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Deutsch-russische Literatur. Ein Überblick

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Deutsch-russische Literatur . Ein Überblick

Von Natalia Blum-Barth, Mainz

Wie bei allen Bindestrich-Literaturen handelt es sich auch beim Begriff

„deutsch-russische Literatur“ um ein Konstrukt, ein Hilfsmodell der Litera- turwissenschaftler zur Ausdifferenzierung der beobachteten Tendenzen und Beschreibung ihrer Eigenschaften . Als gemeinsamer Nenner der Bindestrich- Literaturen gelten Sprache und Herkunft, die durch die Migration (eigene oder Eltern bzw . Großeltern) verschieden sind . Bei dem Begriff „deutsch-russische Literatur“ denkt man also an die auf Deutsch geschriebene Literatur von Auto- ren mit russischem „Hintergrund .“ Selbst wenn diese Autoren in Deutschland geboren wurden, laut Personalausweis Deutsche sind und die Heimat ihrer Großeltern nur aus dem Urlaub kennen, bleibt ihnen diese Bezeichnung nicht erspart . Denn das Unwort des statistischen Bundesamtes stempelt beinahe ein Viertel der deutschen Bevölkerung per definitionem zu „Menschen mit Mig- rationshintergrund“1 ab und scheint sich in das gesellschaftliche Bewusstsein einzementiert zu haben, ohne hinterfragt und reflektiert zu werden. Seltener werden zur deutsch-russischen Literatur Werke der Autoren gezählt, die in einem deutschsprachigen Land leben, aber auf Russisch schreiben . Für sie sind weiterhin die Begriffe „Exilliteratur“ und „Exilsautor“ vorbehalten . Die Zahl der AutorInnen, die im deutschsprachigen Raum leben und auf Russisch schreiben, ist schwer zu schätzen . Mit Sicherheit kann man behaupten, dass die meisten von ihnen Lyriker sind . Zu beobachten ist auch, dass viele männ- liche Autoren an der russischen Sprache festhalten, während Frauen sich für Deutsch als Literatursprache entscheiden . Abgesehen von dem allseits bekann- ten Wladimir Kaminer und dem in Österreich lebenden Vladimir Vertlib sind es hauptsächlich Autorinnen, die auf Deutsche schreiben .

1 Zu den Menschen „mit Migrationshintergrund“ zählen „alle nach 1949 in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland ge- bo renen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zu gewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ . Vgl . Statistisches Bundesamt Deutschland: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrations- hintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Erschienen am 4. Mai 2007. In: <https://

www .destatis .de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/

Migrationshintergrund2010220057004.pdf?__blob=publicationFile>, S . 6 . Zugriff am 28 .06 .2017 .

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I. Periodisierung der Emigration aus dem russischsprachigen Raum Im Fall der deutsch-russischen Literatur liegt eine historisch bedingte Kom- plexität vor, die in der Forschung kaum berücksichtigt wurde .2 Ihre Anfänge hängen nicht mit der Einwanderung der s .g . Gastarbeiter zusammen, sondern sind auf den Sturz des Zaren in Russland zurück zu datieren . Um den Folgen der russischen Revolution, insbesondere dem Roten Terror zu entkommen, flohen viele Intellektuelle nach Deutschland . 1920 erreichte die Zahl der Flüchtlinge einen Höhepunkt und begründete die erste Welle der Migration aus Russland nach Deutschland .3 Dass sie nach Deutschland flohen, hatte einen einfachen Grund: für viele war es die Heimat ihrer Vorfahren. Hier wird deutlich, dass deutsch-russische Literatur eine Vorgeschichte hat, die mit der Migration der Deutschen, aber auch anderer Westeuropäer, ins zaristische Russland bereits im 16 . Jahrhundert begann .

1652 gilt als das Errichtungsjahr von „nemezkaja sloboda“, einer Aus- ländervorstadt von Moskau . Dort ließen sich Wissenschaftler, Kaufmänner und Handwerker nieder, die auf Einladung russischer Zaren und Fürsten einem Arbeitsauftrag gefolgt waren . Da die ersten Universitäten in Russland recht spät gegründet wurden, mussten auch Ärzte, Lehrer, Architekten und Ingenieure aus dem Ausland beschäftigt werden . Insbesondere Peter I, dem der Fortschritt Russlands am Herzen lag, war ein Dauergast im Ausländerviertel . Dort lernte er Fremdsprachen, den technischen Fortschritt schätzen und seine Geliebte kennen . In seiner Regierungszeit wurden Ausländer zu Generälen (Patrick Gordon) und Admirälen (François Le Fort) befördert, reformierten die Verwaltung, eröffneten die erste Apotheke und gründeten Verlage .4 Weitere Errungenschaften auf den Gebieten der Literatur und Kultur waren nur eine Frage der Zeit . Zahlreiche Übersetzungen aus den westeuropäischen Sprachen

2 Die historisch-gesellschaftliche Entwicklung verlief „prinzipiell unter anderen histori- schen Bedingungen“ als die „Gegenwartsliteratur in der europäischen Literaturgeschichte nach 1945“. Vgl. Ljubow Kirjuchina: Sowjetdeutsche Lyrik (1941–1989): zu den Themen

„Muttersprache“ und „Heimat als narrativer Identitätsakt“ . Wiesbaden 2000, S . 25 . 3 „Es kamen Russen, deren sozialer Status und weltanschauliche Überzeugungen das Leben

im Land des siegreichen Proletariats gefährlich machten.“ Elena Tichomirova: Literatur der russischen Emigrant/innen. In: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch.

Hrsg . von Carmine Chiellino . Stuttgart 2007, S . 166–176, hier S . 166 . Ausführlich zur Geschichte der Einwanderung aus dem russischen Sprachraum vgl . Barbara Dietz, Heike Roll: Die Einwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. In: Handbuch des Russischen in Deutschland: Migration – Mehrsprachigkeit – Spracherwerb. Hrsg. von Kai Witzlack-Makarevich, Nadja Wulff . Berlin 2017, S . 101–115 .

4 Vgl. Hartmut Moreike: Mocквa und die Moskauer. BoD 2017, S. 125. Vgl. auch Rupprecht S. Baur, Christoph Chlosta, Heike Roll: Zur Geschichte der Russlanddeutschen. In: Hand- buch des Russischen in Deutschland: Migration – Mehrsprachigkeit – Spracherwerb. Hrsg.

von Kai Witzlack-Makarevich, Nadja Wulff . Berlin 2017, S . 81–100 .

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ins Russische stammen aus der Feder dieser Ausländer und ihrer Nachkommen . Und nicht nur Übersetzungen: Das Bedeutungswörterbuch der lebendigen, großrussischen Sprache, dessen erster Band 1861 erschien, wurde von Wladi- mir Iwanowitsch Dal zusammengestellt . Der Lexikograf und Schriftsteller Dal wurde 1801 in der Familie eines dänischen Linguisten und Arztes und einer Deutschen geboren . Dieses Beispiel soll genügen, um zu illustrieren, wie inte- griert, stellenweise assimiliert die Kinder und Enkelkinder dieser Emigranten wurden . Ob der Satiriker Denis Fonwisin oder die Dichter Anton Delwig und Afanassi Fet – für sie war es selbstverständlich, auf Russisch zu schreiben .

Neben diesem Braingain benötigte Russland auch Bauern für die unter- entwickelte Landwirtschaft, insbesondere in den dünnbesiedelten Gebieten . Deshalb veröffentlichte die Zarin Katharina II . 1763 ein Einladungsmanifest, das primär an Landwirte und Handwerker gerichtet war . Damit begann die Masseneinwanderung der durch den Siebenjährigen Krieg verarmten Bauern aus Nordbayern, Baden und Hessen in die russische Steppe . Dort fanden sie jedoch nicht das gelobte Land vor, sondern karge, für die Landwirtschaft un- geeignete Steppe, hartes Klima und Nomaden als feindliche Nachbarn . Auch die verheißenen Privilegien ließen häufig auf sich warten. Doch kein Weg führte zurück . Angesichts der Widrigkeiten der neuen Lebensumstände war der Zusammenhalt der Einsiedler überlebenswichtig . Zunächst war keine kul- turelle, sondern existentielle Anpassung an der Tagesordnung. Außerdem: an wen sollte man sich in kaum besiedeltem Gebiet anpassen? Fern der Urbanität, geschweige denn der russischen Hauptstadt, wurden die deutschen Einsiedler zu einer Enklave und bauten mit der Zeit aus eigenem Antrieb viele Strukturen wie Verwaltung und Schulen auf .

Während die Einwohner von „nemezkaja sloboda“ die russische Spra- che erlernten, Karriere machten und geadelt wurden, was ihre Assimilation förderte, blieben die Einsiedler im Wolgagebiet unter sich und in der Natur und pflegten ihre eigene Sprache und Religion, solange Zaren, Fürsten, Re- volutionäre und Kommunisten sie das machen ließen . Diese unterschiedliche Lebenssituation manifestierte sich später in literarischen Texten. Empfindsame Naturbilder und beinahe botanisch ambitionierte Pflanzenmetaphern funken aus den konservativ gehaltenen Versen in konserviert anmutendem Deutsch der Wolga-Deutschen, während den Texten der Städter verschraubte Gelehr- samkeit, ein dichtes intertextuelles Netz und ein Faible für die Volkssprache der Russen und ihre Folklore bescheinigt werden können .

Doch die Geschichte rumorte, der Erste Weltkrieg stand vor der Tür . Wa- ren die Russlanddeutschen in den 70er und 80er Jahren des 19 . Jahrhunderts nicht nach Kanada, Argentinien oder Südamerika emigriert und konnten sich

‚die neuen Russen‘ nach dem Sturz des Zaren nicht in die Heimat ihrer Vor- fahren retten, so begegneten sie sich beim sibirischen Frost im Hohen Norden Russlands .

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Im Vergleich zu den späteren Wellen zeichnete sich die erste Emigration nach Deutschland laut Kasack durch eine hohe Zahl von SchriftstellerInnen aus .5 Die meisten von ihnen schrieben weiterhin auf Russisch, aber drei Auto- rInnen – Fedor Stepun, Wladimir Lindenberg und Alja Rachmanowa – ent- schieden sich für Deutsch als ihre Literatursprache bzw . schrieben in beiden Sprachen. Diese drei hätten laut Kasack einen „besonders starken Einfluß auf das Denken in Deutschland, wenn man die Zahl der Bücher und das Wirken in Vorträgen als Maßstab wählen kann“6, ausgeübt . Ihr literarisches Schreiben wird von autobiografischen Inhalten dominiert und hat einen Erinnerungs- charakter . Rachmanowas Schilderungen des Roten Terrors im Buch Studenten, Liebe, Tscheka und Tod korrespondieren beispielsweise mit den Erinnerungen in Wladimir Lindenbergs Tri doma und der Autobiographie Speak, Memory von Wladimir Nabokov, der nach seinem Studium in England bis 1938 in Berlin lebte und auf Russisch unter dem Pseudonym Wladimir Sirin veröffent- lichte . Alle diese Texte thematisieren Chaos, Anarchie und Hunger nach der Revolution 1917 .

Die Emigranten der zweiten Welle verließen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges oder unmittelbar danach . Viele von ihnen wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert und blieben aus Angst vor Repressalien, die sie im Falle einer Rückkehr befürchten mussten . Zwei der bekanntesten Autorinnen, deren Eltern als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurden, sind die 1946 geborene und heute in England lebende Marina Lewycka (A Short History of Tractors in Ukrainian, Two Caravans, We Are All Made of Glue, Various Pets, Alive and Dead) und Natascha Wodin . Die 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Wodin kam 1945 in Fürth auf die Welt und verbrachte ihre Kindheit – wie auch die Ich-Erzählerin ihres autobiografischen Romans Einmal lebt ich – in einer Flüchtlingssiedlung am Stadtrand, eine Außenseiterin im bundesdeutschen Wirtschaftswunderland der Nachkriegszeit . Das Mädchen, das mit knapp zehn Jahren seine geliebte Mutter durch den Freitod verlor und den Alkohol- und Gewaltexzessen seines einst musikalisch talentierten, nun absolut frustrierten

5 Wolfgang Kasack: Drei Wellen der russischen Schriftsteller-Emigration in Deutschland. In:

Ders.: Die russische Schriftsteller-Emigration im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte, den Autoren und ihren Werken. München 1996, S. 12. Ferner dazu auch: Elena Tichomi- rova: Literatur der russischen Emigrant/innen. In: Carmine Chiellino (Hrsg.): Interkultu- relle Literatur in Deutschland . Ein Handbuch . Stuttgart 2000 (2007), S . 166–176; Weertje Willms: „Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett.“

Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren. In:

Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hrsg.): Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven . Bielefeld 2012, S . 121–141, insbesondere Fußnote 5, S . 122–123 .

6 Kasack (s . Anm . 5), S . 24f .

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und verwahrlosten Vaters ausgeliefert wird, trotzt ihrem Schicksal und will unbedingt zu jenen gehören, die sie ausgrenzen und beschimpfen:

Für mich war in der deutschen Provinz der fünfziger und sechziger Jahre von alldem das Wort „Lusch“ übriggeblieben, „Lusch“ und „Russin“ – das war für die, die mich so nannten, ein und dasselbe Wort, das Wort für die Kombination des Russischen und Weiblichen in mir, von einem bestimmten Alter an richtete sich die Verachtung meiner Herkunft gegenüber fast nur noch gegen mein Ge- schlecht […]7

Zentrale Aspekte des Themas Frau in der Fremde, wie Körperlichkeit, Ge- schlecht und Geld, Gerechtigkeit und Ausbeutung, die Wodin in ihrem Buch Einmal lebt ich ansprach, werden Jahrzehnte später von vielen schreibenden Migrantinnen fortgesetzt, insbesondere von Irena Brežná (Die undankbare Fremde) und Julya Rabinowich (Diana) . Auch das Nachdenken über die neue Sprache, wie ihre mangelnde Kenntnis die Persönlichkeit verändert, fremd und krank macht, verunsichert und sogar das literarische Schreiben in Frage stellt, wurde von Natascha Wodin angestoßen und später von vielen in die deutsche Sprache eingewanderten Autoren und insbesondere Autorinnen fortgeführt .

„Russensau“, „Russenweib“, „Lusch“, „Russenslusch“ – Wörter aus der Sprache, in der ich diese Geschichte erzähle… Ist auch das ein Grund dafür, daß jedes Wort in dieser Geschichte das falsche zu sein scheint? Endet Sprache vor solchen Begriffen – und diese Geschichte spielt sich von Anfang bis Ende hinter diesen Begriffen ab – oder endet da einfach meine Sprache, weil keine Macht der Welt diese bestimmten deutschen Wörter […] je wieder auf mir auslöschen kann?

Kann die Sprache eines Landes meine Sprache sein, wo auf das Sprechen mit uns einmal die Todesstrafe stand?8

Das Ende dieses Zitats eröffnet einen ganzen Themenkomplex, der für die aus dem russischen Sprachraum eingewanderten AutorInnen zentral wird:

Zwangsarbeit, Judenhinrichtung in Babij Jar (Petrovskaja), Hungertod von über einer Million Zivilisten während der Belagerung von Leningrad (Vertlib), Stalinistische Repressalien (Hummel, Makine), Sowjetische Intervention in Afghanistan (Vertlib) . Was später die Autorinnen der vierten Migrationswelle mit historischer Genauigkeit und emotionaler Eindringlichkeit literarisch ver- arbeiteten, klang bei Wodin an . Jahre mussten vergehen, neue Generationen mussten kommen, um sich mit zeitlichem Abstand an die Geschichte heran- zutasten, denn die Betroffenen waren die Geschichte selbst: „Ich war diese Geschichte und bin sie vielleicht immer noch, diese Geschichte, die darin 7 Natascha Wodin: Einmal lebt ich. Frankfurt a.M . 1989, S . 99 .

8 Wodin (s . Anm . 7), S . 98 .

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besteht, daß ich nicht wußte, auf welchem Boden ich ging, und darin, daß ich es vielleicht immer noch nicht weiß .“9

Dass Natascha Wodin es heute weiß, beweist ihr 2017 erschienener auto biografischer Roman Sie kam aus Mariupol, in dem vom Schicksal ihrer Mutter erzählt wird, die 1920 im von Revolution durchwirbelten Südrussland (heute Ukraine) auf die Welt kam und nach dem Ausbruch des Zweiten Welt- krieges als Zwangsarbeiterin in das NS-Deutschland verschleppt wurde . Die Literarisierung der weißen Seiten der Geschichte setzt eine lange historische Recherche voraus und verleiht den Büchern einen dokumentarischen Charakter . Meistens wird die eigene Familiengeschichte zum Schauplatz der Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts .

Die dritte Emigration begann mit der Enttäuschung über „die Kurz- fristigkeit des ‚Tauwetters‘ nach Stalins Tod“10 . Die sowjetische Regierung jener Zeit praktizierte Ausweisungen und genehmigte Ausreisen, um politisch aktive und regimekritische Bürger loszuwerden .11 Vielen Intellektuellen, die zu einem Vortrag ins Ausland eingeladen wurden, verwehrte die Regierung die Rück-Einreise, indem die sowjetische Staatsangehörigkeit kurzerhand ab- erkannt wurde . Daher handelte es sich hauptsächlich um Dissidenten, die die Sowjetunion verließen . Unter den Emigranten dieser Welle war beispielsweise der Nobelpreisträger Josef Brodsky . Am 5 . Juni 1972 wurde er mit einem Koffer auf dem Flughafen Wien ausgesetzt und konnte erst mit der Unterstützung des US-amerikanischen Dichters W .H . Auden in die USA einreisen . Auch Lew Kopelew, der Ende 1980 der Einladung von Heinrich Böll zu einer Studienreise nach Köln folgte, musste die Aberkennung seiner sowjetischen Staatsangehörig- keit hinnehmen, und das trotz einer vorhandenen Rückkehr-Garantie . Kopelew schrieb Memoiren, in denen das Leben im stalinistischen und kommunistischen System realistisch dargestellt wurde .12 Weniger bekannt sind die Memoiren von Semjon Badasch, der 1982 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen musste und auf die Anregung von Alexander Solshenizyn die Zeit seiner Ver- bannung im Buch Kolyma du meine, Kolyma literarisch verarbeitete . Wladimir Wojnovich wurde 1980 ausgebürgert und konnte in München Fuß fassen . Mit seinem ironisierenden Roman Aglaja Rewkinas letzte Liebe (2002), dessen Heldin eine hardcore-Stalinistin ist, verarbeitet er die Ära des Stalinismus ohne Anklage, aber mit viel Humor .

Die Zwangsexilierten unter den Schriftstellern und Intellektuellen hielten an der russischen Sprache fest . Ihr Blick richtete sich auf die Sowjetunion, denn dort waren ihre Leser geblieben . Das Ankommen im Exilland verlief für sie sehr

9 Wodin (s . Anm . 7), S . 99 . 10 Kasack (s . Anm . 5), S . 11 . 11 Kasack (s . Anm . 5), S . 12f .

12 Lew Kopelew: Und schuf mir einen Götzen (1979), Tröste meine Trauer (1981).

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mühsam, da sie die Ausreise weder emotional akzeptierten, noch irgendwie auf das neue Land vorbereitet waren . Die Thematisierung des gesellschaftlichen bzw . politischen Standpunkts kann als Tendenz vieler Texte von AutorInnen der dritten Emigrationswelle herausgestellt werden . Satire wurde zu einem beliebten literarischen Format, um solche Inhalte zu verpacken . Als Beispiel können Woinowitschs Romane Die denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin und Iwan Tschonkin, Thronanwärter sowie Ipso Facto von Egor Gran genannt werden . Was die Gattung angeht, so hat die dritte Migrationswelle die meisten Lyriker vorzuweisen . Andrej Amalrik, der 1976 die Sowjetunion verließ, schrieb als einer der wenigen Autoren Theaterstücke .13

In der dritten Migrationswelle galten die USA als Traumziel . Die bereits erwähnten Brodsky und Nabokov erlangten in den USA den literarischen Weltruhm, einer mit dem Nobelpreis für Literatur, der andere mit Lolita . Viele Auswanderer landeten in Israel, wo ebenfalls ein reges, in der Forschung kaum berücksichtigtes literarisches Leben entstand . Ferner blieb Frankreich ein be- gehrtes Exilland . Unter den Schriftstellern, die nach Frankreich gingen, waren Nella Bielski, Jegor Gran und Andrei Makine .14

Die vierte Welle russischer Emigranten nach Deutschland folgte aus dem Fall des Eisernen Vorhangs durch die verstärkte Ausreise von Russlanddeut- schen15 und dem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 9 . Januar 1991, der besagte, dass das Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfs- aktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHaG, sog. Kontingentflüchtlings- gesetz) auf Juden und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus der ehemaligen Sowjetunion ausgeweitet werden sollte .16 Ein Dutzend Jahre später debütierten Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Olga Martynova und Julya Rabinowich mit ihren auf Deutsch geschriebenen Romanen . Neben den Werken dieser als Kontingentflüchtlinge eingewanderten Autorinnen erschienen Bücher von Eleonora Hummel, Alina Bronsky, Waldemar Weber, die als Russlanddeutsche die ehemalige Sowjetunion verlassen konnten . Angesichts dieser AutorInnen kann man behaupten, dass das Phänomen „The New Nabokovs“, wie in den USA 13 Andrej Amalrik: Theaterstücke. Amsterdam 1970.

14 Bielski folgte 1962 ihrem französischen Ehemann in dessen Heimat . Im Roman Deux oranges pour le fils d‘Alexandre Levy thematisiert sie den Abschied von Russland und ihrer sterbenden Mutter . Gran war 9 Jahre alt, als seine Familie 1973 in Paris landete, wo sein Vater später an der Sorbonne russische Literatur lehrte . Andrei Makine fuhr 1987 im Rahmen eines Lehreraustauschprogramms nach Frankreich und kehrte nicht zurück . Mit seinem autobiografisch geprägten Roman Le Testament Français wurde er über Nacht berühmt . Seit 2016 ist er Mitglied der Académie française .

15 Zum Begriff „Russlanddeutsche“ vgl . Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 116.2. In: <http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_116.html> . Zugriff am 25 .06 .2017 . 16 Zukunft der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland. In: Deutscher Bundestag, 16. Wahl -

periode, Drucksache 16/1318 vom 30 .06 .2006. In: <http://dip21.bundestag.de/dip21/

btd/16/020/1602097 .pdf> . Zugriff am 26 .06 .2017 .

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die Literatur von David Bezmozgis, Olga Grushin, Gary Shteyngart und Lara Vapnyar bezeichnet wird, in Deutschland längst angekommen ist . Mittlerweile haben sie mehrere Bücher vorgelegt, Auszeichnungen erhalten und sind ein nicht wegzudenkender Teil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gewor- den . Sie setzen neue thematische und inhaltliche Schwerpunkte und prägen die deutsche Gegenwartsliteratur auf der sprachlich-stilistischen Ebene mit . Dabei knüpfen sie auch an die AutorInnen und Werke der drei früheren Wellen der russischen Emigration nach Deutschland an und unterscheiden sich darin von vielen Autoren der „Chamisso-Literatur“, die ihre Anfänge in der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ab 1955 hat .

II. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-russischen Literatur Im Folgenden sollen einige Tendenzen der Literatur dieser AutorInnen und zwar über Migrationswellen hinaus erarbeitet werden . Insgesamt wird auf drei Aspekte eingegangen: (1) Themen und Figurenkonstellationen, (2) Übersetzung und Intertextualität als Verfahren und (3) Metamultilingualismus .

1. Themen und Figurenkonstellationen

Fast jeder Autor, der in einer neuen Literatursprache schreibt, legt (häufig als Erstlingswerk) einen Roman mit autobiografischen Zügen vor.17 Gewiss haben diese Autoren viel erlebt, mussten bei jedem Behördengang einen Personal- bogen ausfüllen und wurden immer wieder mit ihrem Lebenslauf konfrontiert . Das ist aber noch kein Grund, einen autobiografischen Roman zu schreiben.

Ähnlich einem autobiographischen Pakt (Philippe Leujeune), der durch die Einheit von Autor, Erzähler und Protagonist die Faktualität des Textes ga- rantiert, oder einem Fiktionsvertrag, der durch die Gattungsangabe zustande kommt, kann man von einem Sprachpakt ausgehen . Dieser liegt vor, wenn der Autor, die Protagonisten und die Leser die gleiche Sprache haben . Bei AutorIn- nen, die aus einem anderen Sprachraum in die deutsche Sprache einwandern, ist dies nicht der Fall . Deshalb müssen sie sich dem Leser vorstellen, sich die Sprache er-schreiben und ihre Vergangenheit in eine neue Sprachgegenwart hinübertragen .

17 Alja Rachmanowa: Studenten, Liebe, Tscheka und Tod, Wladimir Lindenberg: Tri doma, Natascha Wodin: Die gläserne Stadt, Vladimir Vertlib: Zwischenstationen, Julya Rabino- wich: Spaltkopf, Lena Gorelik: Meine weißen Nächte, Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt, Eleonora Hummel: Die Fische von Berlin, Andrei Makine: Le Testament Français.

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Neben dem Autobiografischen ist Historizität das zweite große Thema der AutorInnen aus dem russischen Sprachraum . Der Begriff „Historizität“

impliziert, dass der Text sich auf „individuelle, unwiederholbare Ereignisse“ und Fakten bezieht, diese in die Erzählung einfließen und so die Pro tagonisten des Romans vor dem Hintergrund des faktischen Geschehens erscheinen lässt . Die wichtigsten, häufig thematisierten historischen Geschehnisse sind: die Großen Säuberungen (rus. Чистки), die Leningrader Blockade, die (massenhafte) In- kriminierung nach §58 des Strafgesetzbuches der UdSSR und die Verurteilun- gen zur Zwangsarbeit in Sibirien sowie der Antisemitismus zu Sowjetzeiten .18 Neben neuen Themen kann vielen Texten dieser AutorInnen auch eine ihnen typische Figurenkonstellation bescheinigt werden . Gleich den Werken anderer auf Deutsch schreibender AutorInnen aus Süd- und Osteuropa (Melinda Nadj Abonji, Marica Bodrožić, Jagoda Marinić) dominiert auch bei russisch- deutschen Autorinnen (Bronsky Scherbenpark, Rabinowich Spaltkopf und Die Erdfresserin, Hummel In guten Händen, in einem schönen Land, Gorelik Die Listensammlerin) die weibliche Figurenkonstellation, während in Texten vieler aus der Türkei oder den arabischen Ländern stammender AutorInnen (Yadé Kara, Abbas Khider, Sherko Fatah) die männlichen Figuren in den Vorder- grund rücken . Das Schwinden der männlichen Figuren in Spaltkopf – „Meine Großväter sind beide nicht mehr am Leben . Die Brüder meines Vaters sind […]

kaum je präsent .“ – wird mit dem Tod des Vaters Lev auf die Spitze getrieben . Auch im Roman Die Erdfresserin fehlen über zwei Generationen die Männer . So wie von Dianas Vater jegliche Spur fehlt, so wird der Leser im Ungewissen über den Vater ihres Sohnes gelassen . Zufällig ist diese Konstellation nicht . Während die männlichen Protagonisten mit der (verdrängten) Vergangenheit und der verlassenen Heimat assoziiert werden, stehen die weiblichen Figuren für das Ankommen in der Fremde .

Eine weitere Besonderheit in der Figurenkonstellation betrifft die Groß- elterngeneration: Die Großväter fehlen in den Romanen. Die Großmütter sind da, aber entweder sind sie dement (Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem, Die Listensammlerin) oder weigern sich, von der Vergangenheit zu erzählen (Groß- mutter Ada im Roman Spaltkopf von Julya Rabinowich) . Die vermeintlichen Ausnahmen bestätigen diese Tendenz . Zwar erzählt im Roman Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel der Großvater seiner Enkelin von seiner Verban- nung in ein Arbeitslager in Sibirien, und im Buch Le Testament Français von Andrei Makine berichtet die Großmutter ihrem Enkel ihre Lebensgeschichte, jedoch stellt sich am Ende beider Texte heraus, dass es nicht die leiblichen Großeltern sind .

18 Diesem Thema ging ich in einem Artikel anhand des Romans Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel nach: Natalia Shchyhlevska: Historizität und Interkulturalität im Roman Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel. In: Germanica 51 (2012), S. 203–219.

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Dabei sollten die Großeltern die eigentlichen Träger des Gedächtnisses sein . Diese Generation erlebte die Geschichte hautnah und wusste, wie sie in der offiziellen Ideologie manipuliert wurde. Um ihre Kinder und Familien vor dem Antisemitismus oder im Falle der Russlanddeutschen vor der Fremden- feindlichkeit zu schützen, strebten viele zu Sowjetzeiten eine vollständige Akkulturation an, so dass jüdische bzw . deutsche Herkunft oft bereits in der Familie verschwiegen wurde . Die Demenz der Großmütter wie die Abwesenheit der Großväter stehen für den Bruch mit der Vergangenheit . Dies bedeutet für die Generation der Enkelkinder eine Suche nach und eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, mit Familiengeheimnissen, mit Unsicherheiten bzgl . ihrer Zugehörigkeit, vor allem wenn Migration stattgefunden hat . Dadurch erklärt sich, warum viele Bücher dieser AutorInnen den Charakter einer Fami- liengeschichte tragen .

Häufig wird das Familiengeheimnis mit einer Fotografie angekündigt.

Sie wird zum stummen Gedächtnisträger und Vehikel, um das Schweigen zu brechen: „An meinem Geburtstag jedenfalls erklärte er mir, auf diesem Schwarzweißbild seien seine Eltern abgebildet, die in Auschwitz umgekommen seien .“19 So wenig erfährt Julian über seine ermordeten Großeltern väter- licher seits. Die Funktion der Fotografie als stummer Gedächtnisträger findet sich auch in den Romanen Die Fische von Berlin von Eleonora Hummel und Le Testament Français von Andrei Makine . Im ersten löst die Ortsangabe Igarka auf der Rückseite der Fotografie die Fragen der Ich-Erzählerin aus, was der Großvater dort gemacht hatte, im zweiten erfährt der Ich-Erzähler, dass die bäuerlich gekleidete Frau auf der Fotografie im französischen Koffer seiner Großmutter seine Mutter ist und er in einem Verbannungslager geboren und von seiner vermeintlichen Großmutter adoptiert wurde . Das Geheimnis der Fotografie kann gelüftet werden, wenn eine der Figuren zu erzählen beginnt.

Diese Figur ist der wissende Zeuge, der Zutritt zur Vergangenheit der Protagonisten hat und oft eine andere Sprache als die des Textes spricht . Seine Aufgabe ist, das verheimlichte oder tabuisierte Ereignis ans Licht zu bringen, d .h . den Protagonisten bei der Identitätssuche zu helfen . Praktisch sieht diese Konstellation so aus, dass (1) eine Figur aus der Erstsprache des Erzählers zu Besuch kommt (die Tante im Roman Scherbenpark von Alina Bronsky, die Großmutter im Roman Zwischenstationen von Vertlib), oder (2) der Ich- Erzähler in das Land seiner Herkunft reist, wie Mischka im Roman Spaltkopf von Julya Rabinowich oder die Ich-Erzählerin im Roman Die gläserne Stadt von Natascha Wodin .

Wenn mit dem Bild der Großeltern der Zugang zur Vergangenheit als pro- blematisch signalisiert wird, so scheint auch der Blick in die Zukunft nicht viel 19 Lena Gorelik: Die Hochzeit in Jerusalem. München 2008, S. 23.

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optimistischer zu sein . Darauf lässt die Darstellung der kommenden Generation, also der Kinder, schließen. Auffällig häufig begegnet dem Leser die Figur des kranken, behinderten oder geprügelten Kindes bzw . die Abtreibung . Die kranke Tochter der Ich-Erzählerin (Die Listensammlerin von Lena Gorelik), der be- hinderte Sohn Dianas (Die Erdfresserin von Julya Rabinowich), die behinderte Schwester der Protagonistin Mischka (Der Spaltkopf von Julya Rabinowich), die vom Vater misshandelte und missbrauchte Tochter (Einmal lebte ich von Natascha Wodin), der vom Vater misshandelte Sohn (Der Scherbenpark von Alina Bronsky): jede dieser Figuren kann als Ausdruck für die problematische Entwicklung der Protagonisten am Ort ihrer Migration und ein Warnsignal ihres Implodierens gedeutet werden . Intensiviert wird diese Warnung mit dem Motiv der Abtreibung . Sie steht für die aus dem Gleichgewicht geratenen Lebensverhältnisse der Protagonistinnen . Ob Mischka (Spaltkopf), Polina (Die freie Welt von David Bezmozgi) oder Mascha (Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga Grjasnowa): die Abtreibung bringt diese Protagonistinnen in die Nähe der antiken Medea .

Die Zerrissenheit der Protagonistinnen korrespondiert mit ihrer sprach- lichen Un-Sesshaftigkeit, die als Pendeln zwischen zwei Sprachen in der Figur des Dolmetschers, Übersetzers oder Sprachlehrers sichtbar wird (Übersetzer in Meine Weißen Nächte von Lena Gorelik, Sprachlehrer in Annuschka Blume von Marjana Gaponenko, Schriftsteller in Schimons Schweigen von Vladimir Vertlib) .

2. Übersetzung und Intertextualität als Verfahren

Das Schreiben eines autobiografischen Romans stellt eine Art Werkstatt dar, in der die Übersetzung das wichtigste Werkzeug ist . Auch wenn man keinen autobiografischen Roman schreibt, bleibt die Übersetzung das zentrale Ver- fahren der AutorInnen, die Sprachwechsler oder Mehrsprachler sind . Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Marjana Gaponenko, die 2013 mit dem Adalbert von Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde, und Olga Martynova, die 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt . Diese Autorinnen haben zuerst Lyrik verfasst, bevor sie ihre deutschen Prosawerke vorlegten . Die 1981 in Odessa geborene Marjana Gaponenko debütierte 2007 mit dem Gedichtbänd- chen Nachtflug . Diesen deutschen Gedichten liegen Entwürfe in russischer und polnischer Sprache zugrunde . Olga Martynova veröffentlichte 5 Lyrikbände in russischer Sprache, bevor sie 2010 ihren ersten Roman Sogar Papageien überleben uns schrieb . Der fünfte Band Von Tschwirik und Tschwirka hat den Untertitel Gedichte aus dem Roman über Papageien . Diese Gedichte übersetzte sie 2012 zusammen mit Elke Erb ins Deutsche . Auf die Frage, warum sie Ge- dichte nur auf Russisch und Prosa auf Deutsch schreibt, hat Olga Martynova

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eine Antwort: „Gedichte setzen eine andere Geschwindigkeit voraus. Solche Schnelligkeit habe ich auf Deutsch nicht .“20

So unterschiedlich die Vorgehensweise der Autoren, die einen autobio- grafischen Roman schreiben, und der Autoren, die mit der Lyrik debütieren, erscheinen mag, ist ihr Verfahren das gleiche: es ist die Übersetzung. Während die einen ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus der Erstsprache in die Literatur- sprache übersetzen, übersetzen die anderen ihre lyrischen Versuche . Das Ziel ist auch das gleiche: in der neuen Literatursprache Fuß zu fassen.

Nun stellt sich die Frage, was denn die Themen von Gaponenko und Martynova sind, wenn sie nicht autobiografisch schreiben? Beide Autorinnen weisen eine frappierende Gemeinsamkeit auf: ihre Romane – Annuschka Blume und Sogar Papageien überleben uns – haben im Prinzip keine Hand- lung . Gaponenkos Roman ist als Briefwechsel der Protagonisten konzipiert . In diesen Briefen, die stellenweise surrealistisch und irreal wirken, berichten die Protagonisten von ihren Gedanken, Erlebnissen und Gefühlen . Bis zum Schluss des Buches bleibt aber unklar, wie sie darauf gekommen sind, ihre ungewöhnlichen Briefe aneinander zu richten . Die Protagonisten erscheinen als ein seltsames, geträumtes, hin und wieder entrückt anmutendes Liebespaar, das die Verweise auf die Begegnungen Paul Éluards mit Gala und Wladimir Majakowskis mit Lilja Brik, vor allem aber auf Schwitters’ Liebesgedicht „An Anna Blume“ einläuten .

Olga Martynova schildert ein ungewöhnliches Sowjetrussland mit Lenin- grader Bohèmiens, mittelasiatischen Hippies und skurrilen Dichtern um Daniil Charms und Alexander Wwedenskij . Realität, Fantasie und Traum verschränken sich . Die Zeitgrenzen werden aufgehoben, spielerisch überwindet die Ich-Er- zählerin die Raumgrenzen und schafft neue, imaginierte, oft phantasmagorisch anmutende Räume in ihrem Text .

Auffällig ist dabei die Überzahl der intertextuellen Bezüge in diesen Romanen . Bereits der Titel Annuschka Blume rekurriert auf das 1919 von Kurt Schwitters geschriebene Gedicht „An Anna Blume“ . Die Verbindung zu dieser

„Muse des Dadaismus“ ist eine der vielen Intertextualitäten, die dem Leser im Roman begegnen: Neben den Zitaten aus der Bibel und dem Koran sind es russische Lieder und Gedichte, Verweise auf den Kleinen Prinzen und italieni- sche Kindergeschichten, Tier- und Sachbücher, Schulaufsätze und vieles mehr .

Auch Martynovas Titel Sogar die Papageien überleben uns ist ein Zitat aus einem Essay von Joseph Roth . Novalis und Emily Dickinson, Thomas Pynchon, Johann Wolfgang Goethe, Rainer Maria Rilke und eine ganze Reihe russischer Literaten zitiert Olga Martynova . Sie nimmt Bezug auf jene russische Literatur des 20 . Jahrhunderts, die in der Sowjetzeit nur in Samisdat verbreitet wurde und nur wenigen bekannt war: Leonid Aronson, Nikolaj Sabolozkij, Daniil 20 Olga Martynova: Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. Wien 2012, S. 90.

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Charms, Alexander Wwedenskij, Leonid Lipawskij, Elena Schwarz . Zitate dieser Autoren flicht Martynova in eigene Texte ein, eröffnet einen Dialog, der diese Dichter dem Vergessen entreißt und ihre Werke ins geistige Zentrum der europäischen Literatur rückt .

Den intertextuellen Bezügen kommt die Funktion eines Vorbildes, Modells bzw. Musters zu. Dies bestätigt auch die Beobachtung, dass die Häufigkeit intertextueller Bezüge bei den Autoren, die mit autobiografischen Romanen debütierten, erst steigt, wenn sie sich von autobiografischen Inhalten in ihren Werken entfernen. Da die Autoren, sobald sie die autobiografische Thematik hinter sich lassen, in der neuen Literatursprache von Neuem beginnen müssen, verwenden sie intertextuelle Referenzen, um ihr eigenes literatur-ästhetisches Konzept zu entfalten .

3. Metamultilingualismus

Als Meilenstein bei der Herausbildung des literatur-ästhetischen Konzepts kann Multilingualismus bezeichnet werden . Den Terminus „Metamultilingua- lismus“ definiert Elke Sturm-Trigonakis als „das Sprechen über Sprachen im weitesten Sinn“21 und räumt ihm einen weiteren Raum ein als der Performanz der Sprachen selbst . Anhand der analysierten Texte demonstriert sie, dass die Inquit-Formel die häufigste Art und Weise darstellt, den Leser über die verwendete Sprache bzw . über den Sprachwechsel der Protagonisten zu infor- mieren . Dabei werden die Hierarchie, die Bedeutung der Sprachen bzw . die Nähe und Distanz der Figuren zu der gebrauchten Sprache deutlich . Neben der Markierung der emotionalen Besetzung der Sprachen kommt dem Metamulti- lingualismus die Funktion zu, die Atmosphäre der Migration im Hinblick auf Erlebnisse und Erfahrungen mit neuen Sprachen zu erzeugen . Viele Autoren konzipieren ihre Erzählung folglich aus der Perspektive des Kindes und füh- ren dem Leser eine bewundernde, naive oder märchenhafte Begegnung mit der neuen Sprachsituation vor Augen . Ein gutes Beispiel hierfür ist Vladimir Vertlibs Roman Zwischenstationen, in dem die Vielheit der Sprachen auf verschiedenen Durchreisestationen des Protagonisten in Szene gesetzt wird .

Die thematische Akzentuierung der permanenten, nicht aufhören wol- lenden Auswanderung führt dazu, dass in diesem Roman neben Deutsch sehr viele Sprachen gegenwärtig sind: Russisch, Hebräisch, Holländisch, Englisch, Italienisch, Serbisch, Jiddisch, Bucharisch, ein „dem Tadschikischen ähnliche[r]

iranischer Dialekt, […], eine Art Jiddisch Zentralasiens“ sowie Wienerisch und ‚Gastarbeiterdeutsch‘ . Es liegt nahe anzunehmen, dass der Gebrauch der 21 Sturm-Trigonakis, Elke: Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Welt-

literatur . Würzburg 2007, S . 133 .

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verschiedenen Sprachen, das Sprechen über diese Sprachen sowie über die semantischen und phonologischen Besonderheiten einzelner Wörter, aber auch die thematisierte Abneigung gegenüber Fremdsprachen bzw . die Schwierigkeit beim Erlernen der neuen Sprachen vom Autor mit Bedacht als Technik des mehrsprachigen Schreibens verwendet wird . Der Zerrissenheit der Migration wird eine neue interkulturelle und kulturverbindende, synchrone Sprachwelt gegenübergestellt, der Metamultilingualismus avanciert zur Selbstbestimmung der Protagonisten in dieser neuen Welt und wird häufig – als Mittel des Humors oder der Ironie – zur Unterhaltung des Lesers verwendet .

Wie auch andere Autoren nutzt Vertlib den ihm durch die Poetikdozentur eingeräumten Raum, um seinen Sprachwechsel zu reflektieren und der Frage nach der Hierarchie der Sprachen im Prozess des Schreibens nachzugehen:

Deutschsprachiger Schriftsteller zu werden, ist für mich keine Selbstverständ- lichkeit gewesen . Die ersten Schreibversuche erfolgten auf Russisch . Im Deut- schen hatten die Worte eine Bedeutung, im Russischen, meiner Muttersprache, einen tieferen Sinn . Die Struktur der deutschen Sprache war erst zu erlernen, ihre Nuancen und Doppelbödigkeiten waren zu erahnen, als das Russische mir schon als ein gut gestimmtes Instrument zur Verfügung stand, dessen Spiel ich mehr schlecht als recht, aber doch intuitiv beherrschte . Schließlich wählte ich jene Form, in der ich meine Gedanken am besten auszudrücken verstand: eine deutsche Oberfläche, unter der oft, eher unbewusst als gewollt, Satzbau, Melodie und Idiomatik des Russischen mitschwingen .22

Aus diesem Bekenntnis geht die Palimpsest-ähnliche Struktur der deutschen Literatursprache hervor, unter deren Schicht sich das Russische bemerkbar macht . Diese Feststellung trifft nicht nur auf Vertlib zu, sondern auf die meis- ten Autoren, deren literarisches Schreiben sich aus mehreren Sprachen speist . Anders als viele andere Schriftsteller sieht Vertlib darin Vorteile:

Die Tatsache, dass ich mir meiner Sprache nie sicher sein kann, dass ich Worte und Formulierungen hinterfrage, die andere mit intuitiver Selbstverständlichkeit handhaben, sehe ich als Vorteil an . Er besteht darin, dass es mir leichter fällt, mein Schreiben aus der kritischen Distanz zu betrachten und somit meine Möglich- keiten und Grenzen besser zu erkennen . […] Kein einziges deutsches Wort hat für mich seine Fremdheit zur Gänze verloren . Darin liegt aber auch die Chance, den scheinbar bekannten und dennoch nicht ganz vertrauten Worten eine neue, manchmal überraschende Bedeutung zu geben oder sie in einen ungewohnten Kontext zu stellen .23

22 Vertlib, Vladimir: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur.

Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006 . Dresden 2006, S . 58f . 23 Vertlib (s . Anm . 22), S . 59 .

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Dieses Verfahren kann für die meisten Autoren, deren literarisches Schreiben sich aus mehreren Sprachen konstituiert, als typisch bezeichnet werden . Der Leser liest den ‚übersetzten‘ Inhalt in der jeweiligen Literatursprache des Tex- tes, während die Sprachverweise angeben, in welcher Sprache sich die Situation tatsächlich abspielte . Beide Sprachen werden im Prozess des Schreibens syn- chronisiert, d .h . Vergangenheit wird aktualisiert und in der Literatursprache nacherlebt . Dies ermöglicht dem Autor, die Ereignisse, die sich in der ersten Sprache abgespielt hatten, in die andere Sprache zu versetzen, indem sie über- setzt werden. Häufig finden neben Sprachverweisen einzelne Wörter aus der Erstsprache Eingang in die Sprache des literarischen Textes und werden so zu Zeugen des permanenten, jedoch verdeckten oder vorgetäuschten Übersetzens .

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