasilien, und arbeitete im Lauf seines Lebens als Anwalt, Tischtennis- spieler, Lektor, Journalist, Übersetzer und Musikkritiker. In kürzester Zeit erlernte Caro, der bis dahin vor allem die französische Sprache be- herrschte, das brasilianische Portugiesisch und wurde zu einem aktiven

19 Beispielsweise das Archiv Delfos: http://www.pucrs.br/delfos/ und das Instituto Cultural Judaico Marc Chagall in Porto Alegre (ICJMC): http://www.chagall.org.br/.

Letzter Zugriff: 13.01.2018.

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Mitglied der intellektuellen Öffentlichkeit in Südbrasilien. 1936 war er Begründer der Sociedade Israelita do Brasil (SIBRA) (Israelitische Gesell- schaft Brasiliens), die Juden bei der Emigration und anschließenden Inte- gration in die brasilianische Gesellschaft unterstützte. Nachdem er aus- reichende Portugiesischkenntnisse erworben hatte, nahm er eine Tätig- keit beim renommierten Globo-Verlag auf, wo er gemeinsam mit dem südbrasilianischen Autor Érico Veríssimo Fragen der Übersetzung und Veröffentlichung bedeutender Werke der Weltliteratur im berühmten

“Sala dos tradutores”20 anging. In den folgenden Jahren sollte aber vor allem seine Tätigkeit als Übersetzer bedeutsam werden. Caro übersetzte Thomas Manns Doktor Faustus, wofür er 1985 mit dem nationalen Über- setzerpreis (Premio Nacional de Tradução) des Instituto Nacional do Li- vro ausgezeichnet wurde,21 Elias Canetti, Hermann Broch, Lion Feucht- wanger und Max Frisch ins brasilianische Portugiesisch sowie die Lyrik Athos Damasceno Ferreiras, Augusto Meyers, Lila Ripolls und Paulo Ro- nais Der Kampf gegen Babel vom Portugiesischen ins Deutsche. Sein Nach- lass wird im jüdischen Kulturinstitut Instituto Cultural Judaico Marc Chagall (ICJMC) in Porto Alegre aufbewahrt.

Allein anhand des Aufbewahrungsorts lassen sich globale Linien auf- zeigen, die in den Schriften dieses Vertreters einer Transkultur zusam- menlaufen. Bislang größtenteils unbeachtet von einer deutschsprachigen Öffentlichkeit, werden im südbrasilianischen Archiv wertvolle deutsch- und mehrsprachige Dokumente aufbewahrt (der Nachlass enthält unter anderem Briefwechsel mit den von Caro übersetzten Autoren, u.a. Tho- mas Mann, Elias Canetti und Max Frisch). Die Dokumente weisen einen hohen mehrsprachigen Gehalt auf: Neben Deutsch und Portugiesisch, das für Caro zu einer Arbeitssprache wurde, findet sich vor allem Eng- lisch, da er auch englischsprachige Autoren, beispielsweise John Stein- beck, übersetzte. Seine Netzwerke waren dementsprechend nicht nur auf Porto Alegre begrenzte lokale deutsch-brasilianische Netzwerke, sondern globale intellektuelle Netzwerke. Davon zeugen beispielsweise die Briefe zwischen Caro und Thomas Mann, die zwischen Caros Exil im brasilia- nischen Porto Alegre und Manns Exil in Pacific Pallisades wechselten.

Die Briefe legen dar, wie intensiv Caro die Autoren am Übersetzungs- prozess teilhaben ließ:

20 Wörtlich: Übersetzersalon. In Anlehnung an die literarischen Salons trafen sich dort Lektoren, Übersetzer und andere Mitarbeiter, um aktuelle verlegerische Fragen und Übersetzungen zu diskutieren.

21 Darüber hinaus übersetzte er Manns Werke Der Zauberberg, Die vertauschten Köpfe, Die Buddenbrooks, Der Tod in Venedig und Tristan.

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Im Auftrag der Livraria do Globo in Porto Alegre übersetze ich zur Zeit Ihren Roman “Buddenbrooks”. Sie koennen sich denken, dass diese hoechst ehrenvolle Aufgabe keineswegs leicht zu loesen ist. Unter den bisher von mir ins Portugiesische uebertragenen Werken der Weltlitera- tur […] bin ich noch nie auf derartige Schwierigkeiten gestossen und dennoch kann ich sagen, dass mir noch nie eine Uebersetzung so viel Freude bereitet hat wie diese am “klassischen” Roman der deutschen Sprache.22

Caro hatte sich bereits zuvor hilfesuchend an Mann gewandt, um einen Rat zur Übertragung des Dialekts der Figur Alois Permaneder in den Buddenbrooks zu erhalten.23 Seine Lösung, nämlich die “Verwendung por- tugiesischen Lokalkolorits”,24 ist ebenfalls in den Briefen dokumentiert und wird von Caro in einem übersetzungstheoretischen Beitrag, den er 1995 unter dem von Guimarães Rosa entlehnten Titel Traduzir é conviver (Übersetzen ist Zusammenleben) veröffentlichte, reflektiert:

Na minha tradução dos “Buddenbrook”, de Thomas Mann, usei as dife- renças surgidas entre duas línguas pretensamente gêmeas, para traduzir um diálogo entre dois personagens, um cervejeiro da Baviera e uma dama de Lübeck, no norte do país, que não se entendem, embora ambos falem alemão.25

Bei seinen Überlegungen spielt indes nicht nur die translinguale Dimension eine Rolle. Auch die strategischen Details der transkulturellen Begegnung,

22 Herbert Caro an Thomas Mann, 14.10.1941. ICJMC, Porto Alegre. Abgedruckt als Documentos do Arquivo Herbert Caro Instituto Cultural Judaico Marc Chagall em Porto Alegre.

In: Revista Contingentia 2 (2007). S. 57-74. Hier S. 15. www.revistacontingentia.com.

Letzter Zugriff: 13.01.2018.

23 “Wenn der Konsul mit Karl Smolt Plattdeutsch spricht, so kann die Uebertragung dies umgehen, ohne dass das Buch allzuviel verloere; im Falle Permander jedoch ist der Dialekt zur Charakterisierung notwendig, weil sich eine Fuelle von Kontrasten gerade aus ihm ergibt. Ich wuesste gern, wie andere Uebersetzer, besonders in roma- nischen Sprachen, dieses Problem geloest haben, und waere Ihnen ausserordentlich dankbar, wenn Sie mir darueber Auskunft geben koennten.” Herbert Caro an Tho- mas Mann. ICJMC, Porto Alegre.

24 Caro in: Revista Contingentia. S. 71. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Insti- tuto Cultural Judaico Marc Chagall

25 Caro, Herbert: Traduzir é conviver. In: Cadernos Porto e Vírgula 9 (1995). S. 75-78. Hier S. 78. “In meiner Übersetzung von Thomas Manns Buddenbrooks habe ich die not- wendig vorhandenen Unterschiede zwischen zwei angeblich identischen Sprachen genutzt, um einen Dialog zwischen zwei Figuren zu übersetzen, einem bayerischen Bierbrauer und einer feinen Dame aus Lübeck, im Norden des Landes, die sich nicht verstehen, obwohl beide Deutsch sprechen.” [Übersetzung S.A.]

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die vor allem in neueren Debatten um weltliterarische Phänomene eine Rolle spielen, bedenkt Caro, wenn er die Rezeptionsbedingungen, Verlags- strategien und Gegebenheiten des literarischen Marktes reflektiert:

Gewiss ist in diesem jungen und vorerst traditionslosen Land vieles fremd, was in diesem ungewöhnlich deutschen und norddeutschen Buch enthalten ist. Mancher Leser wird in ihm etwas von dem Reiz exotischer Fremdheit finden, den auf den Europäer Schilderungen fremder Länder ausüben. Andere werden vielleicht darüber hinaus imstande sein, die psychologische Tiefe dieses herrlichen Romans zu erfühlen.26

Mit dieser aus einer augenscheinlich sehr eurozentrischen Perspektive formulierten Einschätzung, die koloniale Stereotype kaum hinterfragt übernimmt, stößt er bei Thomas Mann auf große Zustimmung:

Zwar ist hier in den Vereinigten Staaten die Wirkung des ‘Magic Moun- tain’ eine viel stärkere als die von ‘Buddenbrooks’, aber ich bin mit Ihnen überzeugt, daß der bürgerliche Roman für ein südamerikanisches und literarisch vielleicht weniger gut vorbereitetes Publikum leichter zugäng- lich ist und besser zu meiner Einführung als Schriftsteller dienen kann.27 Der Prozess der (kulturellen) Übersetzung schließt dabei nicht nur sprachliche Probleme der Ausgangs- und Zielsprache mit ein, wie es zu- nächst erscheint, sondern tangiert auch Fragen des literarischen Marktes, der Rezeption sowie Selbst- und Fremdbilder bei der Begegnung zweier Kulturen.

Im Briefwechsel mit Elias Canetti werden diese übersetzerischen Fragen noch intensiver und vor allem mit noch weitreichenderen Konse- quenzen diskutiert. Anders als bei den Buddenbrooks bereitete hier schon der Titel “Die Blendung” Schwierigkeiten. Am 26. November 1976 schreibt Elias Canetti an Caro:

Ich freue mich zu hören, dass die Übersetzung der “Blendung” schon so weit gediehen ist – eine schwierige Arbeit, für deren Bewältigung ich Ihnen grossen Dank schuldig bin.

Was den Titel betrifft, so ziehe ich “Auto da Fe” vor. Der Roman heisst jetzt in den meisten Ländern so; auch in Frankreich und den Vereinigten Staaten sind die späteren Auflagen so umbenannt worden. Nur dort, wo der Titel “Die Blendung” durch einen gebräuchlichen Ausdruck genau

26 Caro in: Revista Contingentia. S. 72f.

27 Thomas Mann an Herbert Caro, 05.05.1942. ICJMC Porto Alegre. Abgedruckt in:

Wysling, Hans (Hg.): Thomas Mann Selbstkommentare: ‘Buddenbrooks’. Informationen und Materialien zur Literatur. Frankfurt a.M.: Fischer 1990. S. 111.

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zu treffen ist, scheint es mir richtig, sich für diesen zu entscheiden. Über- all sonst dränge ich auf “Auto da Fe”, damit das Buch, das jetzt in immer mehr Sprachen übersetzt wird, etwas wie eine allgemein erkennbare Identität hat.28

Übersetzer und Autor lernten sich 1977 persönlich im Café “Kronen- halle” in Zürich kennen. Später verfasste Caro zahlreiche Artikel für die brasilianischen Feuilletons, um den Nobelpreisträger in Brasilien bekann- ter zu machen29, was eine gerade im lateinamerikanischen Raum schwie- rige Aufgabe war, da man 1981 – das Jahr, in dem Canetti mit dem Lite- raturnobelpreis ausgezeichnet wurde – fest mit Jorge Luis Borges als Preisträger gerechnet hatte. In Canettis Brief wird deutlich, dass die Übersetzung der Blendung keine deutsch-brasilianische Angelegenheit war. Vielmehr verbinden sich Fragen der Übersetzbarkeit bestimmter Termini mit Belangen des internationalen literarischen Marktes, der Selbstpräsentation seines Autors und seiner globalen Rezeption. Das Werk wird schließlich von Herbert Caro als Auto-de-fé ins brasilianische Portugiesisch übersetzt – in Anpassung an die portugiesische Sprache nahezu deckungsgleich zur englischsprachigen und französischen Über- setzung. Caros Übersetzungen sind zum Teil bis zum heutigen Tag in Gebrauch. Das zeigt die Neuauflage der Buddenbrooks aus dem Jahr 2016 beim Verlag Companhia das Letras.30 Im Nachwort fächert Helmut Gal- le den Entstehungskontext, philosophische Referenzen (Schopenhauer, Wagner), Begriffe wie Dekadenz und Determinismus sowie den histori- schen Hintergrund und die Erzählstruktur(en) für ein brasilianisches Pu- blikum auf.31 Die transkulturelle Praxis, die sich bei Caro vor allem in der übersetzerischen Tätigkeit, in der Einbeziehung des globalen literari- schen Marktes und in der Korrespondenz mit den Autoren zeigt, hat indes noch eine andere Dimension, die am Beispiel des Künstlers Lasar Segall deutlich werden soll: eine materielle und intermediale.

28 Elias Canetti an Herbert Caro, 26.11.1976. ICJMC, Porto Alegre.

29 Caro, Herbert: Elias Canetti. Prêmio Nobel desconhecido. In: Correio do Povo. 25.10.1981.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Instituto Cultural Judaico Marc Chagall und der Rechteinhaberin.

30 Mann, Thomas: Os Buddenbrook. Decadência de uma família. Trad. Herbert Caro. São Paulo: Companhia das Letras 2016.

31 Nachwort (posfácio) von Helmut Galle: Ebd. S. 681-704. Galle thematisiert auch Ca- ros Übersetzung. Ebd. S. 681, 684 u. 695.

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Lasar Segall und Jenny Klabin Segall:

Literatur und Kunst im Exil

Lasar Segall wurde 1889 in Vilnius geboren und studierte in Berlin und Dresden Kunst, bevor er 1923 nach Brasilien emigrierte, nachdem er das Land bereits einige Male besucht hatte, u.a. aufgrund eigener Ausstellun- gen. Seine Werke waren 1937 Teil der NS-Ausstellung “Entartete Kunst”

in München.32 In Brasilien lernte er nach eigener Aussage “o milagre da luz e da cor” (das Wunder des Lichts und der Farbe) kennen.33 Dement- sprechend stehen in den meisten Arbeiten über ihn seine Farbgebung sowie die individuelle Ausprägung des Expressionismus in seinen Wer- ken im Zentrum. Für die brasilianische Historikerin Maria Luiza Tucci Carneiro sind die Werke Segalls Meilensteine in der brasilianischen Kunstgeschichte, vor allem weil Segall es schaffe, die Metapher des Lei- dens in der Abwesenheit darzustellen, und stets zwischen zwei Welten oszilliere: Anwesenheit und Abwesenheit, Orthodoxie und Moderne.34 Er begleitete das Leiden der jüdischen Bevölkerung in Abwesenheit und setzte sich gleichzeitig mit seinem eigenen Judentum auseinander.35 Gro- ßen Ruhm brachte ihn sein Gemälde Navio de emigrantes (Emigranten- schiff), das eine Vielzahl von ärmlich aussehenden und teilweise spärlich bekleideten Menschen bei der Überfahrt auf einem vollen Schiff vor dem unruhigen Hintergrund des freiliegenden Ozeans zeigt.36 Während seiner

32 Tucci Carneiro, Maria Luiza: A Arte de Segall. In: Tucci Carneiro, Maria Luiza/Lafer, Celso (Hg.): Judeus e Judaísmo na Obra de Lasar Segall. Cotia, São Paulo: Ateliê Editorial 2004. S. 35-77.

33 http://www.arqshoah.com/index.php/personalidades/artistas-e-intelectuais/3786- aei-1-segall-lasar. Letzter Zugriff: 31.01.2018. Mit dem Projekt Arqshoah wird eine digitale Datenbank erstellt, die das Schicksal von jüdischen Exilanten auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus untersucht.

34 Tucci Carneiro: A Arte …, S. 36.

35 Schon wegen der diversen Pogrome in seiner Heimat (vgl. Tucci Carneiro: A Arte, S. 37) sowie der Aufnahme seiner Werke in die NS-Ausstellung “Entartete Kunst”

(1937) wäre es Segall unmöglich gewesen, bloßer Beobachter zu bleiben. Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Judentum auch seinen Aufsatz Jüdische Kunst und Jüdische Künstler von 1936.

36 Für Géraldine Meyer ist es vor allem der unbestimmte Grund auf dem schwanken- den Schiff, der für Segalls Werke typisch ist. Meyer, Géraldine: Lasar Segall – Die Kunst widerspiegelt Seele und Intellekt des Menschen, seine inneren Erlebnisse, seine Weltanschau- ung. In: Arnold, Sonja/Schmuck, Lydia (Hg.): (Ibero-)Romanisch-Germanische Zwischen- Welten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt. Berlin: Peter Lang [vor- aussichtlich 2018].

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Zeit in Deutschland war er Mitbegründer der Dresdner Sezession und stand auch nach seiner Übersiedlung nach São Paulo mit Wassily Kan- dinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger und Otto Dix in Kontakt. Neben diesen transatlantischen Netzwerken war er aber auch in der brasiliani- schen Exilgemeinde gut vernetzt, u.a. mit Stefan Zweig und Ernst Feder.

Seine Ehefrau Jenny Klabin Segall übersetzte Goethes Faust ins brasilia- nische Portugiesisch. Sein Nachlass befindet sich im Museu Lasar Segall in São Paulo. Die Korrespondenz ist dank einer Open-Access-Strategie komplett in digitaler Form zugänglich.37

Am Beispiel eines dort archivierten Briefwechsels mit dem Juristen und Journalisten Ernst Feder (1881-1964) lässt sich die transkulturelle Dimension von Segalls Netzwerken zeigen. Feder, selbst Exilant, war vor seiner Flucht Chefredakteur des Berliner Tagblatts. Nur durch seine engen Kontakte in diplomatischen Kreisen gelang es ihm, im Jahr 1941 noch ein Visum von Frankreich ausgehend für Brasilien zu erhalten. Er integrierte sich schnell und schrieb nicht nur für Exilzeitungen, sondern auch für diverse brasilianische Zeitungen und Zeitschriften, u.a. Jornal do Brasil. Er und seine Frau Erna zogen nach Petrópolis, wo er Freund- schaft mit Stefan Zweig schloss. Neben seinen Schriften zu Stefan Zweig – u.a. Stefan Zweigs letzte Tage – machten ihn vor allem seine Studien zur Brasilienrezeption bei Lessing und Goethe bekannt. 1957 kehrte auf Ein- ladung des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuß nach Deutsch- land zurück.38

Eine wichtige Funktion der brasilianischen Exilantennetzwerke war offenbar, sich gegenseitig zu Aufmerksamkeit zu verhelfen. So schrieb Ernst Feder Artikel über Lasar Segall für den Aufbau, das Argentinische Tagblatt und die Basler Nationalzeitung sowie Beiträge über die Faust-Übersetzung von Lasar Segalls Ehefrau Jenny Klabin Segall. Für letztere bedankt sich Lasar Segall explizit in einem Brief an Ernst Feder aus dem Jahr 1946:

Sie haben uns eine doppelte Freude bereitet, denn meine Frau bedankt sich auch wärmstens für die Verfassung des Artikels für die “Deutschen Blätter” und für die Veröffentlichung im “O Jornal”. Nicht allein für meine Frau, auch für den brasilianischen Leser ist es von grösster Wich- tigkeit, von einem so bedeutenden Goethe-Kenner Beobachtungen über ihre Übersetzung lesen zu können.39

37 http://mls.gov.br/acervo/index.php/busca. Letzter Zugriff: 13.01.2018.

38 Carol Colffield: Ernst Feder. http://www.arqshoah.com/index.php/personalidades/

artistas-e-intelectuais/ 5179-aei-103-feder-ernst. Letzter Zugriff: 13.01.2018.

39 Lasar Segall an Ernst Feder, 22.12.1946. Museu Lasar Segall, São Paulo. ALS 03309.

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Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade Goethe, der als einer der ersten Theoretiker der Weltliteratur gilt, unter den Exilanten eine so herausra- gende Stellung erlangt. Im Briefwechsel zwischen Lasar Segall, Jenny Klabin Segall und Ernst Feder stehen neben konkreten Übersetzungs- fragen vor allem auch Fragen der Verbreitung und Rezeption deutsch- sprachiger Texte im Aufnahmeland sowie die Steuerung des Leseverhal- tens des brasilianischen Publikums im Vordergrund. Feder, der später sein viel beachtetes Werk Goethes Liebe zu Brasilien veröffentlichen wird, sieht in der Bewerbung der portugiesischen Übersetzung von Goethes Faust das folgerichtige Erbe des von Goethe angestoßenen Kulturen- kontakts: “Sie sehen, Goethe hat so viel für Brasilien getan, dass Brasi- lien auch etwas für ihn tun muss.”40 Ausgangspunkt für diese transkul- turelle Begegnung war ein Brief Ernst Feders an Lasar Segall aus dem Jahr 1946. Sowohl der Briefeschreiber als auch der Empfänger sind in der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Der Brief findet sich in einem bra- silianischen Archiv und ist dank eines frei zugänglichen Digitalisats sowie des elektronischen Katalogs des Lasar Segall Archivs zugänglich. In die- sem kurzen Brief treffen in der Vorbereitung der brasilianischen Goethe- Rezeption nicht nur diverse globale Linien aufeinander, sondern vor allem auch die eingangs erwähnten Dimensionen einer Transkultur: welt- literarische Komponenten, verknüpft mit Exilstudien sowie einer neuen dezentralen Sicht von Archiven. Weitere Betrachtung würde im Fall Lasar Segalls die transkulturelle Komponente seiner Kunstwerke ver- dienen, die verschiedene nationale, kulturelle und sprachliche Horizonte vereint.41

Neben den künstlerischen Fragen, die Lasar Segall im Exil umtreiben, sind es vor allem auch politische und soziale Probleme sowie die Ausein- andersetzung mit der jüdischen Identität, die ihn bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren beschäftigen. Im Briefwechsel mit seiner Ehefrau Jen- ny Klabin Segall wird deutlich, dass die Segalls das politische Geschehen in Deutschland genau begleiten und die Presselandschaft ausgezeichnet kennen. Bereits im Jahr 1933 liefert Jenny Klabin Segall eine hellsichtige Einschätzung der Situation in Deutschland in einem Brief an ihren Ehe- mann Lasar Segall, der sich auf einer Ausstellungseröffnung befindet.

40 Ernst Feder an Jenny Klabin Segall, 23.09.1951. Ebd., ALS 04176. Abdruck aller Dokumente aus dem Museu Lasar Segall mit freundlicher Genehmigung des Museu Lasar Segall.

41 Vgl. Tucci Carneiro, Maria Luiza: Lasar Segall: Imigrante e artista-símbolo dos judeus na Diáspora: http://www.global-archives.de/fileadmin/redakteure/user_upload/Tucci- Carneiro_Segall_pt.pdf. Letzter Zugriff: 13.01.2018.

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Zunächst berichtet Jenny Klabin Segall von einem Ereignis, das sie der brasilianischen Presse entnommen hat: Kinder haben in einem deutschen Strandbad ein Hakenkreuz in den Sand gemalt, das kurze Zeit später zer- stört wurde. Das Verbrechen konnte natürlich nur von “verruchter un- bekannter jüdischer Hand”42 begangen worden sein, wie sie in ironi- schem Ton berichtet. Klabin Segall berichtet, wie sie in Brasilien mit Zei- tungen versorgt wird, u.a. der Jüdischen Rundschau, aber auch mit propa- gandistischen Materialien des NS-Staats. Einer “Nazizeitung” entnimmt sie eine Hetze gegen das Judentum, die sie bereits 1933 zur hellsichtigen Diagnose führt, der NS-Staat sei “Träger des jetzigen Geistes eines Lan- des, dem nie verziehen werden durfte, was es jetzt der Menschheit antut.

Wie lange, lange noch?”43 Von der konkreten Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Deutschland kommt Klabin Segall zur Rolle der Kunst: “Nicht immer ist die Welt ihrer würdig. Aber das macht nichts, wenn sie nur da ist und von dir geschaffen wird in ihrem Ewigkeits- wert.”44 Dem begrenzten “Wie lange […] noch?” wird in der Kunst ein Ewigkeitswert entgegengestellt. In seinem viel beachteten Kunstwerk Navio de emigrantes (Emigrantenschiff) von 1941 setzt sich Lasar Segall dann künstlerisch mit dem aus der katastrophalen politischen Situation resultierenden Exil und dem damit verbundenen Leid auseinander. Seine wenigen expliziten Äußerungen zu Nationalsozialismus und Holocaust gehen in einer Kunstkonzeption auf, welche die allgemeine und zeitlose Gültigkeit von Kunst über die aktuellen Ereignisse stellt.

In politisch aufgeregten Zeiten und während wirtschaftlichen Umwäl- zungen erscheint die Kunst als eine Nebensache der gegenüber sich die Mehrheit der Menschen völlig gleichgültig verhält und viele sie sogar, als überflüssig, überhaupt ablehnen. Trotzdem ist die Kunst dasjenige das die Menschheit in ihrem Unterbewusstsein veredelt und für eine Elite in einer unglücklichen und zerrissenen Welt der einzige Lichtstrahl ist.45

Der Fall des Künstlers Lasar Segall und seiner Ehefrau, der Übersetzerin Jenny Klabin Segall, zeigt diverse Bewegungslinien der Kunst im Exil.

Zum einen gilt den Exilanten Goethe und seine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen als Referenzfigur. In der konkreten Übersetzungspra- xis werden Anknüpfungspunkte an das brasilianische Publikum und den

42 Jenny Klabin Segall an Lasar Segall, 1933. Museu Lasar Segall, São Paulo. ALS 01687.

43 Ebd.

44 Ebd.

45 Lasar Segall: Manuskript (1940-1950). Museu Lasar Segall, São Paulo. ALS 06383.

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brasilianischen Markt gesucht – in diesem Fall vor allem, indem die gut funktionierenden Netzwerke der Exilanten herangezogen werden. Die Auseinandersetzung mit der Exilsituation führt zu neuen künstlerischen Praktiken. Segalls von der brasilianischen Kunst beeinflusster Expressio- nismus setzt sich aus dem Exil heraus mit den Geschehnissen in Deutschland auseinander. Zugänglich sind diese Informationen nur durch die vorbildliche Erschließung und digitale Zugänglichkeit der deutschsprachigen Korrespondenzen im Museu Lasar Segall.46

Fazit

Das Beispiel der deutschsprachigen Literatur in Brasilien hat gezeigt, dass unter dem Begriff einer Transkultur mehr zu verstehen ist als die Begegnung zweier Kulturen in Selbst- und Fremdwahrnehmung. Vielmehr bestimmen translinguale Fragen (u.a. der Übersetzung), transspaziale Elemente sowie Belange der Rezeption und des literarischen Marktes diese Begegnung.

Bedeutend sind dabei globale Netzwerke, die sich meist jenseits binärer Begriffspaare bewegen und Etikettierungen wie “deutsch-brasilianische Lite- ratur” geradezu hinfällig werden lassen. Dabei wird das Konzept der Dezen- tralität zum entscheidenden Motor, insbesondere wenn es um archivalische Grundlagen geht. Im Fall Herbert Caros spielen die eigene Exilsituation, die Kommunikation mit anderen Exilanten sowie das Changieren zwischen unterschiedlichen Sprachen und die Bedingungen des brasilianischen Mark- tes und der brasilianischen Rezeptionshaltung eine entscheidende Rolle für die Literaturübersetzung. Lasar Segall und Jenny Klabin Segall nutzen eben- falls die Exilantennetzwerke, um literarisch und künstlerisch produktiv zu werden. Die Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen in Deutschland resultiert in einer überzeitlichen Kunstkonzeption, die sich stofflich mit den Ereignissen in Europa auseinandersetzt und ästhetisch deutliche Züge des Expressionismus und des brasilianischen Modernismus trägt. Die Beispiele Herbert Caros und Lasar Segalls haben gezeigt, dass für eine fruchtbare Analyse transkultureller Begegnung weltliterarische Konzep- tionen, transkulturelle Literaturwissenschaft, Exilstudien sowie moderne Ar- chivtheorien zusammenkommen müssen. Es wäre wünschenswert, dass diese Forschungsfelder in der Zukunft enger zusammenarbeiten und zu neuen Begriffen und Konzepten jenseits von binären Lösungen finden.

46 Neben den deutschsprachigen Manuskripten und Korrespondenzen befinden sich im Archiv auch zahlreiche Briefe in französischer und portugiesischer Sprache, u.a.

Briefwechsel mit Mário de Andrade, Jorge Amado und Carlos Drummond de Andra- de auf Portugiesisch.

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