Grundlagen, Verfahren und Kriterien der Triage.
Eine juristische Perspektive
Prof. Dr. Winfried Kluth
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Vortrag im Rahmen der Tagung „Religion und Seuchen“ der Evangelischen Akademie Loccum am 26. Februar 2021
Triage –
ein medizinethischer Klassiker in neuem Gewand
Vom Schlachtfeld in den Corona-Alltag
• Die Triage als Verfahren der Entscheidungsfindung bei einer großen Zahl von Verletzten und begrenzten ärztlichen Kapazitäten wurde für den Lazaretteinsatz im Krieg entwickelt.
• Es findet in einem ersten Durchgang eine Klassifizierung in vier Gruppen statt, durch die eine Reihenfolge der Behandlung (oder Nichtbehandlung) festgelegt wird.
• Es besteht die Zielvorgabe so zu entscheiden, dass die bestmögliche Erhaltung der Einsatzfähigkeit der militärischen Einheit anzustreben ist.
• Das Allgemeininteresse steht somit über dem Einzelschicksal.
• Bei der Adaption auf zivile Katastrophenfälle hat sich das partiell geändert,
wobei die zweiphasige Verfahrensweisen teilweise übernommen wurde.
Die juristische(n) Perspektive(n)
• Systematische Einordnung
• Rationierung
• Priorisierung
• Triage
• Ebenen und Methoden des offenen und verdeckten Umgangs mit knappen Ressourcen
• Kernfrage Auswahlentscheidungen
• Wer trifft die Entscheidung
• Welche Kriterien sind zulässig / geboten / ausgeschlossen
• Anforderungen an das Verfahren und seine Transparenz
• Aktuelle Streitfragen und Unsicherheiten
Systematische Einordnung
Kaskaden der Ressourcenknappheit und ihrer „Verwaltung“
Ebenen der Ressourcenallokation
• Trotz der im internationalen Vergleich im Spitzenfeld liegenden
Finanzierung des Gesundheitsbereichs sind dessen Finanzen auch in Deutschland begrenzt.
• Bei der Zuweisung der Mittel werden kaskadenartig
Allokationsentscheidungen getroffen, die zu Schwerpunktsetzungen führen:
• Stationärer Bereich – Ambulanter Bereich
• Zuweisungen zu den Fachgebieten
• Budgets für Heil- und Hilfsmitteln
• Hier spielen auch das Budget für Notfallmedizin und die Personalausstattung eine wichtige Rolle.
• Es kommt auf allen Stufen zu wenig sichtbaren Rationierungen.
(In)Transparenz der Entscheidungen
• Die Allokationsentscheidungen sind durch ein hohes Maß an Intransparenz geprägt.
• Sie unterliegen komplexen politischen Einflüssen.
• Der Versuch, mit Hilfe des GBA eine bessere und strukturierte Steuerung zu erreichen ist im Gang aber mühsam.
• Die COVID-19-Pandemie hat u.a. eine Unterausstattung der
Gesundheitsämter offengelegt.
Folgen für die Patienten und Bezüge zur Triage
• Die zahlreichen Allokationsentscheidungen wirken sich auf die Patienten in der Regel kaum sichtbar aus, weil sie nur mit den Ergebnissen an der Versorgungsfront konfrontiert werden.
• Spürbar werden die Beschränkungen u.a. bei seltenen Krankheiten.
• Im Krankenhausbereich ist die Triage vor allem eine Folge der an Durchschnittswerten ausgerichteten Intensivbettenzahl sowie der daran gebundenen begrenzten Zahl an Fachpersonal in der Pflege.
• Mit Blick auf eine Pandemie lässt sich dies kaum vermeiden, weshalb der Umgang mit der Triage in Ausbildung und Weiterbildung
verankert sein sollte.
Kernfrage Auswahlkriterien
Standpunkte und ihre jeweiligen Problematiken
Systematik
• Die wesentlichen Gesichtspunkte der Entscheidungsfindung:
• Wer trifft die Entscheidung
• Welche Kriterien sind zulässig bzw. geboten
• Anforderung an das Verfahren und seine Transparenz
• Die aktuelle Rechtslage:
• Keine expliziten gesetzlichen Vorgaben sondern Verweis auf allgemeine strafrechtliche und berufsrechtliche Standards
• Leitlinien von Fachgesellschaften – teilweise im Widerspruch zur herrschenden rechtlichen Meinung
• Konkretisierungskompetenz der Klinikleitungen
• Primat der einzelfallbezogenen Betrachtung und Entscheidung - mit rechtlichem Restrisiko
• Schwach etabliertes überörtliches planerisches Instrumentarium
Allgemeine Fragestellungen
• Gelten für alle Akteure die gleichen Kriterien und Anforderungen – oder ist der Staat an strengere Vorgaben gebunden?
• Was sind die Folgen eines (bewussten) Verzichts auf gesetzliche Vorgaben?
• Welche Rolle können / dürfen Fachorganisationen spielen?
• Welche strafrechtlichen und berufsrechtlichen Risiken bestehen und wie können diese minimiert werden?
• Welche Folgen hat die bestehende Unsicherheit für Patienten?
Terminologische Klarstellungen
• Priorisierung / Triage
Bei der Triage handelt es sich in der Sache um eine Priorisierung, die auf ein thematisch enger gezogenes Entscheidungsfeld bezogen ist, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es um zeitnahe Überlebensfragen geht.
• Ex-ante-Triage
Auswahlentscheidung vor Aufnahme der Behandlung.
• Ex-Post-Triage / Konkurrenz
Auswahlentscheidung zwischen bereits behandelten und noch nicht behandelten Patienten mit dem möglichen Ergebnis des (intensivmedizinischen)
Behandlungsabbruchs bei einigen Patienten.
Erste Übersicht nach Standpunkten und Akteuren
• Deutscher Ethikrat
ØVerfassung +
Strafrecht genügen ØAblehnung der Ex-
post-Triage
ØKeine Maximierungs- strategie
ØEinzelfallentscheidung mit Risiko unter
Bezugnahme auf
• DIVI
ØAbweichend zum Ethikrat wird hier die Orientierung an der Nutzenmaximierung in den Vordergrund
gestellt und nur auf rechtliche Risiken hingewiesen.
ØEs werden auch Kriterien für die Ex- post-Triage formuliert.
• Bundesärzte- kammer
ØAn der Nutzenmaxi- mierung orientierte einzelfallbezogene Entscheidungen
werden als rechtmäßig bezeichnet
ØEs wird auf die Notwendigkeit von Zuständigkeits- und Verfahrensregeln
• Abw. Meinung Literatur
ØAndere Deutung/
Ablehnung des
Verbots der Abwägung von Menschenleben ØBefürwortung einer
weiten Ex-post-Triage / Orientierung an
Erfolgsaussichten und Lebenschancen
Streitfrage „Abwägungsverbot“
Herleitung und Interpretation seiner inhaltlichen Reichweite
Ethikrat – Grundorientierung der Verfassung
„Verbindlicher Rahmen auch für die ärztliche Ethik sind fundamentale Vorgaben der Verfassung: Die Garantie der Menschenwürde fordert eine egalitäre Basisgleichheit und statuiert damit einen entsprechenden basalen Diskriminierungsschutz aller. Für den Staat als unmittelbaren Adressaten der Grundrechte gilt darüber hinaus der Grundsatz der Lebenswertindifferenz: Be- oder gar Abwertungen des menschlichen Lebens sind ihm untersagt. Jede
unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen
Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten
Krisensituationen ist unzulässig. Jedes menschliche Leben genießt den
gleichen Schutz. Damit sind nicht nur Differenzierungen etwa aufgrund des
Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt. Auch eine Klassifizierung
Gegenpositionen
• Teilweise wird die Tragfähigkeit der in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich in Frage gestellt und unterstellt, dass diese von der aktuellen Besetzung nicht mehr fortgeführt wird (Hoven).
• Das ist wenig überzeugend, zumal es sich nicht um eine einzelnen Entscheidung, sondern um eine längere Rechtsprechungslinie und eine Entscheidung des gemeinsamen Senats handelt.
• Es wird weiter argumentiert, dass es nicht um die abwägende Bewertung
menschlichen Lebens, sondern um die Zuordnung von Behandlngsansprüchen geht (W. Lübbe).
• Diese Position ist m.E. überzeugender und knüpft an die alte Debatte zur Reichweite von Handlungsbefugnissen bei der Schadensminimierung an. Dafür spricht zudem, dass es sich letztlich um eine Fortsetzung der verdeckten Rationierungen im Gesundheitswesen handelt.
• Das Bewertungsverbot ist in Bezug auf Verfügungsakte entwickelt worden, deren Verständnis im Wege einer teleologischen Reduktion geschärft und begrenzt werden sollte.
• Die h.M. ist insoweit inkonsistent, weil sie diese Entscheidung letztlich als private
Entscheidung toleriert und so die staatliche Verantwortung ausschließt und von Tragik spricht.
Weitere Argumente und Fragen
• Es ist erforderlich, die pauschale teilweise zu pauschale Ablehnung von Nutzenerwägungen und Allokationsoptimierungen zu überwinden.
• Trotz der Schwierigkeit, für alle Fallgruppen gleichermaßen taugliche Kriterien zu finden, die die Würde jedes Patienten achten und willkürfrei angewendet werden können, sollte dieser Weg auch rechtssicher eröffnet und nicht auf die Einzelfallentscheidung der Ärzte verlagert werden.
• Macht sich der Staat die aus guten Gründen begrenzte Verantwortung des Einzelnen zunutze, um der eigenen umfassenderen Verantwortung
auszuweichen?
• Die aktuelle “Delegation“ der Zuteilung von Überlebenschancen auf den
Streitfrage Auswahlkriterien
Prioritätsgrundsatz versus Erfolgsaussichten / Lebenschancen
Vorbemerkungen
• Es besteht (schon aus Gründen der political correctness) Konsens,
dass die allgemein anerkannten Diskriminierungsverbote zu beachten sind.
• Offen ist, inwieweit die nachstehend diskutierten sonstigen Kriterien zu einer verdeckten Diskriminierung führen können.
• Dieses Problem sollte deshalb mitgedacht werden.
Das Problem des Zeitfaktors
• Der u.a. auf den Sachsenspiegel zurückgehende Prioritätsgrundsatz wird vielfach als egalitär und willkürfrei eingestuft und deshalb in vielen
Auswahlverfahren als geeignetes Kriterium angesehen und genutzt.
• Im Verfassungsrecht hat u.a. Voßkuhle aber schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass damit keine verantwortliche Sachentscheidung
getroffen sondern die Entscheidung dem Zufall oder verdeckten Faktoren zugewiesen wird.
• Deutlich wird dies bei dem Argument, der Arzt sei dem bereits in
Behandlung befindlichen Patienten vertraglich verpflichtet und dürfe gegenüber dem später eintreffenden den Vertragsabschluss verweigern.
• Dieses Argument verkennt einerseits den Vorrang des gleichrangigen gesetzlichen Versorgungsanspruchs und auch die Fälle, in denen die
Patienten schon in Behandlung und nur nicht auf der Intensivstation sind.
Das bedeutet aber nicht ...
• ... dass nach heutiger Rechtslage der „Rückzug“ auf den Prioritätsgrundsatz verboten ist.
• Es gibt demnach keinen Zwang, eine Ex-post-Triage durchzuführen, solange die weitere Behandlung noch indiziert ist.
• Die Stellungnahme der DIVI macht aber deutlich, dass die Indikation
der Fortführung der intensivmedizinischen Behandlung kontinuierlich
geprüft werden muss.
Die zu diskutierende Kernfrage
• Entscheidend ist damit die Frage, welche Kriterien positiv und in welchem Verfahren verwendet werden können. Genannt werden
• Erfolgsaussichten
• Lebenserwartung
• Lebenschancen
• Verantwortungslagen
• Da Aussichten, Erwartungen und Chancen jeweils in erheblichem
Umfang von schwierigen Prognosen abhängig sind, erweist sich das
vierte Kriterium noch als das „objektivste“.
Streitfrage Rechts(un)sicherheit
„Verantwortungszuteilung“ zwischen Staat und Ärzten
Übersicht
• Ethikrat / h.M.: Es gibt keine rechtliche Lösung, sondern eine Trafik, deren Auflösung Privatpersonen im Einzelfall unter Hinweis auf eine mögliche strafrechtliche Entschuldigung zugewiesen wird.
• Gegenposition: Staat und Recht müssen die Verantwortung für solche Entscheidungen übernehmen – und können das auch.
• Das kann auch durch ein klares gesetzliches Verbot des Ex-post-Triage erfolgen.
• Ein mittlerer Weg, der in den Stellungnahmen der med.
Fachgesellschaften angelegt ist, könnte darin bestehen, die Anforderungen an die Indikation der Fortführung der
Intensivbehandlung zu erhöhen.
So what?
Orientierungen für die Praxis
Fazit der herrschenden Meinung
„Triage-Situationen eignet eine spezifische Tragik; hier gibt es keine „guten“, sondern allenfalls vorzugswürdige Entscheidungen. Ihr normativer Rahmen wird durch das deutsche Verfassungs- und Strafrecht hinreichend deutlich gezogen. Weitergehende Orientierung können – in den rechtlich bestimmten Grenzen – außerrechtliche Standards leisten. Dass die rechtlichen Vorgaben sich weitgehend auf negative Abgrenzung beschränken und positive
Allokationskriterien ausschließen, ist nicht zu kritisieren. Es ist Ausdruck
einer für das Verhältnis von Individuum und Staat essentiellen Vorgabe. Das grundlegende Bewertungsverbot garantiert jedem Einzelnen eine
elementare Basisgleichheit und sichert so seine dem staatlichen Zugriff entzogene Subjektstellung. Hiervon auch nur partiell, zeitlich oder
bereichsbezogen begrenzte Ausnahmen zuzulassen, würde das Fundament unserer Rechtsordnung antasten.“
(Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704, 714)
Kommentar
• Die h.M. und der Deutsche Ethikrat wollen aus nachvollziehbaren Gründen kein Risiko eingehen, indem sie sich auf eine Position
formaler Gleichheit zurückzieht, ohne diese aber im medizinischen Alltag durchzusetzen.
• Humanität wird damit in einer rechtlichen Grauzone einer
Berufsgruppe zugewiesen, der Aufsicht der Berufskammern einerseits und der Staatsanwaltschaften und Strafgerichte unterliegt.
• Das mag in Zeiten, in denen Triage ein äußerst seltenes Phänomen ist,
eine passende Lösung sein.
Ausblick
• Die „Tragik“ der Triage kann auf der Grundlage der h.M., die
unausgesprochen eine „Herrschaft des Zufalls“ etabliert, nicht leicht überwunden, aber durch eine Reihe von Maßnahmen abgemildert werden.
• Dies sind aus meiner Sicht:
• Weiterentwicklung des „Katastrophenmanagements“ um rechtzeitig zusätzliche intensivmedizinische Kapazitäten zu schaffen
• Vertiefung der Debatte über die Kriterien der Aufnahme und Beendigung intensivmedizinischer Behandlungen
• Weitere Ausdifferenzierung der zulässigen Kriterien und geeigneten Verfahren
– ggf. auch durch das Berufsrecht
Literaturhinweise:
• Übersicht zu Stellungnahmen / Beiträgen auf der Homepage der AEM:
https://www.aem-online.de/index.php?id=163
• Aufsätze zur strafrechtlichen Perspektive:
• Engländer/Zimmermann, „Rettungstötungen“ in der Corona-Krise?, NJW 2020, 1398 ff.
• Hoven, Die „Triage“-Situation als Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft, JZ 2020, 449 ff.
• Sternberg-Lieben, Corona-Pandemie, Triage und die Grenzen rechtfertigender Pflichtenkollision, MedR 2020, 627 ff.
• Aufsätze zu verfassungsrechtlichen Aspekten:
• Lindner, Die „Triage“ im Lichte der Drittwirkung der Grundrechte, MedR 2020, 723 ff.
• Merkel/Augsberg, Die Tragik der Triage - straf- und verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen, JZ 2020, 704 ff.
• Brade/Müller, Corona-Triage: Untätigkeit des Gesetzgebers als Schutzpflichtverletzung?