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Academic year: 2022

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FORUM

PSYCHOSOMATIK Zeitschrift für psychosomatische MS-Forschung

30. Jahrgang

|

1–2021

Von der MS nicht

überwältigt werden!

(2)

2

Impressum

Herausgeberin:

LEBENSNERV – Stiftung zur Förderung der psychosomatischen MS-Forschung Liebstöckelweg 14, 13503 Berlin Tel.: (0 30) 4 36 35 42 Fax: (0 30) 4 36 44 42 e-mail: info@lebensnerv.de web: www.lebensnerv.de Stiftungsvorstand:

Dr. Sigrid Arnade Susanne Same (geb. Wolf) Gudula Oster

Erscheinungsweise:

FORUM PSYCHOSOMATIK (gegründet 1992 als „Rundbrief“) erscheint zweimal jährlich, kostenlos, auch auf Audio-CD und als barrierefreie PDF-Datei Die Stiftung ist als gemeinnützig anerkannt. Spendenbescheinigungen werden ausgestellt.

Bankverbindung:

IBAN: DE42 3701 0050 0214 5395 01 BIC: PBNKDEFF

V.i.s.d.P.:

Dr. Sigrid Arnade Redaktion:

H.-Günter Heiden Gestaltung:

Enno Hurlin Druck:

Baumgarten&

Grützmacher

Druck auf 100% Recycling-Papier

3 Liebe Leser*innen 4 Neue MS-Leitlinie

Mehr Patientenorientierung Mehr Selbstbestimmung 9 »Ich habe mich von der MS nie überwältigt gefühlt!«

Teilen Sie uns Ihre Erfahrungen mit!

12 Mit Qigong die Fatigue reduzieren 16 Neue Gesetze

Bedeutung für Menschen mit MS

21 Selbsthilfe zur psychologischen Stabilisierung Ein Interview

25 Physio-Praxis-Auskunft:

Barrierefreiheitskriterien nach bundesweiter Erhebung online 26 Inklusive Gesundheitssorge

Zehn Merkposten zu Aufgaben und Wegen 40 Appell:

Bundesweite Krankenhausschließungen jetzt stoppen!

44 Buchbesprechung

Inhalt

Titelfoto: Annette Walter

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Liebe Leser*innen,

sind Sie schon geimpft? Allmählich kommen hoffentlich Zeiten, in de- nen unser Leben nicht mehr von Fragen rund um die Corona-Pande- mie dominiert wird!

Es gibt schließlich auch noch an- dere wichtige Themen: Wie mehr Patientenorientierung und Selbst- bestimmung in der Behandlung von Menschen mit MS realisiert werden kann, zeigt die neue MS-Richtlinie, über die wir in diesem Heft berich- ten. Eine alternative Methode zur Behandlung von MS-Betroffenen stellt auch das achtsamkeitsbasierte Verfahren des Qigong dar. Wir be- richten über erste ermutigende Stu- dienergebnisse.

Schon häufig thematisierten wir Empowerment und Partizipation in FORUM PSYCHOSOMATIK. Von diesen Konzepten ist auch immer wieder die Rede in dem Text »Inklu- sive Gesundheitssorge: Zehn Merk- posten zu Aufgaben und Wegen«.

Dieses Papier wurde vom wissen- schaftlichen Beirat innerhalb des

»Dritten Teilhabeberichts der Bun- desregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigun- gen« vom April 2021 als Vertiefungs- thema verfasst.

Wenn Sie, liebe Leser*innen eine andere Gesundheitspolitik wün- schen, die weniger an einer Profit-

maximierung, sondern mehr am Wohlergehen der Menschen interes- siert ist, dann haben Sie im Septem- ber bei der Bundestagswahl die Ge- legenheit, mit Ihrer Stimme die Zu- sammensetzung der neuen Bundes- regierung zu beeinflussen. Schauen Sie sich die Wahlprogramme der Parteien an. Welche Vorstellungen gibt es zur Modernisierung des Ge- sundheitswesens? Kommen behin- derte Menschen vor, werden sie und ihre Bedarfe mitgedacht? Wie ste- hen die Parteien zu der langjährigen Forderung behinderter Menschen, Barrierefreiheit für alles Neue ver- bindlich vorzuschreiben, damit auch behinderte Menschen eines Tages ihr gesetzlich verbrieftes Recht auf freie Arztwahl realisieren können?

Wussten Sie übrigens, dass die Stiftung LEBENSNERV im November 2021 ein Jubiläum begeht und 30 Jahre alt wird? In diesem Zusam- menhang sind wir an Ihren Erfah- rungen interessiert und haben Ih- nen dazu drei Fragen gestellt, s. in- nen. Wir freuen uns auf viele Zu- schriften!

Mit den besten Wünschen für eine angenehme Sommerzeit

Ihre

Dr. Sigrid Arnade 3 FP 1–21

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Neue MS-Leitlinie

Mehr Patientenorientierung Mehr Selbstbestimmung

VON JUTTA SCHEIDERBAUER

D

ie Leitlinie »Diagnose und The- rapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Er- krankungen und MOG-IgG-assozi- ierten Erkrankungen« wurde am 10.

Mai 2021 von der Deutschen Gesell- schaft für Neurologie (DGN) ver- öffentlicht.1

Als Leitlinie bezeichnet man eine Sammlung von Behandlungsemp- fehlungen und Hintergrundinforma- tionen für Berufsgruppen, die an der Behandlung einer bestimmten Erkrankung beteiligt sind. Eine Leit- linie soll medizinische Entscheidun- gen auf dem aktuellen Stand des Wissens erleichtern. Sie darf jedoch nicht als starre Vorschrift gesehen werden, sondern sie erlaubt grund- sätzlich, dass in begründeten Fällen zugunsten von Patient*innen von ihr abgewichen wird. Leitlinien-Emp- fehlungen sind deshalb auch nur als mehr oder weniger starke Emp- fehlung formuliert: »soll / soll nicht«

(starke Empfehlung), »sollte / sollte

nicht« (Empfehlung) bis zu »kann er- wogen / verzichtet werden« (offene Empfehlung).

Ziel der neuen Leitlinie war es, für zahlreiche verschiedene Fra- gestellungen und Krankheitskonstel- lationen Handlungsempfehlungen abzugeben, die in der Versorgungs- praxis immer wieder vorkommen.

Bisher blieben solche Situationen dem Ermessensspielraum einzelner Neurolog*innen überlassen, was für die meisten MS-Erkrankten eine äußerst unbefriedigende Situation darstellte. Therapieeinstellungen und Sicherheitsbedürfnisse von MS-Erkrankten sind so individuell und variabel wie die Verläufe, The- rapieentscheidungen komplex und mit Unsicherheiten behaftet. Die neue Leitlinie bekennt sich dazu, dass Patient*innen Autonomie ermöglicht wird und das Selbst- bestimmungsrecht bei allen Thera- pieentscheidungen in Anspruch ge- nommen werden kann. Diese Be-

1 Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis- optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 14.06.2021)

4 FP 1–21

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rücksichtigung der Perspektive von Patient*innen bei allen Leitlini- enempfehlungen war auch das Hauptanliegen der Patient*innen- vertreterinnen in der Leitlinienkom- mission.

Im Auftrag der DGN arbeiteten neben 19 Neurolog*innen auch eine Physiotherapeutin, eine Vertre- terin der Pflegeberufe und zwei Pa- tient*innenvertreterinnen, Dr. Edel- traud Faßhauer, bis vor kurzem Vor- standsmitglied und Vorsitzende des Bundesbeirats MS-Erkrankter der DMSG, sowie Dr. Jutta Scheiderbau- er, an der Leitlinienerstellung mit.

Ein Auswahlkriterium für die Mit- arbeit in der Leitlinienkommission war das Ausmaß der Interessenkon- flikte mit der pharmazeutischen In- dustrie. Große Interessenkonflikte führten zum Ausschluss aus der Leit- linienarbeit, geringere Interessen- konflikte wurden durch unabhängi- ge Gutachten bewertet. Je nach Höhe der Interessenkonflikte wur- den Autor*innen von der Mitarbeit an einzelnen Kapiteln und/oder den Abstimmungen über einzelne Emp- fehlungen ausgeschlossen. Aus der Anwendung dieser Regularien resul-

tierte, dass manche Neurolog*in- nen aus früheren Leitliniengruppen an der aktuellen Leitlinienarbeit nicht mehr beteiligt sein durften.

Nur die beiden Patient*innenvertre- terinnen und die Vertreterinnen von Physiotherapie und Krankenpflege hatten überhaupt keine Interessen- konflikte.

Die neue Leitlinie besteht aus fünf für die MS-Therapie wichtigen Themenkomplexen. Abschnitt A: Di- agnose, Schubtherapie und Algo- rithmen der Immuntherapie der Multiplen Sklerose; Abschnitt B: Im- muntherapeutika, darin eine Be- schreibung der Evidenz zu den Ein- zelsubstanzen; Abschnitt C: Beson- dere Situationen, darunter »MS und Schwangerschaft« und »MS bei Älte- ren, Kindern und Jugendlichen«;

Abschnitt D: Symptombezogene Therapie und Abschnitt E: Verwand- te Krankheitsbilder: NMOSD und MOG-assoziierte Erkrankungen.

Die wesentlichen Neuerungen der Leitlinie stecken in Kapitel A, in dem anstelle des wenig differenzier- ten früheren Stufenschemas zur Im- muntherapie für zahlreiche, klinisch relevante Situationen konkrete 5

FP 1–21 Scheiderbauer – MS-Leitlinie

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Handlungsempfehlungen gegeben werden. Es erfolgt eine Einteilung der Immuntherapeutika in drei statt bisher zwei Wirksamkeitskatego- rien. Maßstab ist die in den Zulas- sungsstudien ermittelte relative Schubratenreduktion. Es werden klare Kriterien für den Therapie- beginn, den Therapiewechsel und die Therapiebeendigung empfoh- len. Die Empfehlung A14 formuliert, dass die primären Ziele der Immun- therapie »die Verhinderung bezie- hungsweise Reduktion von kli- nischer Krankheitsaktivität (Schübe

und Krankheitsprogression) und der Erhalt der Lebensqualität« sein sol- len, erlaubt aber als weiteres Ziel auch die Verminderung der in der MRT messbaren Krankheitsaktivität, und schließt mit dem Anspruch, dass realistische Therapieziele vor Therapiebeginn zwischen Ärzt*in- nen und Patient*innen vereinbart werden sollen. Es kommt also laut Leitlinie darauf an, dass die Betrof- fenen ihre eigene Präferenz von An- fang an in die Behandlungsent- scheidungen einbringen, und es wäre nicht leitliniengerecht, ihnen ein Therapieziel einfach vorzuge- ben.

Heftige Kritik mancher etablierter MS-Experten, die an der Leitlini- enerstellung aufgrund ihrer Interes- senkonflikte nicht beteiligt werden konnten, galt zwei Empfehlungen, die in bestimmten Fällen der schub- förmigen MS einen Verzicht auf Im- muntherapie erlaubten: Empfeh- lung A16, die besagt, dass ein ab- wartendes Vorgehen ohne Immun- therapie nach Erstdiagnose als leit- liniengerecht gilt, wenn man von ei- nem milden Verlauf ausgehen kann, und Empfehlung A60, die ein Absetzen der Immuntherapie befür- wortet, wenn man unter Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 min- destens fünf Jahre lang einen stabi- len Verlauf hatte. Weitere Kritik galt der Sicherheitsorientierung der Leit- linie. Grundsätzlich spricht sich die

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FP 1–21 Scheiderbauer – MS-Leitlinie

Infokasten

Die Leitlinie ist zu finden unter

www.dgn.org/leitlinien und dort unter

»Leitlinien nach Aktualität anzeigen«

oder »Entzündliche und erregerbedingte Krankheiten«.

Die Abkürzung NMOSD steht für Neuro- myelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen.

Die Abkürzung MOG bedeutet Myelin- Oligodendrozyten-Glykoprotein.

Die Abkürzung IgG bezeichnet das Immunglobulin G.

Die Abkürzung MRT steht für Magnetre- sonanztomographie, auch als Kernspin- tomographie bekannt.

Therapeutischer Nihilismus bedeutet, lieber keine Therapie anzuwenden als eine Therapie, deren Wirksamkeit nicht bewiesen ist.

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Leitlinie für ein Vorgehen aus, bei dem, ähnlich wie bisher, mit einem Präparat der niedrigsten und risiko- ärmsten Wirksamkeitskategorie be- gonnen wird, und erst dann eska- liert werden soll, wenn die Krank- heitsaktivität damit nicht vermindert werden konnte. Ausnahmen sind in den Empfehlungen A28 und A29 festgelegt. A28 definiert einen

»wahrscheinlich hochaktiven« Ver- lauf bei bisher unbehandelten Pa- tient*innen, wenn schwere Sympto- me, schlechte Rückbildung von Schüben oder eine sehr hohe Schubfrequenz zu Krankheitsbeginn gegeben sind. Nur diesen MS-Er- krankten sollen Präparate der Wirk- samkeitskategorie 2 oder 3, die hö- here Sicherheitsrisiken haben, als erste Immuntherapie angeboten werden (A29). Ein MRT-Befund mit vielen MS-typischen Herden allein, ohne eine dieser klinischen Symp- tomkonstellationen, reicht nicht aus, um von einem hochaktiven Verlauf auszugehen oder diesen gar zu be- handeln. Die Leitlinie spricht sich so- mit klar gegen »Hit hard and early«, also die Therapie aller Patient*in- nen mit Medikamenten aus Katego- rie 2 oder 3 in frühen Krankheits- phasen aus, und verwendet im Ge- gensatz dazu den Begriff »Treat to target«, was man mit »am konkre- ten Bedarf orientierte Auswahl der Therapie« übersetzen kann.

Neuland betritt die MS-Leitlinie da- mit, sich zu den Therapieoptionen in Lebenslagen zu äußern, für die es nur wenige Studiendaten gibt.

Bislang fühlte man sich als Betroffe- ne*r dann alleine gelassen oder der persönlichen Meinung einzelner Neurolog*innen überlassen. Beson- ders sensibel ist der Themenkom- plex »MS und Schwangerschaft«, für den hier erstmals in einer Leitlinie die Datenlage für die Einzelsubstan- zen zusammengestellt und Empfeh- lungen oder Warnungen zum Ein- satz vor beziehungsweise während der Schwangerschaft und Stillzeit abgegeben wurden. Ebenfalls schlecht untersucht ist die Behand- lung der MS im höheren Erwachse- nenalter über 55 Jahre, weil diese älteren Patient*innen meist von 7

FP 1–21 Scheiderbauer – MS-Leitlinie

Jutta Scheiderbauer Foto: privat

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vornherein von der Studienteilnah- me ausgeschlossen waren. Aus Me- taanalysen, die die wenigen älteren Studienteilnehmer*innen mehrerer Studien zusammen auswerteten, weiß man, dass Immuntherapien bei den Älteren über 53 Jahren kaum noch einen Nutzen bringen können.

Symptomatische Therapieemp- fehlungen nehmen in der MS-Leit- linie ähnlich viel Raum ein wie die Behandlungsempfehlungen zur Im- muntherapie der MS in Kapitel A.

Die Einleitung bietet zunächst einen kritischen Überblick und geht be- sonders auf die oft begrenzte Da- tenlage bei den meist nichtmedika- mentösen Therapieverfahren ein.

Es fehlen hier die finanziellen und personellen Mittel zur Studiendurch- führung, die im Bereich der Immun- therapien im Übermaß vorhanden sind. Obwohl die Lebensqualität im Alltag von MS-Symptomen geprägt wird, ist hier, anders als bei den Im- muntherapien, oft ein therapeuti- scher Nihilismus weitverbreitet.

Krankenkassen nutzen die Daten-

lücke bei symptomatischen Thera- pien zu Lasten der Patient*innen, um die Kostenübernahme sinnvol- ler, aber nicht gut belegter Maßnah- men abzulehnen. Die Leitlinie bietet eine ausführliche Besprechung der möglichen Therapieoptionen der häufigen und einschränkenden Symptome. Die zahlreichen exper- tenbasierten Empfehlungen, die auf der aktuell verfügbaren wissen- schaftlichen Grundlage aufbauen, sollen Neurolog*innen und Patient* - innen auch bei der Argumentation gegenüber den Krankenkassen un- terstützen.

Zusammenfassend kann man sa- gen, dass die neue MS-Leitlinie ei- nen wesentlichen Entwicklungs- sprung in Richtung Patientenorien- tierung gemacht hat. Es lohnt sich auch für MS-Erkrankte, selbst in der Leitlinie nachzulesen, um im Ge- spräch mit Neurolog*innen den Überblick zu behalten. Dabei bleibt abzuwarten, ob die Leitlinie sich in der Patientenversorgung wird etab- lieren können. Es wäre viel damit er- reicht.

8

FP 1–21 Scheiderbauer – MS-Leitlinie

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»Ich habe mich von der MS nie überwältigt gefühlt!«

Teilen Sie uns Ihre Erfahrungen mit!

I

m November 2021 wird die Stiftung LEBENSNERV 30 Jahre alt. Auf aus- gelassene Feiern wollen wir aus gegebenem Anlass verzichten. Auch ist uns nicht danach, uns in einem Rückblick auf Entwicklungsschritte und Er- folge gegenseitig auf die Schultern zu klopfen.

Vielmehr möchten wir Sie, liebe Leser*innen, zu Wort kommen lassen.

Bislang ist die Krankheit MS nicht heilbar, und niemand von uns kann das kurzfristig ändern. Deshalb muss es doch darum gehen, wie gesellschaft- liche und persönliche Bedingungen so gestaltet werden können, dass ein möglichst gutes Leben auch mit MS realisierbar ist.

Um das herauszufinden, sind Sie gefragt. Wir möchten Sie bitten, uns die nachfolgenden drei Fragen zu beantworten und zwar nach Möglichkeit so, dass die Gesamtzeichenzahl nicht über 2.000 liegt. In der Winteraus- gabe von FORUM PSYCHOSOMATIK möchten wir Ihre Antworten in ano- nymisierter Form (Frau/Mann mit MS, xy Jahre, MS seit NNNN) veröffent- lichen. Um Ihnen die Aufgabe zu erleichtern, finden Sie nach den Fragen zwei Beispielantworten.

Hier die drei Fragen:

Was hat mir unabhängig von medizinischen Interventio- 1

nen am meisten geholfen, gut mit meiner MS zu leben?

Was war/ist abgesehen von den körperlichen 2

Einschränkungen das größte Problem für mich im Umgang mit meiner MS?

Was wünsche ich mir bezüglich meiner MS außer einem 3

therapeutischen Durchbruch am meisten?

Wir freuen uns auf Ihre Antworten bis Ende Oktober 2021!

9 FP 1–21 30 Jahre LEBENSNERV

Foto: Enno Hurlin

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Beispiel 1

Was hat mir unabhängig von medizinischen Interventionen am meisten geholfen, gut mit meiner MS zu leben?

Als ich zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen war, habe ich bald erkannt, dass Behinderung weniger ein individuelles Problem, sondern viel- mehr eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Indem ich mich politisch in dieser Frage engagierte, wurden meine körperlichen Einschränkungen immer mehr vom Defizit zur Selbstverständlichkeit mit der Option, gege- bene Grenzen nicht hinzunehmen, sondern zu erweitern. Hilfreich war also die politische Auseinandersetzung mit dem Thema.

Was war/ist abgesehen von den körperlichen

Einschränkungen das größte Problem für mich im Umgang mit meiner MS?

Der Ableismus nervt: Manchmal werde ich aufgrund meiner Beeinträchti- gung nicht mehr für voll genommen oder abgewertet, manchmal werde ich bewundert, nur weil ich ein ganz normales Leben führe. Beides erlebe ich als unangemessen und verletzend.

Was wünsche ich mir bezüglich meiner MS außer einem therapeutischen Durchbruch am meisten?

Ich wünsche mir mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit behinderten Menschen, leichteren Zugang zu notwendigen Hilfen (weniger bürokrati- sche Hürden), mehr Barrierefreiheit und die Umsetzung der UN-Behinder- tenrechtskonvention.

FRAU MIT MS; 64 JAHRE; MS SEIT 1977

10

FP 1–21 30 Jahre LEBENSNERV

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Beispiel 2

Was hat mir unabhängig von medizinischen Interventionen am meisten geholfen, gut mit meiner MS zu leben?

Mir hat die Offenheit meiner Ärzte mit der Diagnose und die engmaschige Betreuung in der Phase mit regelmäßigen Schüben geholfen. So konnte ich immer wieder Mut fassen nach oder mit neuen Symptomen, besonders, wenn sie anfingen, sich wieder zurückzubilden. Ich konnte Erfahrungen sammeln und einbauen und dann mit Mut weitergehen.

Mein größtes Thema war von Anfang an die Psychotherapie, und sie ist es bis heute. Sie ist wichtig für die Beachtung und Wertschätzung meiner Gefühle und Ängste. Dabei war und ist der verlässliche Kontakt zum Psy- chotherapeuten wesentlich. Bei der Psychotherapie hatte ich oft das Gefühl, dass mein Körper nicht mehr mit Symptomen »rufen« muss, wenn ich mich mit den Themen befasse, die bei mir im Vordergrund stehen.

Auch körperliche Therapien wie Krankengymnastk, Logopädie, Ergo- therapie mit ihren Erfolgen von mehr Fitness helfen mir sehr.

Jedenfalls habe ich mich nie überwältigt gefühlt von der MS. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich etwas für mich tun kann.

Was war/ist abgesehen von den körperlichen Einschränkun- gen das größte Problem für mich im Umgang mit meiner MS?

Die mit dem Krankheitsverlauf verbundenen Unsicherheiten und meine Ängste vor weiteren Symptomen sind für mich sehr belastend. 

 

Was wünsche ich mir bezüglich meiner MS außer einem therapeutischen Durchbruch am meisten?

Ich wünsche mir nach wie vor, dass das Thema Psychosomatik einen grö- ßeren Raum bei den Diskussionen um die MS einnimmt! So könnten Men- schen mit MS Perspektiven und Stabilisierungen erfahren.

FRAU MIT MS, 64 JAHRE, MS SEIT 1971

11 FP 1–21 30 Jahre LEBENSNERV

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12

Mit Qigong die Fatigue reduzieren

VON ANNETTE WALTER

Mit Qigong die Fatigue reduzieren

Foto: Annette Walter

A

chtsamkeitsbasierte Verfahren sind in aller Munde. Auch MS- Betroffene versuchen durch Medita- tion, Yoga, Tai-Chi oder Qigong ihre Symptome zu lindern oder so- gar den Verlauf der MS positiv zu beeinflussen. Dass dies tatsächlich möglich ist, konnte in einer bahn- brechenden Studie in den USA im Jahre 2012 gezeigt werden. Der Wissenschaftler David Mohr und sein Team haben in dieser Studie nachgewiesen, dass durch ein struk- turiertes Stressmanagement-Pro- gramm das Immunsystem günstig

beeinflusst werden kann. Im Ver- gleich mit einer Kontrollgruppe, die lediglich die Standardtherapie er- hielt, hatte die Gruppe, die an den Kursen teilnahm, deutlich weniger neue Entzündungsherde im MRT.

Da die meisten Patient*innen in- zwischen mit Medikamenten behan- delt werden, durch die die Schub- aktivität fast ganz unterbunden wird, sind Studien, in denen nach- gewiesen werden soll, dass die kli- nische und kernspintomographi- sche Krankheitsaktivität der MS durch achtsamkeitsbasierte Verfah-

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ren zusätzlich reduziert werden kann, kaum noch durchführbar.

Aktuelle Studien werden sich daher auf die Linderung von Symptomen konzentrieren müssen.

Am Klinikum Herford haben wir untersucht, ob die Fatigue, die eines der belastendsten Symptome der MS ist, durch Qigong reduziert wer- den kann.

Qigong ist eine jahrtausendealte fernöstliche Methode zur Erhaltung der Gesundheit. Übersetzt bedeutet Qi in etwa Lebensenergie und Gong beständiges Üben. Inzwi- schen gibt es über 1.000 verschiede- ne Qigong-Formen, unter anderem das Zhineng (Weisheits-)Qigong, die in China anerkannteste medizi- nische Qigong-Form. Zhineng Qi- gong ist eine Kombination aus Me- ditation und leicht erlernbaren, achtsam ausgeführten, fließenden Bewegungsabläufen, die entspan- nend und harmonisierend auf Kör- per, Geist und Emotionen wirken.

Die Übungen helfen, konzentrierter, wacher und ausgeglichener zu sein.

Vitalität und Lebensfreude nehmen zu.

Studiendesign

Zwischen Februar 2018 und August 2019 haben wir 31 Patient*innen (23 Frauen, 8 Männer) mit einer MS mit einem Behinderungsgrad zwischen

»leicht« und »konstanter Bedarf von Gehhilfen auf beiden Seiten« (EDSS zwischen 2 und 6,5) in die Studie eingeschlossen. Nach dem Zufalls- prinzip (Randomisierung) wurden sie zwei Studienarmen zugeteilt, also in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Patient*innen des Studienarmes 1 nahmen nach Studienbeginn sechs Monate lang an einem wöchentlich stattfindenden Qigong Kurs teil, während die des Studienarmes 2 weiter ihre Standardtherapie erhiel- ten. Nach sechs Monaten fand ein Wechsel statt.

Alle Proband*innen wurden am Anfang sowie nach sechs und zwölf Monaten neurologisch untersucht und mit einer Skala bezüglich der Fatigue (FSMC – Fatigue Skala für Motorik und Kognition) sowie mit ei- ner Skala zur Erfassung von Angst und Depression (HADS – Hospitality Anxiety and Depression Scale) ge- testet. Auf diese Weise wollten wir klären, ob durch Qigong die Fati- gue reduziert werden kann und ob sich diese Methode auch positiv auf psychische Probleme wie Angst und Depression auswirkt.

13 FP 1–21 Walter – Qigong

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Auswertung der Studie Die Patient*innen, die Qigong prak- tiziert haben, konnten ihre Fatigue deutlich reduzieren, während sie in der Kontrollgruppe leicht anstieg.

Auch Angst und Depression lassen in der Qigong-Gruppe nach, wäh- rend sie im Kontrollarm zunehmen.

Die Effekte sind so deutlich, dass sie statistisch als signifikant bezeichnet werden.

Anhaltende Wirkung

Weder die Fatigue noch der Angst/Depressions-Wert verändern sich sechs Monate nach Ende des Kurses signifikant, was für einen an- haltenden Effekt sprechen kann.

Ein Drittel der Proband*innen, die an einem Kurs teilgenommen ha- ben, konnte seinen Fatigue-Wert um mehr als zehn Punkte senken,

was als klinisch relevant gilt. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass bei diesem Drittel auch die beiden männlichen Teilnehmer mit einer primär progredienten MS zu finden sind. Angesichts der immer noch geringen Therapiemöglichkeiten für diese Patientengruppe sollten diese Ergebnisse in einer größeren Studie überprüft werden.

In vielen Studien konnte gezeigt werden, dass Fatigue und Depressi- on miteinander korrelieren. Wir ha- ben daher auch untersucht, ob das Ansprechen auf Qigong durch eine Depression negativ beeinflusst wird.

Dies war aber nicht der Fall. Gutes Ansprechen korreliert weder mit der Schwere einer Depression noch mit dem Alter noch mit der Verlaufs- form noch mit der Therapie.

14

FP 1–21 Walter – Qigong

Abbildung 1: Das Studiendesign

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Resümee

Zusammenfassend sprechen unse- re Daten für eine Reduktion der Fa- tigue sowie der Angst und Depressi- on durch Zhineng Qigong bei Pa- tient*innen mit einer Multiplen Skle- rose.

Da nicht vorhersehbar ist, welche MS-Patient*innen von Qigong pro- fitieren werden, empfehlen wir allen Betroffenen, diese Therapieform auszuprobieren.

Neben den von uns untersuchten Parametern soll nicht vergessen wer- den, dass die Teilnahme an den Kursen für viele Betroffene ein posi- tives und stärkendes Gruppenerleb- nis bedeutet hat.

Wir möchten die Ergebnisse un- serer Pilotstudie gerne in einer grö- ßeren Studie reproduzieren. Wer In- teresse an der Teilnahme hat, kann sich in unserer MS – Ambulanz mel- den.

FP 1–21 Walter – Qigong

Abbildung 2: Säulendiagramme der Fatigue-Skala total – Werte der Studienarme 1 und 2: Bei Studienbeginn (grau), nach dem Qigong-Kurs (schwarz) beziehungsweise nach sechs Monaten Standardtherapie (hellgrau)

Dr. Annette Walter Klinik für Neurologie 32049 Herford

ms-ambulanz@klinikum-herford.de

Foto: Annette Walter

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Kurz vor Ende der laufenden Legislaturperiode hat die große Koalition aus CDU/CSU und SPD noch zwei Gesetze verabschiedet, deren Inhalte für Menschen mit MS interessant sein können. Sie tragen auf alle Fälle vielver- sprechende Namen: Es geht um das Teilhabestärkungsgesetz und um das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Außerdem sieht es bei Redaktionsschluss (18. Juni 2021) danach aus, dass noch in dieser Legislaturperiode endlich ein weiterer Schritt zur Regelung der Assistenz im Krankenhaus erfolgt.

Teilhabestärkungsgesetz Bei diesem Gesetz handelt es sich – wie so oft bei neuen gesetzlichen Bestimmungen – um ein Artikelge- setz. Das bedeutet, dass kein neues eigenständiges Gesetz geschaffen wird, sondern mit diesem Gesetz verschiedene existierende Gesetze an einigen Stellen geändert oder er- gänzt werden. Das Teilhabestär- kungsgesetz tritt am 1. Januar 2022 in Kraft.

Interessant sind vor allem zwei Änderungen bestehender Gesetze durch das Teilhabestärkungsgesetz:

Die Ergänzung des Sozialgesetz- buch IX (SGB IX) um einen Paragra- fen zum Gewaltschutz und die Er- gänzung des Behindertengleichstel- lungsgesetzes (BGG) um Bestim- mungen zu Assistenzhunden.

Ins SGB IX ist ein neuer § 37a

»Gewaltschutz« eingefügt worden.

Darin heißt es: »Die Leistungserbrin-

ger treffen geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Men- schen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen, insbesondere für Frauen und Mäd- chen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen.« Rehabilitationsträger und Integrationsämter sollen da- rauf hinwirken, dass dieser Schutz- auftrag umgesetzt wird.

In ihren Stellungnahmen haben verschieden Verbände diese Rege- lung als einen Schritt in die richtige Richtung begrüßt, da schon lange bekannt ist, dass behinderte Mäd- chen und Frauen zwei- bis dreimal so häufig von (sexualisierter) Ge- walt betroffen sind wie nicht behin- derte Mädchen und Frauen. Gleich- zeitig wird die Bestimmung als zu unkonkret und nicht weitgehend ge- nug kritisiert. Im Referentenentwurf

16 FP 1–21

Neue Gesetze

Bedeutung für Menschen mit MS

VON SIGRID ARNADE

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wird der neue Paragraf mit einer Empfehlung des UN-Fachausschus- ses nach der ersten Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention begründet. Deutschland solle einen wirksamen Gewaltschutz für Frauen und Mädchen mit Behinderungen gewährleisten. Unabhängig davon, dass die gefundene Formulierung kaum zu einem wirksamen Schutz vor Gewalt taugt, hat der Fachaus- schuss tatsächlich nicht nur empfoh- len, einen wirksamen Gewaltschutz für Frauen und Mädchen mit Behin- derungen zu gewährleisten. Viel- mehr hat er auch darauf gedrun- gen, eine umfassende, wirksame

und mit angemessenen Finanzmit- teln ausgestattete Strategie zu die- sem Zwecke aufzustellen. Außer- dem hat er empfohlen, unabhängi- ge Beschwerdestellen einzurichten.

Da bleibt noch viel zu tun, aber viel- leicht lohnt es, den einen oder an- deren Leistungserbringer bei Gele- genheit darauf anzusprechen, wel- che Gewaltschutzmaßnahmen er getroffen hat.

Das BGG ist um einen ganzen Abschnitt zum Thema »Assistenz- hunde« mit sechs Paragrafen (12e – 12j) ergänzt worden. Die wesentli- che Botschaft lautet: Assistenzhunde erhalten künftig Zutritt zu öffent- lichen Einrichtungen und Anlagen, 17

FP 1–21

Mit diesem Auto fuhren Sigrid Arnade und H.-Günter Heiden über 4.000 Kilometer durch Deutschland und sprachen mit 33 Politiker*innen und ande- ren Verantwortungs - träger*innen, um für ein besseres Barrierefreiheits - stärkungsgesetz zu werben – leider vergeblich.

Dazu gibt es einen Film:

https://vimeo.com/557613362 oder mit Gebärdensprach - dolmetschung:

https://vimeo.com/564705109 /681c5ce0dd

Foto: H.-Günter Heiden

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auch wenn Hunde dort sonst ver- boten sind. Geregelt wird auch die Ausbildung von Assistenzhunden, die Zulassung von Ausbildungsstät- ten sowie die Prüfung von Assistenz- hunden.

Assistenzhunde sind für viele Menschen mit Behinderungen not- wendige Begleiter im Alltag, um am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Neben Blindenführhun- den dienen Assistenzhunde auch als Unterstützung, wenn die Mobili- tät eingeschränkt ist.

Mit dieser Gesetzesergänzung sind auch private Anbieter von Wa- ren und Dienstleistungen verpflich- tet worden, bezüglich der Assistenz- hunde behinderte Menschen nicht mehr zu diskriminieren. Das ist be- achtenswert, weil in den Gleichstel- lungsgesetzen auf Bundes- und Län- derebene sonst immer nur staatli-

che Stellen zur Nicht-Diskriminie- rung verpflichtet werden.

Hintergrund war ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2020. In dem Streitfall ging es darum, ob eine Arztpraxis mit ei- nem Blindenführhund durchquert werden dürfe. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass das Benachtei- ligungsverbot im Grundgesetz Art.

3, Abs. 3, Satz 2 (»Niemand darf we- gen seiner Behinderung benachtei- ligt werden«) Menschen mit Behin- derungen ermöglichen soll, ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen.

Also können auch Menschen mit MS – so sie von einem Assistenz- hund unterstützt werden – diesen ab 2022 auch ins Theater, ins Res- taurant oder an andere Orte mit- nehmen, an denen es bislang Pro- bleme gab.

18

FP 1–21 Arnade – Neue Gesetze

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz Hier handelt es tatsächlich um ein neues Gesetz und zwar um die Um- setzung der EU-Richtlinie 2019/882.

Gleichzeitig sind sozusagen im Hu- ckepack-Verfahren auch noch ande- re Gesetze geändert worden, aber darum geht es hier nicht. Die Be- stimmungen des Barrierefreiheits- stärkungsgesetzes (BFSG) treten am 28. Juni 2025 in Kraft.

Wer allerdings meint, diese lange Frist würde gewährt, um Barrierefrei- heit umfassend zu realisieren, irrt.

Angesprochen werden mit dem Ge- setz lediglich digitale Produkte und Dienstleistungen, die langfristig bar- rierefrei angeboten werden sollen.

Das sind unter anderem Hardware- systeme, Selbstbedienungsterminals wie Geld- oder Ticketautomaten, E- Book-Lesegeräte, elektronische Dienstleistungen der Telekommuni- kation, von Banken, von Verkehrs- unternehmen, elektronischer Ge- schäftsverkehr, gewisse Webseiten und mobile Anwendungen.

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Die gute Nachricht dabei: Pri- vate Anbieter von Waren und Dienstleistungen werden in einem kleinen Segment zur digitalen Bar- rierefreiheit verpflichtet.

Die schlechte Nachricht: Nicht nur bei den Verhandlungen zur EU- Richtlinie hat sich Deutschland da- durch ausgezeichnet, Verpflichtun- gen von Privatunternehmen so weit wie möglich zu verhindern, sondern auch bei der Umsetzung in deut- sches Recht sind lediglich solche Be- stimmungen erlassen worden, die zwingend von der EU vorgegeben waren. So sind überlange Über- gangsfristen vorgesehen, zum Teil bis 2040. Zur digitalen Barrierefrei- heit verpflichtet werden nur große Unternehmen, wobei es viele Aus- nahmeregelungen gibt. Geld- automaten müssen zwar ab 2040 mit einer barrierefreien Software ausgerüstet sein, sie müssen aber nicht barrierefrei erreichbar sein, so dass man eventuell nur über Stufen zu ihnen gelangt. Bei Banken ist die elektronische Barrierefreiheit zwar im Kundenbereich vorgeschrieben, nicht aber im Geschäftsbereich. Im Online-Handel ist der barrierefreie Vertragsabschluss geregelt, nicht

aber die barrierefreie Bezahlung und nicht die barrierefreie Reklama- tion. Zur weitgehenden elektro- nischen Barrierefreiheit werden nur Personenbeförderungsdienste des Fernverkehrs, nicht aber die des Nahverkehrs verpflichtet. Kontrol- liert werden soll die Einhaltung des Gesetzes von sogenannten Markt- überwachungsbehörden und zwar in jedem der 16 Bundesländer ein- zeln.

Viele Verbände behinderter Men- schen haben lautstark gegen diese unzulängliche Umsetzung der EU- Richtlinie protestiert und Nachbes- serungen gefordert – ohne Erfolg.

Stattdessen hieß es aus Koalitions- kreisen, man setze auf die Sensibili- sierung der Unternehmen und Überzeugungsarbeit, also auf Maß- nahmen, die sich bereits seit mehre- ren Jahrzehnten als unwirksam er- wiesen haben.

Dennoch können vielleicht einige Menschen mit MS in ferner Zukunft von den Bestimmungen profitieren.

Zu hoffen bleibt allerdings, dass sich die nächste Bundesregierung zügig daran macht, mit verbindli- chen Verpflichtungen umfassende Barrierefreiheit zu realisieren.

19 FP 1–21 Arnade – Neue Gesetze

Assistenz im Krankenhaus Menschen mit Behinderungen sind in unterschiedlicher Art und Weise auf die Mitnahme persönlicher As- sistenzkräfte im Falle eines stationä-

ren Aufenthalts in einem Kranken- haus oder einer Rehabilitationsein- richtung angewiesen. Bei Men- schen, bei denen eine körperliche

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Beeinträchtigung im Vordergrund steht, sind es zumeist pflegerische Gesichtspunkte, die die Notwendig- keit einer solchen Mitnahme be- gründen. Es kann sich aber auch beispielsweise um die Notwendig- keit einer kommunikativen Unter- stützung handeln.

Wenn behinderte Menschen, die ihre Assistenz im Arbeitgebermodell beschäftigen, im Krankenhaus sta- tionär behandelt werden müssen, dann werden die Kosten für die Mit- nahme von Assistenzkräften über- nommen. Arbeitgebermodell be- deutet, dass die Betroffenen ihre As- sistent*innen selber anstellen und damit größtmögliche Selbstbestim- mung realisieren können. Die ent- sprechende Gesetzesergänzung, die die Kostenübernahme der Assis- tenz im Krankenhaus für diese recht kleine Gruppe behinderter Men- schen regelt, konnte 2008 durch eine Kampagne behinderter Men- schen und einiger Verbände er- reicht werden. Für Assistenzneh- mer*innen von ambulanten Diens- ten, in ambulanten Wohnangebo- ten oder in besonderen Wohnfor- men der Eingliederungshilfe ist die Finanzierung von Assistenzkräften bei Krankenhausaufenthalten aber bislang weiterhin unklar.

Der Bundesrat hat jetzt die Bun- desregierung zum zweiten Mal zum Handeln aufgefordert. Auch der Deutsche Bundestag hat den Hand-

lungsbedarf deutlich gemacht. Bis- her können sich aber Kranken- und Pflegekassen sowie Sozialleistungs- träger nicht einigen, wer die entste- henden Kosten trägt. Vorschläge zur Regelung liegen seit einiger Zeit auf dem Tisch. Bei Redaktions- schluss sieht es doch tatsächlich so aus, als würde eine Regelung der Kostenaufteilung zwischen Kranken- kassen und Sozialleistungsträgern vor der Sommerpause vom Bundes- tag verabschiedet und das Problem damit für viele behinderte Men- schen gelöst.

Zu kritisieren ist allerdings, dass die Regelung aufgrund des (wohl- gemerkt: unnötigen) Zeitdrucks am Ende der Legislaturperiode ohne die vorgeschriebene Partizipation Betroffener und ihrer Verbände zu- stande kam. Außerdem sind die Pflegekassen nicht mit im Boot, so dass Menschen, deren Assistenz von ambulanten Pflegediensten er- bracht wird, vermutlich weiter für ihre Assistenz im Krankenhaus kämpfen müssen. Hoffentlich dau- ert es nicht noch einmal 13 Jahre, bis dieses Problem für alle Men- schen gelöst wird, die ohne fach- kundige Assistenz im Krankenhaus untergehen. Auch Menschen mit MS sind davon betroffen und ver- schieben notwendige Krankenhaus- behandlungen mit teils schwerwie- genden Folgen.

20

FP 1–21 Arnade – Neue Gesetze

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21 FP 1–21

Selbsthilfe zur psychologischen Stabilisierung

Ein Interview

KC: Frau Professor Reddemann, Sie haben als eine der ersten Ärzt*innen und Psychothera - peut*innen in Deutschland syste- matisch darüber nachgedacht, was eine Traumatisierung für ei- nen Menschen bedeuten kann, und Sie haben erfolgreiche Be- handlungskonzepte im Rahmen von Psychotraumatologie ent- wickelt. Erleben wir durch die Co- rona-Krise gerade so etwas wie ein kollektives Trauma?

Reddemann: Ich denke, dass die Er- fahrung, wenigstens bis jetzt noch nicht kollektiv traumatisierend ist, aber doch viele Menschen verunsi- chern kann, und wenn dann noch Not dazukommt, zum Beispiel da- durch, dass jemand kein Geld mehr verdienen kann oder sogar schwerer erkrankt, dann bewegt sich das schon in Richtung Trauma.

Vor allem für alte Menschen, die noch den Krieg und die Nach- kriegszeit erlebt haben, kann die jetzige Erfahrung als Trigger erlebt werden. Das heißt, die alten Belas- tungen vermischen sich mit den ge- genwärtigen und man fühlt sich hilflos und total ausgeliefert. Das

wird jetzt durch die quasi Aus- gangssperre mit Sicherheit ver- stärkt.

KC: Sind Menschen, die in ihrem Leben bereits Traumata erleben mussten, besonders gefährdet, in solch einer Ausnahmesituation nochmals Schaden zu nehmen?

Reddemann: Ja, davon sollte man ausgehen, wenngleich es natürlich auch Menschen mit erheblicher Wi- derstandkraft gibt, die jetzt mit der Erfahrung gut fertig werden. Man sollte auch bedenken, dass Kinder früher ja mit viel Gewalt groß ge- worden sind. Ich habe von vielen Patientinnen und Patienten gehört, wie sie stundenlang eingesperrt wa- ren, zum Beispiel in dunklen Kellern.

Die kann dazu führen, dass das ak- tuelle Ausgangverbot massiv belas- tet und ängstigt.

KC: Was kann jeder Einzelne tun, um sich über einen wahrschein- lich längeren Zeitraum der Ver- unsicherung selbst zu stabilisie- ren? Welche Einstellungen sind hilfreich?

Reddemann: Kontakte pflegen, so

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gut es geht. Ich empfinde die Mög- lichkeiten, die wir heute durch Sky- pe und Vergleichbares haben, als ein Geschenk. Das heißt, sich auch bewusst zu machen, ich bin nicht al- lein, ich bin verbunden. Es gibt ein zauberhaftes Video bei youtube, wo junge Leute aus der ganzen Welt miteinander etwas von Bach singen, aber jede/r ist bei sich zu Hause. Ihr Motto »through music we are con- nected«. Die Web-Adresse ist:

https://www.youtube.com/watch?v

=4nV8NakYNfs. Ich war zu Tränen gerührt und voller Dankbarkeit

über diese Möglichkeit. Weil ich ja Bach sehr liebe, höre ich es mir täg- lich an. Es gibt inzwischen auch noch einige andere Videos, wo Menschen zusammen musizieren und singen. Sehr berührend ist auch ein Video, wo Bamberger Bür- ger für italienische Menschen »Bella Ciao« singen. Mitsingen kann gut- tun! https://www.youtube.com/

watch?v=xyDk9hEeinE.

Es ist also die Pflege des Wissens um Verbundenheit, die hilfreich sein kann. Außerdem empfehle ich, sich ganz bewusst Dinge zu gönnen, die

22

FP 1–21 Interview Reddemann

Prof. Dr. med. Luise Reddemann ist Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeu- tische Medizin. Seit gut 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trau- ma und Traumafolgestörungen.

Von 1985 bis 2003 war sie Leiterin der Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin des Evangelischen Johannes-Kranken- hauses in Bielefeld und entwickel- te dort ein Konzept zur Behandlung von Menschen mit komplexen Trau- mafolgestörungen, die »Psycho- dynamisch imaginative Traumathe- rapie« (PITT).

Luise Reddemann führt zahlrei- che Fort- und Weiterbildungsver- anstaltungen durch. Im Rahmen ih- rer Honorarprofessur an der Univer-

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jetzt immer noch möglich sind, auch wenn man alleine ist: lesen, schreiben, vielleicht sogar Briefe.

Auch sich erinnern an Dinge, die ei- nem vielleicht früher gutgetan ha- ben. Unsere Vorstellungskraft, die uns auch an schöne Erfahrungen er- innern, ja sogar sozusagen in diese guten Erfahrungen wieder hinein- bringen kann, ist etwas Wunder- bares, über die wir alle verfügen und die wir nutzen können. Nicht zuletzt dafür, uns auszumalen, wie es in Zukunft werden kann. Dazu hat sich der Zukunftsforscher Mathi-

as Horx Ermutigendes vorgestellt.

https://www.t-online.de/nachrich- ten/panorama/id_87569760/coro- navirus-wie-wir-uns-wundern-wer- den-wenn-die-krise-vorbei-ist.html KC: Können Sie aus dem Fundus Ihrer Erfahrungen konkrete Übun- gen oder Ähnliches empfehlen, wenn unter dem Eindruck schlech- ter Nachrichten das innere Gleichgewicht verloren zu gehen droht?

Reddemann: Zunächst: Die Dinge können uns ängstigen, das sollten

23 FP 1–21 Interview Reddemann

sität Klagenfurt für medizinische Psy- chologie und Psychotraumatologie widmet sie sich den Arbeitsschwer- punkten Resilienz sowie Folgen von kollektiven Traumatisierungen.

Luise Reddemann war Mitglied im Weiterbildungsausschuss der Deutschen Akademie für Psycho- traumatologie, im Wissenschaftli- chen Beirat der Lindauer Psychothe- rapiewochen und in der wissen- schaftlichen Leitung der Psychothe- rapietage NRW.

Weitere Informationen zu Luise Reddemann finden Sie unter:

www.luise-reddemann.de

Luise Reddemanns Bücher und CDs im Verlag Klett-Cotta finden Sie un- ter www.klett-cotta.de.

Bitte beachten Sie dazu auch die Buchbesprechung »Die Welt als un- sicherer Ort« auf Seite 44 in dieser Ausgabe.

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wir uns zubilligen. Es geht daher um Freundlichkeit und Mitgefühl für sich selbst. Man kann sich sagen:

»Das ist jetzt schwer für mich« und sich in der Vorstellung tröstend umarmen. Diese Freundlichkeit mit sich selbst halte ich für außerordent- lich wichtig, und wir sind darin nicht allzu geübt, zumal jetzt von Seiten der Politik nur die Devise gilt: »Reiß dich zusammen, verzichte«. Das kennen wir nur allzu gut. Leider ist das nicht tröstlich. Dann kann es sehr helfen, sich vorzustellen, wie sehr viele Menschen und Dinge uns trotz allem unterstützen. Und das ist uns meist gar nicht bewusst. Also als kleine Übung: Was und wer un- terstützt mich in diesem Augenblick:

mein Laptop, der blühende Busch vor meinem Fenster, eine Frau, die bald kommt, um im Haushalt zu helfen, die Musik im Radio usw. Bert Brecht hat vor langer Zeit ein Ge- dicht mit dem Titel »Vergnügungen«

geschrieben, wo er all das nennt, was ihn stärkt. Man findet es im In- ternet. Es sind viele sehr einfache Dinge dabei!

Dann rate ich auch dazu, negati- ve Gedanken immer wieder zu überprüfen im Sinn von »das denke ich – ist es wirklich so, woher weiß ich, dass das so ist …« Des Wei- teren eine Überprüfung der Dinge,

die schon einmal hilfreich waren:

Kann ich sie wieder nutzen? Wenn ich mich früher über den Blick aus dem Fenster gefreut habe, könnte ich das wieder einmal mit offenem Herzen tun? Trotzdem bitte nichts schönreden. Die Situation ist schwierig und manchmal entmuti- gend. Dann gilt es eben auch, das anzuerkennen.

KC: Was glauben Sie, können wir an positiven Impulsen aus der aktuellen Krise mitnehmen?

Reddemann: Das kann sehr indivi- duell sein. Hier nur einige Beispiele:

Dass wir merken, dass es gut tut in- nezuhalten, zur Ruhe zu kommen, weniger geschäftig zu sein. Dass wir uns bewusst werden, wie kostbar Verbindungen zu anderen Men- schen sind und dass wir das wieder bewusster pflegen. Zeit lassen für Zusammensein, was wir jetzt schmerzlich vermissen. Die Men- schen, die sich jetzt virtuell zusam- mentun oder gemeinsam von ihren Balkonen singen, machen es vor: Es kommt letztlich darauf an, dass wir einander brauchen und das auch zeigen.

DIE FRAGEN STELLTE DER VERLAG KLETT-COTTA (KC)

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FP 1–21 Interview Reddemann

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Physio-Praxis-Auskunft:

Barrierefreiheitskriterien nach bundesweiter Erhebung online

Nutzer*innen können ab sofort mit der Physio-Praxis-Auskunft ihre Suche nach einer Physiotherapeuten-Praxis speziell nach ihren Bedürfnissen ver- feinern, zum Beispiel »geeignet für Menschen mit Hörbehinderung« oder

»geeignet für Rollstuhlfahrer«. Wie schon bei der Arzt-Auskunft mit dem Projekt »Barrierefreie Praxis« sind die Suchmöglichkeiten nun ausdif- ferenziert: Dafür wurde die flächendeckende Erhebung der Barrierefrei- heitskriterien von Physiotherapie-Praxen in Deutschland initiiert. Diese An- gaben sind jetzt online abrufbar.

»Teilhabe in der Gesundheitsversorgung beginnt dort, wo Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen Informationen darüber erhalten, wel- che Angebote für sie zugänglich und nutzbar sind,« sagt Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit der Deutschen Rentenversiche- rung Knappschaft-Bahn-See. »Und genau hier setzt das neue Auskunfts- system für Physiotherapie-Praxen vorbildlich an.«

Das Online-Suchverzeichnis ist seit Herbst 2020 unter www.physio-pra- xis-auskunft.de sowie über die Arzt-Auskunft abrufbar. Die Nutzer*innen können nach Praxen in ihrer Nähe suchen, nach Praxisinhaber*innen so- wie nach den angebotenen Therapieschwerpunkten, zum Beispiel Becken- bodengymnastik, Kinesiotaping oder Sportverletzungen.

QUELLE: STIFTUNG GESUNDHEIT

25

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D

ie besondere Aufmerksamkeit, die in diesem dritten Teilhabe- bericht der Bundesregierung dem Feld der Gesundheit gewidmet ist, nämlich als Vertiefungsthema des wissenschaftlichen Beirats, ist nicht allein der akuten Krisensituation ei- ner Corona-Pandemie geschuldet.

Ohne Zweifel verdienen die Lebens- umstände in Zeiten von Corona auch große Aufmerksamkeit: Denn sie bestimmen Alltag, Wirtschaft und Soziales, und sie berühren und beeinflussen die Menschen in ihrem Nahraum sowie zugleich die Bezie- hung der Länder und Nationen un- tereinander tief. Aber dieser Ver- such, in einem eigenen Vertiefungs- thema das Verständnis für Gesund- heitsfragen zu fördern und aus wis- senschaftlicher Perspektive zu vertie- fen, ist auch und vor allem Folge ei- ner Entwicklung, die sich von der Fürsorge für besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen zur Klärung und Umsetzung ihrer Rechte in der

Gesellschaft, ihrer Lebenslage und ihrer Teilhabechancen spannt.

Auch hierbei ist Gesundheit ein zentrales Feld und ein Handlungs- raum, der in der Eingliederungshil- fe als solcher und in seinen Heraus- forderungen und Potenzialen bis- lang weniger im Zentrum stand. In einer Situation des Übergangs, in der große Anstrengungen unter- nommen werden für mehr Teilhabe, für die Suche nach Wegen in die in- klusive Gesellschaft und für Anlie- gen, neue Steuerungen, zukunfts- weisende Ziele und ein neues Mit- einander zu erreichen, können ver- tiefte Kenntnisse und Analysen des weiten Gesundheitsfeldes für Men- schen mit und ohne Beeinträchti- gungen und Behinderung aber Ide- en geben, Risiken aufzeigen und wesentliche Wege weisen. Dies ist ein gesamtgesellschaftlicher Auf- trag, den man nicht allein dem be- stehenden Gesundheitssystem zu- ordnen und anlasten kann und darf.

26 FP 1–21

Inklusive Gesundheitssorge

Zehn Merkposten zu Aufgaben und Wegen

VON PROF. DR. ELISABETH WACKER ET. AL.

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1 Worum es geht

Seinen Beschäftigungen nachgehen können und sich gut fühlen, sind Kernziele individueller Lebensfüh- rung, die in Gemeinschaft gelingen können. So schlicht lässt sich die tie- fergehende Auseinandersetzung mit Gesundheit und anlagebeding- ten oder erworbenen Beeinträchti- gungen, mit Einschränkungen der Teilhabe und mit drohenden Be- nachteiligungen und Behinderung auf den Punkt bringen. Mit dem Zu- sammenspiel von Gesundheit, Teil- habechancen und Diskriminie- rungsrisiken bietet sich ein Beob- achtungs- und Analyserahmen, der ein gesundes Leben für alle Men- schen jedes Alters darstellbar macht, Wohlbefinden als Prüfstand nutzt und bestehende Benachtei- ligungen aufdeckt.

Genau dies will die UN-BRK im Artikel 25 festhalten und garantie- ren: Es geht um den Genuss und Er- halt des erreichbaren Höchstmaßes an Gesundheit, ohne aufgrund von Behinderung diskriminiert zu wer- den. Dabei steht auch die Bedeu- tung der Gemeinschaft mit anderen für Gesundheit zur Debatte, verbun- den mit Fragen von Anerkennung und diskriminierungsfreier Unter- stützung. Belastbares Verständnis und Wissen sind dabei wichtig, denn:

Um Benachteiligungen abzubau-

en, müssen sie sichtbar sein.

Um Bewährtes zu bewahren,

muss man die Erfolge definieren und erfassen.

Um die Anliegen der Zielgrup-

pen zu treffen, muss man sich mit ihnen beraten und sie gut kennen (lernen).

Für Menschen mit Beeinträchtigun- gen und Behinderung bedeutet das die Vision einer gleichberechtigten gesundheitlichen Teilhabe mit Zu- gang zu allen individuellen und be- darfsdeckenden Leistungen der Ge- sundheitsversorgung, der Rehabili- tation und Pflege sowie der Präven- tion und Gesundheitsförderung. 27

FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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2 Gesundheit als Gemeingut und als multidimensionaler Prozess

Gesundheit ist das gute Recht aller, sie ist sehr wichtig und zugleich schwer zu definieren. Das liegt an ihrem prozesshaften und multi- dimensionalen Charakter. Das be- deutet, es ist immer notwendig, sie

zu entwickeln,

auszuhandeln und

zu nutzen,

um sie im Sinne eines guten Lebens (weiter) voranzubringen.

Für mögliche Lebensqualität, för- derliche Lebenssituationen und selbstbestimmte beziehungsweise selbstständige Lebensführung von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung sind dazu die Stellschrauben zu finden und Wege zu bahnen, ausgehend von einem gewachsenen System der Einglie- derungshilfe und eingebunden in die Idee und das Ziel einer inklusi- ven Gesellschaft.

Für Wohlergehen und Wohlbefin- den sind entsprechend bezogen auf Menschen mit Beeinträchtigungen oder andere verletzliche Bevölke- rungsgruppen wie die alternde und

gesundheitlich beeinträchtigte Be- völkerung beispielsweise

im Versorgungssystem Vorkeh-

rungen für besondere Bedarfe zu treffen,

Isolation und Einsamkeit zu be-

kämpfen bei steigender Zahl der Einpersonenhaushalte,

in Planungen und Programme

einzubeziehen, wie ausgeprägt Vereinzelung und Einsamkeit psy- chische und körperliche Gesund- heit negativ beeinflussen sowie Ungleichheiten in der allgemei-

nen Gesundheitsversorgung zu beseitigen.

Denn es ist mit vielen Beispielen be- legbar, dass Menschen mit Beein- trächtigungen und Behinderung vie- le unerfüllte Gesundheits-, Präventi- ons-, Pflege- und Rehabilitations- bedürfnisse haben. Entgegen der aktuellen Rechtslage sind sie mit Be- nachteiligungen sowie unzureichen- der Bedarfs- und Leistungsgerech- tigkeit in der Gesundheitsversor- gung konfrontiert und müssen da- mit umgehen.

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FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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3 Gesundheit mehrfach denken: Wie geht das?

Nach der Ottawa-Charta der WHO sollen in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern

Interessen vertreten werden zu-

gunsten der Gesundheit (advo- cacy),

Kompetenzen für ein gesundes

Leben wachsen (enable) und relevante Akteure vernetzt wer-

den (mediation).

Dieses Programm gilt seit Jahrzehn- ten als zielführend und bietet in ei- nem sich dynamisch entwickelnden gesellschaftlichen Gestaltungsraum Orientierung. Wie auch Fragen der Umwelt lassen sich Gesundheitsfra- gen nur mehrfach denken: weltweit, in Organisationen und Institutionen und gleichzeitig in direkten örtli- chen und persönlichen Nahräu- men. Es kann keine Ausnahmen von Gesundheitsrechten geben, sondern der Wille muss bestehen, die umfassende Aufgabe der Teilha- be aller an der Gesundheit zum Pro- gramm zu erheben.

Dazu dienen passende Leistun- gen, Maßnahmen, Versorgungssys- teme und die größtmögliche Selbst- bestimmung der Personen, die ihre Gesundheit dann verstehen, für sie eintreten und sie verwirklichen kön- nen (empowerment). Der gegebene körperliche und psychische Zustand ist ein wesentliches Element, ebenso wie vorhandene Fähigkeiten, aber auch eine Umwelt, die sich mit Hilfe individueller, sozialer und materiel- ler Ressourcen und ohne vermeid- bare Barrieren meistern lässt. Die- ser ganzheitliche Zugang nimmt auch alle Politikbereiche in die Pflicht, nicht nur jeweils spezifische Gesundheitsdienste oder -ressorts.

Die aktuell weltweit genutzte Aus- arbeitung hierzu ist die »Internatio- nale Klassifikation der Funktions- fähigkeit, Behinderung und Ge- sundheit – ICF« (DIMDI 2005). Sie liefert wichtige Leitplanken.

4 Verhalten und Verhältnisse in der Lebensspanne Die ICF leitet die Gesundheitssorge

und zwar als Sorge bzgl. des Verhal- tens der Einzelnen als auch als Ver- sorgung durch das Versorgungssys- tem. Es geht also um Selbstsorge, z.

B. auf die eigene Gesundheit zu achten und diese zu erhalten sowie Ernährung und Fitness sicherzustel- len. Diese ist verbunden mit der Ge-

sundheitssorge im Alltag und mit er- forderlicher wachsender Gesund- heitskompetenz.

Rüstzeug ist ebenso ein Gesund- heitssystem, das alle Menschen er- reicht, mitnimmt und nicht außer Acht lässt. Es muss eine enge Ver- bindung gelingen zwischen der kommunalen Gesundheitssorge 29

FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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und den erforderlichen Therapien und medizinischen Leistungen im Gesundheitswesen, der Pflege und der Rehabilitation. Lotsendienste, die dafür Hilfe in engen strukturel- len und konzeptionellen Vernetzun- gen bieten und sichern, sind unbe- dingt zu wünschen. Dazu zählt auch die vermehrte Aufmerksam- keit und Anstrengung im Bereich der Prävention und Gesundheitsför- derung, die vorsorgend ausgerich- tet sind.

Die Zusammenarbeit von Sozial- versicherungsträgern, Ländern und Kommunen in den Bereichen Prä- vention und Gesundheitsförderung soll zur Selbstverständlichkeit wer- den und auch Personengruppen einbeziehen, die noch nicht, nicht oder nicht mehr im Berufsleben ste- hen. Alle Altersgruppen und Le- bensbereiche der Bürgerinnen und Bürger sind relevant. Die sich so ent- wickelnde und notwendige dauer- hafte Aufmerksamkeit für Chancen auf ein gesundes Leben ist eine zen- trale Aufgabe der Zukunft. Sie um- fasst alle Lebenswelten der Bür- gerinnen und Bürger und reicht von Impffragen über die betriebliche Gesundheitsförderung bis zur (Wie- der-)Herstellung von Funktionalität bei bestehenden Beeinträchtigun- gen sowie der Minderung von Be- hinderungsrisiken.

Aber aufmerksam zu sein für Fra- gen von gesellschaftlichen Erwar- tungen (Gesundheitszwängen) und Risiken der Selbst-Überforderung dient ebenso den gesteckten Ge- sundheitszielen. Gesundheit sollte nicht idealisiert werden. Sie bedeu- tet nicht, Verhalten und Aussehen zu perfektionieren, sondern vielmehr, so in Einklang mit eigenen Kräften, Möglichkeiten und Rechten zu kom- men, dass Wohlbefinden und ein gutes Leben gelingen. Für Men- schen mit vielfachen und tiefgreifen- den Beeinträchtigungen bedeutet es, wie alle anderen den Anspruch auf ein bedarfs- und leistungs- gerechtes gesundheitliches Versor- gungssystem zu haben. Genügt das Regelversorgungssystem ihren Be- darfen im Einzelfall nicht, müssen Benachteiligungen bei der spezi- fischen medizinischen Versorgung, der Zugänglichkeit und Verständ- lichkeit bis zur Überwindung bauli- cher, finanzieller und struktureller Barrieren ausgeglichen werden.

Hierzu sind gegebenenfalls auch persönliche Assistenzdienste not- wendig. Beispiele, wie bestehende Lücken gefüllt werden können, sind die Sozialpädiatrischen Zentren und auch die im Aufbau befindli- chen Medizinischen Zentren für er- wachsene Menschen mit Behin- derung.

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FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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5 Spielräume im Gesundheitsfeld Barrieren in der Gesundheitsversor-

gung für Menschen mit Beeinträch- tigungen und Behinderung sind hin- länglich bekannt. Die subjektive Ein- schätzung der Expertinnen und Ex- perten in eigener Sache zur Erreich- barkeit, Verfügbarkeit, Nutzbarkeit und Bezahlbarkeit der allgemeinen Gesundheitsversorgung macht seit Beginn der Teilhabeberichterstat- tung auf solche Schwierigkeiten auf- merksam. Dies betrifft vor allem die Zugänglichkeit zu allgemeinen Ge- sundheitsleistungen, aber auch die Verständlichkeit des Rechts und der medizinisch geprägten beziehungs- weise gesundheitsrelevanten Kom- munikationen.

Dass Teilhabechancen aber nicht nur mit mehr Zugang zu Gesund- heit einhergehen, sondern auch durch den Gesundheitsschutz be- grenzt werden können, lehrt die Co- rona-Pandemie. Hier müssen also

»neue Gleichungen« aufgemacht werden. Es geht darum, Chancen- gerechtigkeit und Menschenwürde in der Lebenssituation aller Men- schen ebenso zu gewährleisten wie die Rechte auf Freiheit und Selbst- bestimmung, Gleichbehandlung und Teilhabe. Das seit langem an- dauernde Ringen um passende, all- gemeine Maßstäbe für Gesundheit wird damit intensiver und gemein- schaftlicher; allgemeine Lebensqua- lität (Quality of Life) beziehungswei-

se gesundheitsbezogene Lebens- qualität (Health related Quality of Life) werden schon länger als Prüf- größen in der wissenschaftlichen Diskussion genutzt und halten nun auch in der Praxis Einzug in die Ge- staltungen der Leistungssysteme.

Damit ist eindeutig klargestellt, dass beispielsweise der Weg der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung nicht zur besseren Gesundheitssorge in die Isolation führen darf. Stattdessen geht es um die Aufgabe, bei bestehenden Ge- sundheitsanliegen höhere Aufmerk- samkeit für Lösungen zu finden, die Gesundheitschancen ebenso wie Teilhabe und Wohlbefinden verbes- sern. Zu denken ist beispielsweise an

Programme zur Stärkung der

körperlichen und psychischen Widerstandskräfte,

Kontakte im medialen Bereich

(etwa über Hotlines),

Teilhabestärkung (über partizipa-

tive Verfahren) sowie

Aufmerksamkeit für Benach -

teiligungen.

Diese Aufgaben sind unbedingt für Menschen mit und ohne Beeinträch- tigungen gleichermaßen zu lösen.

Ziel ist es nämlich, für alle Bürgerin- nen und Bürger Ressourcen bereit zu halten und Resilienzen (Wider- standskräfte) aufzubauen. Dazu wird es auch helfen, mehr Verständ- 31

FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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nis über gesundheitswirksame Zu- sammenhänge und Entscheidun- gen zu gewinnen und allen Men- schen zugänglich zu machen. Zu- gleich gilt es, auf politischer Ebene das Bewusstsein für die Lage der Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung zu schärfen, aber auch bei den Fachdiensten des me-

dizinischen Feldes und der sozialen Dienste. Heimleitung, Ämter, Ge- richte sollen mit besseren Informa- tionen und mit Hilfe der Diskurse um Gesundheit, Teilhabechancen und Diskriminierungsrisiken in ihrer beruflichen und gestalterischen Auf- gabe informiert und gestärkt wer- den.

6 Gesundheit als Querschnittsaufgabe Gesundheit wird also zu einer Dau-

er- und Querschnittsaufgabe (health in all policies), das heißt bei allen Entscheidungen und Planun- gen ist mitzudenken, welche Ge- sundheitswirkungen eintreten sollen und können, auf persönlicher Ebe- ne, in Städten und Gemeinden, für die Bundesländer und national, aber ebenso in Freizeit, Beruf, Bil- dung und bezogen auf alle Hand- lungsfelder und Organisationen, in denen Alltag gestaltet und gelebt wird. Wie das Anliegen einer inklu- siven Gesellschaft (inclusion in all policies) wird sich auch diese An- strengung zugunsten gerechterer Chancen auf Gesundheit lohnen.

Benachteiligungen von Personen und Personengruppen werden dann abgebaut werden und Diskri- minierungen nicht zugelassen.

Wohlbefinden (well-being) für alle zu erreichen ist damit eine gesell- schaftliche Aufgabe für alle (Ge- sundheit als Gemeingut) und bleibt nicht nur der Selbstsorge Einzelner

überlassen. Entsprechende Leis- tungsgestaltungen behandeln dem- nach nicht mehr nur Gesundheits- mängel und Abweichungen (Diffe- renzen), sondern beseitigen oder mindern benachteiligende Lebens- umstände.

Die Bundesregierung hat im Jahr 2016 über ihren Behindertenbeauf- tragten in einer Tagungsreihe unter dem Motto Teilhabe braucht Ge- sundheit darauf aufmerksam ge- macht, dass, um umfassende Teil- habe zu erreichen, Umweltbarrie- ren und strukturelle Barrieren im Gesundheitssystem ebenso wie Gleichberechtigungshürden zu überwinden sind. Beispiele sind der Zugang zu Kranken- und Lebens- versicherungen, zu Hilfsmitteln des täglichen Gebrauchs, die die Selbst- ständigkeit und Sicherheit im Alltag erhöhen oder zu Gesundheitsleis- tungen, die nicht durch (hohe) Ei- genleistungen und Zuzahlungen verstellt werden dürfen. Vor allem aber geht es auch um die erforder-

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FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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liche Aufmerksamkeit und Offen- heit für Bedarfe und Bedürfnisse,

die von der Wertschätzung für die Menschen getragen wird.

7 Menschen im Blick – vorsorglich und aufmerksam Eine Lehre der Corona-Pandemie

ist, dass der Schutz der Schwäche- ren hohe Bedeutung hat – aber auf- grund vielfältiger Wechselwirkun- gen mit Bedacht ausgestaltet wer- den muss. Der Mensch und seine Würde sowie der Mensch als Ge- fährder oder als Gefährdeter durch Viren stehen in bestimmten Versor- gungslagen im Spannungsverhält- nis. Damit Hand in Hand gilt einer- seits die Sorge

der möglichen Überforderung

der Gesundheitssysteme (von In- tensivstationen bis zu Gesund- heitsämtern),

den sogenannten Risikogruppen

wie Menschen im höheren Le- bensalter und mit gesundheitli- chen Beeinträchtigungen, die be- sonderen Schutz benötigen und andererseits

der Aufmerksamkeit für ange-

messene Gesundheitschancen als Daueraufgabe.

Es geht nicht nur um die Systeme der Versorgung, sondern es geht auch um die Angst um die Men- schen und die Angst der Menschen, mit den gesundheitlichen Risiken le- ben und umgehen zu müssen, die zukünftige Planungen und Entschei- dungen einbeziehen und beherzi- gen müssen. Aktuell besteht in den

Bevölkerungsgruppen mit höherer Verletzlichkeit auch Sorge

übersehen und vergessen zu wer-

• den,

einer beschädigten Existenz (mit

Langzeitschäden der Gesundheit und des Vermögens),

aus der Gemeinschaft zu fallen

und einsam zu bleiben,

Lebenszeit zu verlieren und Le-

bensqualität einzubüßen sowie nicht geschützt zu sein, vor exis-

tenziellen Nöten wie Verlust von Einkommen, Unterkunft oder auch Gewalt und Diskriminie- rung.

Mit diesen Ängsten gehen Men- schen mit Beeinträchtigungen und Behinderung unterschiedlich um.

Im Rahmen der Corona-Pandemie kommen einige langsam in die Öf- fentlichkeit, flankiert von Einschät- zungen zwischen unfreiwilliger Iso- lation (Exklusion) und Unverständ- nis oder mit dem Ruf nach Schutz von Minderheiten. In der Mehrheits- bevölkerung fehlt zugleich oft das Wissen um die Umstände von Ver- letzlichkeiten und deren Verbreitung (beispielsweise im hohen Lebens- alter). So können unangemessene oder mangelnde Kommunikation, unsensible Umweltgestaltung (z. B.

Barrieren der Zugänglichkeit, der 33 FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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Orientierung und Verständlichkeit), rigide Untersuchungsabläufe (wie lange Wartezeiten, kurze Informati- on in komplizierter Sprache oder unangebrachte Umgangsformen) Emotionen wie Mutlosigkeit oder Empörung hervorrufen oder verstär- ken. Dies alles erhöht soziale Bar- rieren. Zwischen Sorgen um Mit- menschlichkeit und auch um eigene Freiheitsrechte fällt es oft schwer, den Weg der Solidarität und Sub- sidiarität zu finden.

Das gilt auch für den Personen- kreis der Menschen mit Unterstüt- zungsbedarf (beispielsweise im Be- reich der Pflege), der auf fachliche und bürgerschaftliche Unterstüt- zung angewiesen ist, seine Privat- heit nur schwer abgrenzen kann und auf das solidarische Verhalten in seiner Umwelt vertrauen muss.

Personengruppen, die dabei als Risikogruppe beziehungsweise be- sonders vulnerabel gelten, können sehr unterschiedliche Bedarfe ha- ben und Bedürfnisse verfolgen wol- len. Sei es, weil sie psychische oder physische Beeinträchtigungen ha- ben; sei es, weil sie verschieden sind nach Aspekten wie Alter, Ge- schlecht, sexueller oder religiöser Orientierung, Herkunft und kulturel- ler Einbindung. Aber unabhängig davon haben alle Menschen die gleichen Rechte, nicht als Einzelper- son oder Gruppe ausgeschlossen

beziehungsweise eingeschlossen zu werden, ohne dass gleichzeitig ein Mindestmaß an sozialer Interaktion gewährleistet wird. Mit der Umset- zung dieser Vorgaben ringen der- zeit vielfach Behörden auf dem Ver- fahrensweg sowie Einrichtungen, die soziale Dienste erbringen.

In diesen vielfach unterschiedli- chen Ausgangslagen und Zielset- zungen kann es ein erstes Ziel sein, die Vielfalt der Anliegen und Anfor- derungen im Blick zu halten, bei- spielsweise über Kommunikation, Einbindung, gemeinsame Planun- gen und Umsetzungen, Verständnis füreinander, Solidarität und Auf- merksamkeit für Risiken.

Es ist wichtig, Menschen mit Be- einträchtigungen und Behinderung einzubeziehen, sich zu Plänen zu beraten, Maßnahmen zu erklären und so nachvollziehbar zu machen.

Aber ebenso verdienen pflegende Angehörige, professionelle Pfle- gekräfte und viele weitere Gruppen Aufmerksamkeit, denen beispiels- weise Überlastungen oder Entwick- lungsverzögerungen (etwa bei Kin- dern, die nicht am Bildungssystem teilnehmen können) drohen oder Er- werbstätige, die Einkünfte und so- ziale Teilhabe verlieren. Viele ver- schiedene passende Gestaltungs- wege müssen noch weiter diskutiert, abgewogen und realisiert werden.

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FP 1–21 Wacker et. al. – Inklusive Gesundheitssorge

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