Die Bedeutung des Codex Reucblinianus
für die hebräische Sprachgeschichte
Dargestellt am Dages-Gebraucli
Von Rudolf Meyer, Jena
Unsere heutigen Grammatiken fußen auf der tiberischen Aussprache¬
tradition, wie sie im wesentlichen durch das Ben-Aser-System bestimmt
ist; dies gilt nicht nur von der großen Anzahl der für den Anfänger-
tmterricht bestimmten Lehrbücher, sondern in gleicher Weise von den
wissenschaftlichen Darstellungen im eigentlichen Sinne des Wortes. Sei
es nun, daß man sich des textus receptus bedient, wie ihn die Bomber¬
giana in der freilich recht zweifelhaften und modernen philologischen
Ansprüchen kaum noch genügenden Rezension des Jakob ben Chayim
von 152/425 bietet' und wie er in den meisten Bibelausgaben bis heute
fortlebt, oder sei es, daß — methodisch allerdings weit gerechtfertigter —
der Leningradensis vom Jahre 1008 und der Kairiner Prophetenkodex
aus dem Jahre 895 zur Grundlage für eine wissenschaftliche Betrachtung
des biblischen Hebräisch genommen werden^, so bewegt man sich doch
stets im gleichen Kreise. Mit anderen Worten, man steht in jedem FaUe
einem relativ homogenen Traditionsmaterial gegenüber, das, wenn es
konkurrenzlos dastände, als Basis für ein geschlossenes Lehrgebäude
dienen könnte*. In der Tat fußt denn auch — um nur ein markantes
Beispiel zu nennen — die „Historische Grammatik der Hebräischen
Sprache" von H. Bauer und P. Leander, die leider nur ein Torso ge¬
blieben ist, auf dem textus receptus, wie ihn Chr. D. Glnsbubg 1908£F.
(Neuausgabe 1926) ediert hat*.
1 Vgl. P. Kahle, The Cairo Geniza^, Oxford 1959, S. 105—109.
' Für die Neubearbeitung der Biblia Hebraica wird wiederum als Ganzes
der Codex Leningradensis B 19 A die Basis bilden; vgl. hierüber P. Kahle,
a.a.O., S. 131—138; ders.. Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch,
Stuttgart 1961, S. 76—79.
' Diese Grenzen werden auch dmch den Kodex aus Aleppo nicht über¬
schritten ; über ihn vgl. P. Kahle, Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch, S. 80—88.
* Vgl. Baueb-Leandeb, Historische Grammatik der Hebräischen Sprache I,
Halle 1922, S. VI : „Als Bibeltext wmde die Ausgabe von Ch. D. Ginsbmg ...
zugrunde gelegt . . ."; über Ch. D. Ginsbüeg, The Old Testament, diligently
revised according to the Massorah and the early editions ivith the various
readings from MSS and the ancient versions, siehe P. Kahle, The Cairo
Geniza^ S. 110—120.
4«
62 Rudolf Meyee
Aber der Benutzer unserer Grammatiken oder der von R. Kittel ins
Leben gerufenen Biblia Hebraica, die trotz aller ihr entgegengebrachten
Kritik noch immer die weitaus beste wissenschaftliche Handausgabe
darstellt, ahnt in der Regel nicht, wie schwankend im Grimde der Boden
ist, auf dem er philologisch so sicher zu stehen meint. Darüber braucht
man sich nun freilich nicht allzu sehr zu wundern ; denn an den meisten
neueren Darstellungen zur hebräischen Sprachgeschichte sind die grund¬
legenden Entdeckungen P. Kahles — um nur den Pionier auf diesem
Gebiete zu nennen — bisher fast spurlos vorübergegangen. Nicht sehr
viel besser steht es mit den sprachgeschichtlichen Erkenntnissen, die
sich aus den hebräischen Texten insbesondere von Qumran ergeben;
ihnen erschließt man sich nur zögernd und dabei nicht selten unter der
sorgfältig versteckten Prämisse, daß dem tiberischen Aussprachesystem
der Ben Aser, dem einst die Autorität des Maimonides zum Siege ver¬
holfen hatte^, mehr oder weniger normative Geltung zukomme.
Es muß daher als ein besonderes Verdienst von Alexander Sperber,
Professor am Jewish Theological Seminary of America in New York,
angesprochen werden, daß er — der einstige Schüler P. Kahles —
1945 den Plan faßte, in den europäischen Bibliotheken nach Bibelhand¬
schriften zu suchen, die in bezug auf Vokalisation, Akzentsystem und
Masora noch nicht der Normierung unterliegen, wie wir sie oben kurz
gekennzeichnet haben. Zwischen 1947 und 1954 bereiste Sperber
wiederholt die Bibliotheken in Europa, und das Ergebnis bestand in
vier Kodizes, die er nunmehr unter dem Titel: ,,The Prc-Masoretic Bible"
in der von Rafael Edelmann herausgegebenen Reihe ,, Corpus Codicum
Hebraicorum Medii Aevi" im Faksimile-Druck vorlegt beziehungsweise
noch vorzulegen gedenkt. Hierbei handelt es sich um folgende Texte:
1. Codex Reuchlinianus : Badische Landesbibliothek Karlsruhe
Nr. 3 [früher Durlach 55] vom Jahre 1106; Kopenhagen 1956.
2. Parma-Pentateuch: Ms. Parma Nr. 1849 [früher de Rossi Nr. 668]
aus dem 13. /14. Jahrhundert; Kopenhagen 1959.
3. Parma-Bibel: Ms. Parma Nr. 2808 [früher de Rossi Nr. 2] aus
dem 13. Jahrhundert; Kopenhagen 1959.
Als bisher noch nicht erschienen kommt schließlich hinzu :
4. Die Londoner Bibel: Britisches Museum Add 21161; sie enthält
die Propheten und Hagiographen und stammt etwa aus dem Jahre
1150. Zu dieser Handschrift ist vorläufig Chr. D. Ginsbueg,
Introduction to the Massoretico-Critical Edition oj the Hebrew iJi-
We. London 1897. S. 632—641 zu vergleichen.
^ Vgl. etwa Beee-Meyee, Hebräische Granunatik I", Berlin 1952, § 5, 8.
Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus 53
Die schöne Neuausgabe des die „Acht Propheten" enthaltenden Reuchli¬
nianus ist mit einer „General Introduction" versehen*, die außerdem in
erweiterter Gestalt als Buch mit dem Titel: ,,A Grammar of Masoretic
Hebrew, a General Introduction to the Pre-Masoretie Bible", Kopenhagen 1959, erschienen ist'.
Diese Grammatik, die in erster Linie für den Fachmann geschrieben
ist*, stellt gleichsam den Begleittext zu den vier Kodizes dar. Allerdings
ist hierbei zu beachten, daß nicht alle Kapitel in gleicher Weise zu dem
durch die Texte gegebenen Thema in Beziehung stehen. So beziehen sich
die Kapitel I: ,, Biblical Vocabulary and Hebrew 'Sprachschatz'"; III:
,,Israelitish and Judaean Hebrew"; IV: „The Dead Sea Scrolls" and
V: ,,The Masoretic Text" vorrangig auf den Ertrag der bisherigen
Forschungsarbeiten Speebebs. Andererseits hätte man vielleicht gern
gesehen — und würde es wohl auch für eine Neuauflage der Grammatik
wünschen ■—, wenn die ,, General Introduction" eine eingehende Be¬
sprechung der Handschriften enthielte, die — soweit ich sehe — nicht
geboten wird. Des weiteren geht Speebee nieht auf das übrige, mit den
vorliegenden Handschriften verwandte Material ein, das bereits P. Kahle
in Zusammenarbeit mit R. Edelmann in: Masoreten des Westens II,
1930, S. 45*ff., besprochen hat; ebenso fehlt die Bezugnahme auf ein
weiteres Fragment, das Sh. H. Blank im Jahre 1931/2 aus dem Besitz
des Hebrew Union College in Cincinnati veröffentlichte*, sowie auf das
niedersächsische Pentateuchfragment des Codex Wolters I, dessen
Edition im Jahre 1936/7 wir J. Hempel verdanken'".
Dasjenige aber, was Speebebs Grammatik besonders wertvoll macht
und vor allem den Codex Reuchlinianus in neuem Lichte erscheinen
läßt, ist Kapitel II: ,,The Pronunciation of Hebrew". Hier findet man
eine große Anzahl beachtenswerter, Feststellungen und Vermutungen,
die nach meinem Dafürhalten vom Standpunkt sprachgeschichtlicher
' Codex Reuchlinianus with a General Introduction: Masoretic Hebrew by
Alexander Sperber (Corpus Codicum Hebraicorum Medii Aevi, redigen-
dum curavit Rafa«l Edelmann: Pars II, 1). Kopenhagen 1956, S. I — L.
' Vgl. meine Anzeige dieses Buches sowie der bisher vorliegenden Kodizes in: Vetus Testamentum 11, 1961, S. 475—486.
'A.a.O., S. 17: ,,This is a grammar for grammarians: for Hebrew scholars,
who are well-read in the Bible, sensitive to problems, which it presents to
the philologian and who do not find the cmrent granunars appealing to their
philological taste: neither in the way they pose the problems, nor in the
solutions which they offer".
* Sh. H. Blank, A Hebrew Bible Ms. in the Hebrew Library. Hebrew Union
Cohege Annual 8/9, Cmeinnati 1931/32, S. 229—255.
" J. Hempel, Fragmente einer dem Codex Reuchlinianus (Durlach 55) ver¬
wandten Handschrift des hebräischen Pentateuch aus Niedersachsen. NGG,
N.F., 1937, Band I (Nr. 7), S. 227—237.
54 Rudolf Meyeb
Forschung her ernsthaft diskutiert werden sollten. In einem Kurzbericht,
wie er auf diesem Kongreß gegeben werden soll, können natürlich nur
einige Beispiele aus einem begrenzten Thema kritisch herausgegrififen
werden, imd wenn wir uns im folgenden auf den Reuchlinianus be¬
schränken, so gibt hierzu Speebee selbst die Berechtigung an die Hand,
insofern als er selbst bei seinen Ausführungen den Nachdruck auf diesen
berühmten Kodex legt, da er in seinem Punktationssystem von allen
vier Handschriften die größte Ursprünglichkeit aufweist.
Im Jahre 1922 schrieb P. Kahle : „Am vollkommensten ist die Dages-
und Raphesetzung ausgebildet in einer Gruppe von besonders wertvollen
und alten Handschriften, zu denen der Reuchlinianische Propheten¬
kodex ... und einige andere gehören. Man kann ... im allgemeinen als
Regel aufstellen, daß — abgesehen von den Laryngalen und 1 — jeder
Konsonant, der eine Silbe beginnt, ein Dages erhält, wenn ihm eine ge¬
schlossene Silbe oder ein trennender Akzent vorausgeht"". Diese
Charakterisierung der Dagei- und Rafesetzung im Reuchlinianus, die
im wesentlichen an unseren traditionellen Regeln orientiert ist, vertritt
P. Kahle auch noch 1930'^, und sie beherrscht bis heute das Feld, da
sie auf den ersten Blick als durchaus einleuchtend erscheint.
Hier führt nun meines Erachtens Speebebs Analyse der Punktation
des Reuchlinianus weiter. Er geht zunächst von der naheliegenden An¬
nahme aus, daß unser heutiges Dages mit seinen unterschiedlichen
Funktionen als Dages lene und Dages forte eine ziemlich verwickelte
Vorgeschichte hat'*. Eine der Wurzeln des Dages dürfte im diakritischen
Punkte liegen. Dieser wurde — und zwar als Punkt innen — überall dort
gesetzt, wo ein Buchstabe unterschiedlichen Lautwert besitzt. Nach
Speebee handelt es sich hierbei ursprünglich um Bet, Kaf, Pe, Taw sowie
Sin und Sin ; im ersten Falle setzt man den Punkt in Buchstabenmitte :
3, 3, S, fl, im letzteren innen links für s: ^ und innen rechts für S: ^.
Wo dagegen Sin und Sin Dages oder Rafe tragen, setzt man sie links
oder rechts über den Buchstaben : S', ^ beziehungsweise B', 1^. In der
Stellung des Dages über dem Buchstaben sieht Speebee ein Zeichen dafür,
daß das Dages relativ jünger sein müsse als der diakritische Punkt,
doch wage ich zu bezweifeln, ob die Stellung des DageS über Sin und
Sin allein ausreicht, um eine solche zeitliche Verhältnisbestimmung durchzuführen'*.
" Baueb-Leandeb, Historische Orammatik der Hebräischen Sprache I,
§ 8b'.
12 Masoreten des Westens II, S. 57.
" Vgl. A Orammar of Masoretic Hebrew, S. 52f. 66.
" A.a.O., S. 75: ,,The very position of the Differentiating Dot within the ..., proves that it antedates the innovation of dagesh".
Die Bedeutung des Codex Eeuohlinianus 65
Ausgehend vom späteren Sprachgebrauch, memt Speebee, daß von
BGDKPT ursprüngUch nur BKPT einen diakritischen Punkt erhalten
hätten, um ihre doppelte Aussprache anzudeuten, während die Zu¬
ordnung von Gimel und Dalet zur bekannten Gruppe BGDKPT nur das
Ergebnis scholastischer Spekulation darstelle'^. Da jedoch Sa'adya die
doppelte Aussprache auch für diese beiden Buchstaben — ebenso wie
für Bei in Babylonien — voraussetzt'*, zudem aber die Feststellung der
doppelten Aussprache dieser sechs Schriftzeichen zuerst von den Syrern
getroffen wurde", scheint es mir doch das Gegebene zu sein, die Gruppe
BGDKPT chronologisch nicht nochmals zu differenzieren, imbeschadet
dessen, daß, wie auch Speebee mit Recht feststellt'*, ihre Aussprache
regional schwankte.
Wird durch den diakritischen Punkt die Qualität eines Konsonanten
bei einem an sich doppeldeutigen Schriftzeichen festgelegt, so ist nach
Spebbeb die msprüngliche Funktion des Dages wesentlich anderer Art.
Nach der oben zitierten Regel wird — grob gesagt — Dages, beziehungs¬
weise Dages lene in unserem traditionellen Begriffssystem, dort gesetzt,
wo bei BGDKPT eine geschlossene Silbe oder ein trennender Akzent vor¬
aufgehen. Speebee dagegen faßt seine Beobachtungen am Reuchlinianus
dahingehend zusammen, daß in dem durch diesen Kodex vertretenen
Punktationssystem, das P. Kahle Ben Naftali zuweist, Dagei dazu
dient, die Kürze des Vokals in der vorangehenden Silbe anzuzeigen,
un beschadet dessen, ob diese Silbe offen oder geschlossen ist'*.
Hierfür spricht in der Tat, daß der Reuchlinianus noch keinerlei
graphischen Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen kennt;
hierin unterscheidet er sich sowohl von Mss. Parma 1849; 2808 und
Add. 21161 des Britischen Museums als auch von der Kairiner Frag¬
mentengruppe in der Bodleian Library, die P. Kahle unter dem Text
,,B" der Ben-Naftali-Überlieferung zusammenfaßt^». So stehen in diesem
Kodex, ähnlich wie in der sogenannten palästinischen Punktation,
Qames und Patah, Scre und Segol promiscue nebeneinander^' ; des¬
gleichen können Sureq, Holem und Qibbu? lange und kurze Vokale
sy mbolisieren^^ .
15 A.a.O., S. 83f. 1« P. Kahle, The Cairo Geniza^, S. 182fF.
1' Beer-Meyer, HefcrmscAeCrammoiiA;!', § 13, 2; P. Kahle, a.a.O., S. 183 f.
IS A.a.O., S. 65f. " A.a.O., S. 67.
2" Masoreten des Westens II, S.5 2*. 85*.
21 Das Gleiche gilt von den Texten A, C — L, N bei Kahle, a.a.O., S. 52ff.,
58. Eine Probe der palästinischen Vokalisation findet man in: B. Mbybb,
Hebräisches Textbuch, Berlin 1960, S. 72f.
22 So können auch Holem und Qames hatuf unterschiedslos gebraucht
werden, ohne daß man mit Sperbeb hier von vornherein Fehler des Punktators
anzunehmen braucht; vgl. Spebbeb, a.a.O., S. 65.
56 Rudolf Meyer
Andererseits aber ist die Setzung von Dages insofern uneinheitlich und
problematisch, als innerhalb der Zeichen für starke Konsonanten die
Gruppe BGDKPT vielfach anders behandelt wird als die Buchstaben
mit nur einem Lautwert. Ich führe im folgenden einige Beispiele an, die
Speebebs Aufstellungen entnommen sind^.
In Jeremia 6,4 begegnet die Form Wij? ,,heiligt!"; sie gleicht, abge¬
sehen von Sin, der Ben-Aäer-Form und ordnet sich scheinbar durchaus
in unser traditionelles Schema ein : Das Dages wäre demnach ein Dage§
forte zm Kennzeichnung einer Pi'elbildung. Das Bild ändert sich jedoch
sofort, wenn man gleichartige Formen mit einwertigem Buchstaben,
z.B. Iptn (2. Könige 12,7) danebenstellt. Bei dieser Form, in der der
mittlere Radikal Rafe und Swa trägt, damit aber eindeutig als vokallos
ausgewiesen ist, handelt es sich nicht etwa um einen Imperativ des
Grundstammes, sondern um ein Perfektum Pi'el, das traditionell ^i??n
,,sie verstärkten" lautet. Würde man nun die Formen des Reuchlinianus
und der Ben Aäer nebeneinander transkribieren, so ergäbe sich folgendes
BUd:
Wij? qadsü — IS^'^p qadd^sü IpTfl hizqü — Ip^n hizz'qü.
Das zweite Beispiel zeigt deutlich, daß dem Punktator nichts daran liegt,
den Konsonantenwert des mittleren Radikals festzulegen, sondern einzig
und allein die Kürze des vorhergehenden Vokals anzudeuten. Ein
weiteres instruktives Beispiel findet sich in 2. Köruge 12, 4, wo die
gleichen Bildungen immittelbar nebeneinander stehen :
nnoiPM a'nara
,, Opfernde und Räuchernde".
In der Transliteration ergibt sich für den Reuchlinianus m'zahhim
umqatrim, während die traditionelle Aussprache m'zahb''him üm''qatPnm
lautet^. Die Frage nach der unterschiedlichen Behandlung von BGDKPT
einerseits und der einwertigen Zeichen für starke Konsonanten anderer¬
seits ist schwer zu beantworten, da wir nur den Tatbestand als solchen,
nicht aber die dahinter stehende Theorie kennen. Immerhin wird man
mit allem Vorbehalt eine Antwort in folgender Richtung suchen dürfen :
Auf der Entwicklungsstufe des Reuchlinianus stellt der Punkt in BGDK¬
PT nicht nur Dages dar, sondern er deutet gleichzeitig auch — wie in
2* Die angeführten Formen sind am Original nachgeprüft tmd teilweise
hiemach in der Punktation ergänzt.
"* Es ist zu beachten, daß auch die Ben-Aser-Tradition zuweilen Formen
kennt, in denen das zu erwartende Dages forte fehlt; vgl. Beer-Meyer,
Hebräische Grammatik I", § 14, 2c. Was jedoch dort angeblich ,, Ausnahme"
ist, ist hier die Regel.
Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus 57
Sin und Sin — als diakritisches Zeichen eine unterschiedliche Aussprache
an; andererseits verwendet man Rafe nicht nur zur Andeutung der
Vokallosigkeit eines Konsonanten, sondern auch zur Schwachartikulation
des betreffenden Mitlautes sowie zum Zeichen dafür, daß ein Buchstabe
überhaupt nicht zu sprechen ist; letzteres ist — wie übrigens auch in der
originalen Ben-Aser-Tradition •— bei Alef und He als Vokalbuchstaben
der Fall. Würde man nun bei den angeführten Pi'elformen BGDKPT
etwa ebenso behandeln wie die einwertigen Buchstaben und analog zu
^pvn auch ^'^yL punktieren, so ergäbe sich nicht qadSü, sondern qadäü,
damit aber eine Form, die das Pi'el nicht mehr erkennen ließe. So legt
also der Punkt in Wij? gleichzeitig die Kürze des vorangehenden Vokals
und die Aussprache des Dalet als Explosiva fest. Nach den traditionellen Regeln haben wir somit ein Dages forte vor uns, nur mit dem Unterschied,
daß von einer Verdoppelung des Konsonanten nichts zu erkennen ist und
zugleich die Setzung des Punktes auf BGDKPT beschränkt bleibt. Die¬
selbe Erscheinung findet sich im Syrischen, wo in gleichgelagerten Fällen
BGDKPT in der Regel einen Punkt oben als quMSäyä erhalten, während
die einwertigen Buchstaben unbezeichnet bleiben, da das Syrische kein
Swa kennt und das dem Rafe entsprechende marhHänä nur selten zur
Bezeichnung der Vokallosigkeit gebraucht wird^^. Damit aber steht,
soweit ich sehe, in dieser Hinsicht der Reuchlinianus der syrischen
Punktationsmethode näher als derjenigen der Ben Aser.
Die gleiche Punktationsweise findet sich im Reuchlinianus auch beim
Artikel, beim Waw consecutivum und bei der Präposition in fester
Verbindung mit seinem Beziehungswort. Als Beispiel sei 2. Samuelis
17, 9 angeführt:
hüpbri Q''nnBn
,,die Schluchten die Plätze".
Die Transliteration ergibt haphaüm hmnqömöt, während die
traditionelle Aussprachebezeichnung happ^hätim hamm'qömöt
lautet^».
Haben wir uns bisher mit dem Dages beschäftigt, das, in BGDKPT
gesetzt, den vorhergehenden kurzen Vokal in anderweit offener Silbe
festlegt und somit diese Silbe ebenso schließt wie bei einwertigen
starken Konsonanten Swa mit Rafe, so fragt sich numnehr, wie der
Dages-Gebrauch nach einer geschlossenen Silbe ist. Hier gilt nun im
2* Th. Nöldeke, Kurzgefaßte syrische Orammatik, Leipzig 1880, § 23.
2* Auch hier gibt es mitunter Entsprechungen im Ben-Aser-System; vgl.
etwa Q''?p.?'pü hambaqiim ,,die Suchenden" (Ex. 4, 19), wo sowohl das Dageä
forte im Mem als auch im Qof (vgl. Anm. 14) fehlt; vgl. Beer-Meyeb,
Hebräische Orammatik I", § 28, 3b.
58 Rudolf Meyeb
allgemeinen die von P. Kahle fixierte Grundregel, wenn auch nicht
verkannt werden darf, daß sowohl hinsichtlich der BGDKPT als auch in
bezug auf die Setzung des Dages nach trennendem Akzent, der ja die
gleiche Wirkung hat wie ein fester Silbenschluß, ein einheitliches Bild
nicht zu gewinnen ist. Einige Beispiele mögen den Sachverhalt ver¬
deutlichen :
2. Könige 22,12: isfp _ ^nd er befahl".
Bei dieser Form, die nach Ben Aser 1?p zu schreiben und in beiden
Fällen waysaw zu transkribieren ist, trägt Sade ein Dages, das traditionell
dem Dagei lene entspricht^*. Ein gleiches Dages findet sich
2. Samuelis 19, 10: IIB'?» „er hat uns gerettet".
Eine solche Bildung muß für jeden, der von Ben ASer herkommt, be¬
sonders fremdartig wirken; denn dort lautet die gleiche Form 'UD'pa
millHänü, während man nach dem Reuchlinianus nur miltänü transkri¬
bieren kann, was genau dem Schriftbild des syrischen Pa'el qatlan ent¬
spricht. Umgekehrt entfällt das Dages bei BGDKPT, wo seine Setzung
den Lautwert eines Buchstabens verändern könnte :
1. Samuelis 10, 21: int^j?2^T ,,und sie suchten ihn",
rmd besonders anschaulich tritt dieser Sachverhalt dort hervor, wo
BGDKPT unmittelbar neben einwertigen Zeichen für starke Konso¬
nanten stehen. Hierfür sei Jeremia 1, 10 in der Form des Reuchlinianus
imd der traditionellen Gestalt der Biblia Hebraica angeführt :
»it5??i riijä"? firö"?) t^iw"?
»it33'?i niia"? Tiw"?! shwV
„auszurotten und zu zerstören; zu bauen und zu pflanzen".
Wenn auch volle Konsequenz in der Behandlung der BGDKPT nicht
erreicht ist, wie etwa die Form »jö"? ,, niederzustoßen" (2. Samuelis 22, 17) für traditionelles »jö"? zeigt, so läßt sich doch als vorherrschende
Tendenz feststellen, daß man den Punkt in BGDKPT nach geschlossener
Silbe meidet, wenn der betreffende Lautwert nicht verändert werden
soll. Dies gilt auch teilweise bei den trennenden Akzenten, wie etwa bei
Tifha in 1. Samuelis 7, 13 MH*? ,,in das Gebiet einzudringen",
wofür der Ben-Aser-Text "71353 Mis'? bietet. Andererseits wird dort
" Swa fungiert im Reuchlinianus nicht nur zur Andeutung eines flüchtigen Vokals oder der Vokallosigkeit, sondem gibt zugleich den konsonantischen Wert vom Waw finale sowie von vokallosem Het und 'Ayin in allen Positionen an.
28 Insofern als dieses Dages — wenn auch nm in BGDKPT — nach
geschlossener Sübe und trennendem Akzent steht; vgl. Beeb-Meyeb a.a.O.,
§ 14, 4.
Die Bedeutung des Codex Reuchlinianus 59
Dages gesetzt, wo anscheinend die explosive Aussprache der BGDKPT
beabsichtigt ist. So begegnet Dages etwa bei Großzaqef in S?aiZ?3 ""riT
,,und als er hörte" (Josua 11, 1) ebenso wie bei Geres in QV3
(ebd. 10, 35), ohne daß sich hier ein Unterschied zu Ben Aser feststellen läßt.
Der gleiche Dages-Gebrauch läßt sich auch dort beobachten, wo Sureq
am Wortanfang in Gestalt der Kopula ü- ,,und" vokalisch fungiert.
Hier wird, wie Speebeb wohl mit Recht vermutet, der lange Vokal in
geschlossener Silbe gekürzt, und es ergeben sich in der Anwendung des
Dages erwartungsgemäß folgende Formen :
1. Samuelis 2, 35: ''?'B|31 ubnajSi ,,nach meinem Willen", Jeremia 9, 23: «^i^t?^ usdäqä „und Gerechtigkeit",
wofür die traditionellen Bildungen '''?*B331 uh^nafSi und niPniSI üfdäqä
lauten. Einheitlich dagegen ist die Dages-Setzung, wo Sureq im Wort¬
inneren kurzen Vokal andeutet :
Joel 1,12: 'l)^^'^''^ ^umlälä ,,sie ist welk", 2. Könige 22, 11: fl'l'^in huldä „Hulda".
Die entsprechenden Formen nach Ben Aser sind '1^^'?'?^ und ^'j'f'n ; soweit
hier BGDKPT Dages tragen, handelt es sich offensichtlich um Bildimgen,
in denen der Dages-Punkt zugleich die explosive Aussprache anzeigt,
damit aber gleichzeitig als diakritischer Punkt fungiert, der eine stärkere
Artikulation des betreffenden Konsonanten fordert.
Wie nun das Rafe nicht nur die Vokallosigkeit eines Konsonanten und
das Fehlen des konsonantischen Lautwertes bei Vokalbuchstaben,
sondern auch die schwächere Aussprache eines Konsonanten andeuten
kann, so fungiert das Dageä über das Gesagte hinaus ebenfalls zur An¬
deutung der stärkeren Aussprache bei einigen schwachen Konsonanten^*;
das heißt, wenn das Dages im eigentlichen Sinne des Wortes die Kürze
des vorhergehenden Vokals andeutet, dann wird man hier wiederum von
einem diakritischen Punkt sprechen. Dieser begegnet als Punkt innen,
um konsonantisches Alef anzuzeigen : N ; als Punkt unten deutet er den
Konsonantenwert von He im Auslaut an: n (nach Ben ASer n), des¬
gleichen symbolisiert er den konsonantischen Charakter von Yod in den
Fällen, wo sein Lautwert sichergestellt werden muß : ?.
Es liegt auf der Hand, daß der imR euchlinianus vorliegende Dages-
Gebrauch sich nicht durch die herkömmlichen Begriffe ,, Dageä forte"
und ,, Dages lene" erfassen läßt. Speebee versucht, dem Sachverhalt
2" Vgl. P. Kahle, in: Bauer-Leandeb, Historische Grammatik der hebräi¬
schen Sprache I, § 8b', im Anschluß an H. Grimme, Die jemenische Aussprache des Hebräischen und die Folgerungen daraus jür die ältere Sprache. Festschrift für E. Sachau, Berlm 1915, S. 135fr.
60 Rudolf Meyer
gerecht zu werden, indem er folgende Termini einführt^ : 1. Differentiating
dagesh für den diakritischen Punkt in B[GD]KPT sowie Sin und Sin;
2. consonental dagesh bei N und il; 3. vocalization dagesh zur Kennzeich¬
nung der Kürze des dem betreffenden Konsonanten vorhergehenden
Vokals imd schließlich 4. consonantal hirek zur Festlegung des konsonan¬
tischen Wertes von Yod in Formen wie ri;'3 bayt ,,Haus" (1. Samuelis
25, 28). Klammert man aus praktischen Gründen Sin und Sin aus und
spricht hier weiterhin vom diakritischen Punkt, so genügt es meines
Erachtens, wenn man einerseits vom VokaldageS redet, das sich mit dem
vocalization dagesh deckt, und andererseits den Begriff diakritisches Dages prägt, der auf alle übrigen Fälle zielt, in denen bei Buchstaben mit unter¬
schiedlichem Lautwerte eine stärkere Akzentuierung angedeutet werden
soll. Dies gilt dann nicht nur für BGDKPT, Alef, He und Yod, sondern
auch für die starken Konsonanten nach geschlossener Silbe, die in dieser
Position auf der Aussprachestufe des Reuchlinianus in der Regel offenbar
voller artikuliert werden als nach Vokalen^'.
Der Dageä-Gebrauch im Codex Reuchlinianus stellt freilich nur einen
kleinen Ausschnitt aus der Punktation dieser hochinteressanten Hand¬
schrift dar ; aber schon dieses eine Beispiel dürfte genügen, um die sprach¬
geschichtliche Bedeutung einer Ausspracheform des Hebräischen zu
würdigen, die nach Ausweis des Menahem ben Saruq um 960 weit ver¬
breitet war und die, dank der Autorität des Maimonides, der Ben-Aser-
Tradition hat weichen müssen.
Eingehendes Studium der Bücher Josua und Judicum hat mir gezeigt,
daß die reuchlinianische Pimktation in vieler Hinsicht besser und sorg¬
fältiger, zuweilen auch urtümlicher ist als alles, was wir bisher selbst aus
den besten Ben-Aser-Handschriften kennen. Jedoch kann man mit Hilfe
dieser Punktation ebenso wenig eine Geschichte des Hebräischen schreiben
wie mit der Ben Aser-Uberlieferung. Beide Punktationsmethoden gehen,
wenn die Zuweisung des Reuchlinianus an Ben Naftali zu Recht besteht,
auf Gelehrte in Tiberias zurück. Dabei gilt, daß die reuchlinianische
Punktation auf anderen Voraussetzungen beruht und daß sie bei der
Spracherfassung andere Wege beschreitet als Ben Aser. Aber Anders¬
artigkeit bedeutet nicht auch Vorstufe im Rahmen einer geschichtlichen
Wertung beider Systeme: das reuchlinianische System ist genauso
wenig „vormasoretisch" wie das der Ben Aäer. Damit ist es, sprach-
«> A.a.O., S. 87.
'1 Vgl. hierzu die Beobachtungen H. Grehmes in bezug auf die jemenitische
Aussprache des Hebräischen; a.a.O., S. 135: ,,Im Jemenischen glaube ich
eine wechselnde Aussprache der Konsonanten festgestellt zu haben, eine
stärkere bei solchen, die im absoluten Anlaut oder im Inlaut hinter Konso¬
nanten stehen, eine schwächere aber hinter Vokalen".
Dio Bedeutung des Codex Reuohlinianus 61
geschichtlich gesehen, lediglich von relativem Wert, indem es einen,
freilich sehr genialen Versuch neben Ben Aser darstellt, das Hebräische
aussprachemäßig zu fixieren. Mit anderen Worten, wer die Geschichte
der hebräischen Sprache erschließen will, wird in der Ausspracheform
des Reuchlinianus einen weiteren Beweis dafür sehen, daß die ver¬
schiedenen tiberischen Versuche der Sprachfixierung zeitlich und örtlich
bedingt sind. Weder die Ben-Aser-Tradition noch die des Reuchlinianus
können für sich allein als Ausgangspunkt für eine Grammatik genommen
werden, die bis in das hohe Altertum zurückführt; sie teilen dieses
Schicksal sowohl mit der samaritanischen Aussprachetradition als auch
mit den übrigen Systemen. Aber der Wert der verschiedenen Aussprache¬
formen besteht gerade darin, daß sie dem Historiker die Vielfalt der
Traditionen im frühen Mittelalter vor Augen führen imd ihn zwingen,
von Fall zu Fall zu entscheiden, was vermutlich in eine frühere Periode
der Sprache zurückführt und was zeit- und umgebungsbedingt ist. In
diesem Rahmen aber kommt — vielleicht zum Leidwesen imserer Lek¬
toren — dem im Reuchlinianus und den ihm verwandten Handschriften
vertretenen Punktationssystem eine hervorragende Bedeutung zu.
Schejch Sejjid Viläjet (1451—1522)
und sein angebliches Menäqibnäme
Von Hans Joachim Kissling, München
Seit F. Babinger in seiner in der Zeitschrift der Deutschen Morgen¬
ländischen Gesellschaft LXXVI (Leipzig 1922) S. 126—152 abgedruckten
Antrittsvorlesung an der Universität Berlin' und später in seinem Auf¬
satze 'ÄSyq PaSas Gharib-ndme^ auf das in mehreren Stücken erhaltene
Buch von den Wundertaten des Schejchs EbüJ-Vefä (auch unter dem
Titel Menäqib-i Täg-ül-' Ärifin bekannt) hingewiesen hatte, galt es als
ausgemacht, daß dieses Menäqibnäme der Feder des Zejnije-Schejchs
Sejjid Viläjet entstamme. Es lag daher nahe, zu vermuten, daß in ihm
belangvolle Ausführungen über Zusammenhänge zwischen dem zu den
Vorfahren des berühmten altosmanischen Geschichtsschreibers 'Äsyq¬
pasazäde zählenden Schejch Sejjid Ebü-l-Vefä und dem in den Süfi-
Bewegungen Kleinasiens im 13. Jahrhundert, vorab imter dem Selguken-
Sultan Gijäs-ed-Din (1235—1259), hervorgetretenen Baba Iljäs ent¬
halten seien^. Zudem wurde diese Hoffnung genährt durch den Umstand,
daß der Verfasser Sejjid Viläjet den Dingen besonders nahestehen mußte,
da er der Schwiegersohn des Chronisten 'Äsyqpasazäde und im Ordens¬
verband der Zejnije überdies dessen Mürid war*.
Eine Untersuchung der von U. J. v. Seetzen erworbenen Gothaer
Handschrift des in Rede stehenden Menäqibnäme^ ergab nun allerdings,
daß in der vermuteten und erhofften Richtung aus dem Werke nur wenig
zu gewinnen war. Vor allem betrifft die Wundertatensammlung keines¬
wegs den 'Äsyqpasazäde-Ahn Schejch Ebü-l-Vefä, sondern den kmden-
1 F. Babingeb, Der Islam in Kleinasien. Neue Wege der Islamforschung
in Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Oesellschaft LXXVI (1922)
S. 126—152.
2 F. Babingeb, 'ÄSyq PaSas Oharib-näme in Mitteilungen des Seminars für
Orientalische Sprachen XXXI (1928) II Abt. S. 1—7.
ä F. Babingeb, 'ÄSyq PaSas Oharib-näme S. 2 Anm. 3 und S. 4 Anm. 7.
* Vrgl. unten S. 67.
^ Vrgl. F. Babingeb, 'ÄSyq PaSas Oharib-näme S. 4 Anm. 7. Eine Ablich¬
tung wmde Schreiber dieser Zeilen vor Jahren freundlicherweise von dem
mittlerweile leider verstorbenen R. Tschudi zur beliebigen Verwendung
überlassen. Die Handschrift umfaßt 187 Blatt, wovon Blatt 1 und 2 belang¬
loses Geschreibsel enthalten, und ist in im allgemeinen gut lesbarem und
vollständig vokahsiertem Nashi geschrieben. Auf die Seite entfallen im
Dmchschnitt 13 Zeilen Text.