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FORUM-1-2-2014-Titelthema-Praevention-mehr-als-Frueherkennung...

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ass Vorbeugen besser ist als Heilen – wer möchte dem schon widersprechen?

Ein paar Beispiele: In Deutschland erkranken jährlich fast 50.000 Men- schen neu an Lungenkrebs, davon sind zirka 90 Prozent der Neuerkran- kungen durch Tabakkonsum verur- sacht. Mit dem Rauchen kann man aufhören, den Lungenkrebs heilen ist nicht so einfach. Etwa 44.000 Menschen sind 2011 daran gestor- ben. Betrunken Auto zu fahren, kann der schnellste Weg ins Kranken- haus sein. Mag die moderne un- fallchirurgische Versorgung auch noch so gut sein, der Verzicht auf Alkohol im Straßenverkehr wäre hier wohl vorzuziehen. Masern vor- zubeugen – die Impfung macht’s möglich, ganz einfach und fast risi- kofrei. Die Masernerkrankung selbst dagegen führt in nicht wenigen Fäl- len zu ernsten Komplikationen, die teilweise auch einen Krankenhaus- aufenthalt nötig machen. Und auch in Deutschland gibt es vereinzelt immer wieder Sterbefälle infolge von Masern. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, sie machen ver- ständlich, warum die Prävention und insbesondere auch die Pri- märprävention eine so hohe Wert- schätzung erfährt.

Präventive Potenziale und präventive Wirklichkeiten Die große Bedeutung der (Primär-) Prävention zeigt sich auch, wenn man epidemiologisch die Vertei- lung der Krankheitslast nach Risi- kofaktoren betrachtet, zum Beispiel nach den Risikoabschätzungen aus der aktuellen Burden of Disease- Studie [1]. Die Ergebnisse der Bur- den of Disease-Studie sind zwar nicht direkt in eine Prioritätenliste für die Präventionspolitik zu über- setzen, weil methodenbedingt wichtige Risikofaktoren wie Stress nicht einbezogen wurden, aber den- noch weisen die Daten darauf hin, dass das Gesamtvolumen der Krank- heitslast mit Risikofaktoren asso-

ziiert ist, die ein erhebliches prä- ventives Potenzial haben.

Trotzdem führt die Prävention in Deutschland gesundheitspolitisch eher ein Schattendasein. Der An- teil der Prävention an den Ausga- ben im Gesundheitswesen hat sich in den letzten 20 Jahren nicht verändert. Er beträgt heute wie damals zirka vier Prozent der (di- rekten) Gesamtausgaben.

Der größte Ausgabenträger sind dabei die gesetzlichen Kranken- kassen. Mit etwa 4,8 Milliarden Euro tragen sie mehr als zwei Fünf- tel der Präventionsaufwendungen in Deutschland. Diese Ausgaben der Krankenkassen umfassen die gesamte medizinische Prävention, unter anderem die Ausgaben der Früherkennungsprogramme, der Zahnprophylaxe und des Impfwe- sens.

Deutlich niedriger liegen die Aus- gaben der Gesetzlichen Kranken- versicherung nach den Paragrafen 20 und 20a SGB V, also die Ausga- ben für die viel diskutierte Primär- prävention und Gesundheitsförde- rung. Sie betragen gerade einmal 0,1 Prozent der Gesundheitsaus-

Prävention ist im ärztlichen Denken und Handeln nichts Neues. In der Sekundär- und Tertiärprävention haben Ärzte eine tragende Rolle und es gibt ausgewiese- ne präventivmedizinische Fächer, zum Beispiel die Arbeitsmedizin. Diplom-Psy- chologe Dr. Joseph Kuhn vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Le- bensmittelsicherheit (LGL) in Oberschleißheim befasst sich in seiner Tätigkeit als Experte für Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung in KVB FORUM mit der Frage, wie ernsthaft der Ausbau der Prävention in Deutsch- land derzeit vorangetrieben wird.

PRÄVENTION – MEHR ALS FRÜHERKENNUNG

Für Dr. Joseph Kuhn vom Baye- rischen Landes- amt für Gesund- heit und Lebens- mittelsicherheit führt die Präven-

tion in Deutsch- land gesund- heitspolitisch immer noch ein Schattendasein.

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Begriffsdefinitionen

Prävention bezeichnet alle Maß- nahmen, um Krankheiten oder gesundheitliche Beeinträchti- gungen zu vermeiden, weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern [2]. Der Blick ist hier auf die Krankheit und ihre Vermeidung gerichtet. In der Li- teratur spricht man daher auch davon, dass Prävention ein „pa- thogenetisch“ ausgerichteter Ansatz sei. Im 19. und 20. Jahr- hundert hat dieser Ansatz zum Beispiel im Städtebau (Kanalisa- tion, Grünanlagen, Verkehrssi- cherheit), im Umweltschutz, in der Lebensmittelhygiene oder in der Arbeitssicherheit große Wirk- samkeit entfaltet. Ein erhebli- cher Teil der Verdopplung der Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren ist darauf zurückzu- führen. Der Bezug zur Medizin ist eher mittelbar: Vieles davon ist zwar durch sozialmedizini- sches Wissen motiviert und an- geregt, aber in der Umsetzung außerhalb des Krankenversor- gungssystems angesiedelt. Da- gegen ist der nach dem zweiten Weltkrieg aus den USA übernom- mene „Risikofaktorenansatz“

enger mit dem individualmedizi- nischen Denken verknüpft. Der Risikofaktorenansatz beruht auf der epidemiologischen Identifi- kation von Faktoren, die in gro- ßen Kollektiven als krankheits- assoziiert in Erscheinung treten und wahrscheinlichkeitsbasiert als Risikofaktoren auf das Indivi- duum übertragen werden. Auch dieser Ansatz hat, beispielswei- se in Hinblick auf wichtige ver- haltensbedingte Gesundheitsri- siken (Tabakkonsum, Ernährung, Bewegungsmangel) das präven- tive Repertoire erweitert. Dies gilt es – trotz der mit dem Risi- kofaktorenansatz verbundenen

Tendenz, vor allem individuelle Le- bensstilfaktoren zu thematisieren – anzuerkennen.

Aus der medizinischen Tradition be- kannt ist die Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiär- prävention, also Maßnahmen vor Krankheitseintritt, Maßnahmen zur Früherkennung und Maßnahmen im Zusammenhang mit dem dro- henden Wiederauftreten oder der Verschlimmerung bereits aufgetre- tener Erkrankungen.

Gesundheitsförderung: Dem pa- thogenetischen Ansatz gegenüber- gestellt wird der „salutogenetische“

Ansatz, ein Begriff, den der Stress- forscher Aaron Antonovsky geprägt hat und der auf die gesunderhalten- den Ressourcen der Menschen ab- hebt. In seiner ursprünglichen Form, von Antonovsky als „sense of co- herence“ bezeichnet, ging es hier- bei darum, dass Menschen dann eher gesund bleiben, wenn sie ih- re Situation in einen größeren Zu- sammenhang einordnen können, einen Sinn in ihrem Tun sehen und Einfluss auf ihre Situation nehmen können [3]. Inhaltlich besteht eine große Nähe zu Selbstwirksamkeits- konzepten oder zur Resilienzfor- schung. Gesundheitspolitische Re- levanz hat die Gesundheitsförde- rung vor allem im Gefolge der so- genannten „Ottawa-Charta“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986 erhalten [4]. Dort wird eine Sichtweise entwickelt, die Gesund- heit als Ergebnis unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen sieht und die Bedeutung des aktiven und ge- meinsamen Engagements zur Ver- besserung dieser Bedingungen für die Gesunderhaltung hervorhebt.

Die Ottawa-Charta war Impulsge- ber für ganz unterschiedliche Ent- wicklungen: von ambitionierten Ver-

suchen, eine gesundheitsförder- liche Gesamtpolitik („Health in all Policies“) auf den Weg zu brin- gen über gesundheitsorientierte Bürgerinitiativen und neue Selbsthilfekonzepte bis hin zu den Wellnessangeboten der Ge- sundheitswirtschaft.

Verhältnis- und Verhaltensprä- vention: Eine gängige Differen- zierung unterscheidet die ge- sundheitsförderliche Verände- rung der Lebensbedingungen („Verhältnisprävention“) von der gesundheitsförderlichen Verän- derung des Verhaltens („Verhal- tensprävention“). Die Erhöhung des Preises für Tabakprodukte, die Alterskontrolle an Zigaretten- automaten oder Rauchverbote in öffentlichen Räumen sind Beispie- le für verhältnispräventive Maß- nahmen in der Tabakprävention, Aufklärungskampagnen dagegen sind Beispiele für Verhaltensprä- vention. Gute Präventionskam- pagnen verbinden beide Maß- nahmeformen.

Settingansatz: Häufig ist vom sogenannten „Settingansatz“ zu lesen, auch die Entwürfe für ein Präventionsgesetz haben diesen Begriff verwendet. Man versteht darunter Präventionsansätze, die gezielt in definierte Lebensbe- reiche intervenieren, zum Bei- spiel in Schulen, Betrieben oder Gemeinden. Dabei können ver- hältnis- und verhaltenspräventi- ve Maßnahmen zur Anwendung kommen. Da das Gesundheits- verhalten oft eng mit den kon- kreten Lebensumständen ver- knüpft ist, gelten Settingansätze vielfach als Königsweg einer er- folgreichen Prävention.

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gaben und 2,4 Prozent der Präven- tionsausgaben – bei rückläufiger Tendenz.

Der immer wieder beschworene Ausbau der Prävention und Gesund- heitsförderung zur dritten Säule im Gesundheitswesen (neben Kuration und Pflege) spiegelt sich in diesen Daten nicht wider. Dabei hat es an Versuchen, dies zu ändern, nicht gefehlt. In Deutschland sind in den letzten zehn Jahren drei Anläufe für ein Präventionsgesetz gescheitert, der letzte erst im Sommer 2013.

Es scheint, als ob der auf der Ebe- ne unserer Alltagserfahrung so ein- leuchtend klingende Satz, es sei besser vorzubeugen als zu heilen, auf der Ebene der Steuerung des Gesundheitswesens nicht gleicher- maßen überzeugt. Die Spurensu- che danach, welche Kräfte hier wir- ken, führt zu einem etwas komple- xeren Bild des Verhältnisses von Vorbeugen und Heilen. Einige die- ser Spuren sollen im Folgenden nachgezeichnet werden.

Erwartungen und Wirkungen Betrachtet man die unten darge- stellte Abbildung der zehn wich- tigsten Risikofaktoren aus der Bur- den of Disease-Studie, kann man den Eindruck gewinnen, präventive Potenziale müssten doch einfach zu realisieren sein: ungesunde Er-

nährung, Adipositas, hoher Blut- druck, Rauchen etc. – ein Feld für Informationsbroschüren, Beratung und Gesundheitskurse. Das ist na- türlich in gewisser Weise auch so.

Aber in den Gesundheitswissen- schaften besteht weitgehend Kon- sens darüber, dass Settingansätze mit starken verhältnispräventiven Anteilen größere und nachhaltige- re Gesundheitseffekte haben als reine Verhaltensappelle. Die ge- nannten Risikofaktoren sind keine fehlerhaften Einbauelemente, die man einfach aus dem Leben der Menschen herausschrauben und beispielsweise durch gesünderes Verhalten ersetzen kann. Vielmehr sind sie im Lebensstil und in den Lebensumständen der Menschen verankert. Man kennt es aus der eigenen Erfahrung: Die Neujahrs- vorsätze, sich künftig besser zu er- nähren, mehr zu bewegen oder das Rauchen aufzugeben, enden nur allzu oft mit einem schlechten Ge- wissen. Appelle, sich mehr zu be- wegen, haben eben bessere Chan- cen, gehört zu werden, wenn das Wohnumfeld bewegungsfreundlich ist. Mit dem Rauchen aufzuhören, fällt leichter, wenn es auch die Kol- legen tun. Und eine gesunde Ernäh- rung lässt sich im Alltag eher be- werkstelligen, wenn zum Beispiel die Speisenangebote in der Schule oder im Betrieb dies nicht konter- karieren. Verhalten und Verhältnis-

se hängen zusammen. Wie weit- reichend diese Zusammenhänge sind, bis in die Sozialstruktur der Gesellschaft hinein, hat die Sozial- epidemiologie immer wieder be- legt: Praktisch alle Krankheiten weisen einen Sozialgradienten der- gestalt auf, dass Menschen in so- zial schlechterer Lage auch weni- ger gesund sind und sich weniger gesund verhalten. Dies zeigt sich bereits im Kindesalter. So haben Kinder aus sozial benachteiligten Familien unter anderem höhere Adipositasraten, schlechtere Zäh- ne und häufiger Entwicklungsver- zögerungen, wie Reihenuntersu- chungen von Schulkindern zeigen.

Oft kumuliert diese sozial beding- te Ungleichheit der Gesundheit, bedingt durch die Verfestigung so- zialer Lebenslagen, über den wei- teren Lebenslauf. Männer, die mit weniger als 60 Prozent des Durch- schnittseinkommens auskommen müssen, leben elf Jahre weniger als Männer, die über mehr als 150 Pro- zent des Durchschnittseinkom- mens verfügen. Bei den Frauen beträgt dieser Unterschied acht Jahre [5]. Dem ist mit den Mitteln der Gesundheitspolitik und durch medizinische Interventionen kaum beizukommen und manche ambi- tionierten Präventionsprogramme bedenken dies bei ihren Ziel-Mit- tel-Darlegungen zu wenig. Hier werden stattdessen Ansatzpunkte

Abbildung 1 Quelle: Global Burden of Disease-Studie 2010, www.healthmetricsandevaluations.org 0

ungesunde Ernährung 15 %

10 %

5 %

Wichtigste Risikofaktoren zur Krankheitslast in Deutschland (2010)

Prozentualer Anteil der zehn wichtigsten Risikofaktoren an allen DALYs (disability adjusted life years)

0 %

Adipositas hoher

Blutdruck Rauchen Bewegungs- mangel hoher

Nüchtern- blutzucker

hohes

Cholesterin Alkohol-

konsum berufliche Risiken Luftver-

schmutzung

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für eine Präventionspolitik nach dem „Health in all Policies“-An- satz der Weltgesundheitsorganisa- tion (WHO) deutlich: Gesundheit hängt in hohem Maße davon ab, welche Entscheidungen in der Bil- dungs-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- oder Regionalentwicklungspolitik getroffen werden. Diese Entschei- dungen fallen gewöhnlich nicht un- ter maßgeblicher Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte. Der Health in all Policies-Ansatz wird in programmatischen Beiträgen zur Prävention gerne beschworen, es gilt jedoch, ihn über eine abs- trakte Leitidee hinaus auch zu kon- kretisieren und politikfähig zu ma- chen. Dass dies bisher bestenfalls in Ansatzpunkten geschehen ist, markiert eine weitere Hürde des Ausbaus der Prävention in Deutsch- land. Ein Präventionsgesetz, das den Health in all Policies-Ansatz aufgreift und nicht nur Regelungen

für das Gesundheitswesen trifft, er- gänzt durch die Einrichtung eines Präventionsausschusses des Deut- schen Bundestags, könnte hier neue Wege beschreiten.

Trotz dieser Schwierigkeiten, das Zusammenspiel von Verhalten und Verhältnissen präventionspolitisch umzusetzen, gibt es inzwischen vie- le Beispiele guter Praxis in der Prä- vention. Präventive Ansatzpunkte und auch positiv evaluierte Maß- nahmen für viele Risikofaktoren, Krankheitsbilder und Interventions- formen sind bekannt [6]. Rein ver- haltensorientierte Maßnahmen wer- den dabei auch in zusammenfas- senden Evaluationsstudien kritisch bewertet [7], während der Präven- tion insgesamt durchaus relevante Effekte bescheinigt werden. Eine Studie der OECD geht davon aus, dass etwa drei Fünftel des Gewinns an Lebenserwartung in den letz-

ten 20 Jahren der Prävention im weiteren Sinne zuzuschreiben sind [8]. Ein Ausbau der Prävention hät- te also die Datenlage auf seiner Seite.

Dennoch ist die Präventionsfor- schung in Deutschland lückenhaft.

Deutliche Defizite gibt es zum Bei- spiel bei der Evaluation der lang- fristigen Wirksamkeit von Maßnah- men sowie in der Forschung zum Transfer von wissenschaftlichen Befunden in die Praxis. Das Bun- desministerium für Bildung und Forschung hat mit dem abge- schlossenen Förderprogramm

„KNP – Kooperation für nachhalti- ge Präventionsforschung“ (siehe dazu www.knp-forschung.de) und dem laufenden Programm zur Eva- luation langfristiger Wirkungen in der Prävention erste systematisie- rende Schritte in dieser Richtung unternommen. Allerdings sind Prä-

Ausgaben im deutschen Gesundheitswesen für Prävention 1992 – 2011 Gesundheitsausgaben in

Millionen Euro

davon: Prävention/

Gesundheitsschutz

Anteil der Prävention an den Gesundheitsausgaben

1992 158.656 6.077 3,8 %

1993 163.104 6.524 4,0 %

1994 174.976 6.811 3,9 %

1995 186.951 7.399 4,0 %

1996 195.379 7.422 3,8 %

1997 196.363 6.820 3,5 %

1998 201.733 6.771 3,4 %

1999 207.261 7.146 3,4 %

2000 212.841 7.444 3,5 %

2001 220.788 7.814 3,5 %

2002 228.664 8.181 3,6 %

2003 234.488 8.642 3,7 %

2004 234.256 8.739 3,7 %

2005 240.434 8.883 3,7 %

2006 246.139 9.210 3,7 %

2007 254.436 10.108 4,0 %

2008 264.800 10.642 4,0 %

2009 279.041 10.987 3,9 %

2010 288.299 10.977 3,8 %

2011 293.801 11.082 3,8 %

Tabelle 1 Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen LGL

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ventionsmaßnahmen häufig umso schwerer zu evaluieren, je vielver- sprechender sie sind. Gerade um- fassende Settingansätze können ihre präventive Wirksamkeit zwar theoretisch plausibel machen, aber nicht gut in strengen Studiendesigns belegen [9]. Der Goldstandard RCT, also der aus der Arzneimittelfor- schung bekannte randomisierte kontrollierte Versuch, ist zum Bei- spiel bei gemeindeorientierten Prä- ventionsmaßnahmen kaum prakti- kabel. Man muss sich dann statt- dessen mit Studiendesigns einer niedrigeren Evidenzstufe – und ei- ner entsprechend größeren Unsi- cherheit, was Interventionen und Outcomes wirklich verbindet – zu- friedengeben. Politisch erfordert dies investiven Mut. Das ist jedoch in vielen Politikfeldern nicht anders.

Prävention und ärztliches Handeln

Dass die größten präventiven Ef- fekte folglich nicht unmittelbar in der Arzt-Patienten-Interaktion er-

zielt werden können, bedeutet nicht, dass die Rolle der Ärzte in der Prä- vention vernachlässigbar ist. Zum einen gibt es, wie erwähnt, spezi- fisch medizinische Präventionsmaß- nahmen. Dies betrifft in erster Li- nie die Sekundärprävention (Bei- spiel Früherkennungsuntersuchun- gen) sowie die Tertiärprävention (Beispiel Vermeidung von Diabe- tes-Folgeerkrankungen), aber durch- aus auch bevölkerungsmedizinisch relevante Maßnahmen der Primär- prävention, wie das Impfen oder die Schwangerenvorsorge.

Zum anderen sind Ärzte wichtige

„Kommunikationsagenturen“ rund um alle gesundheitlichen Themen.

Etwa 90 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einmal im Jahr Kontakt mit einer Arztpraxis. Um- so bedenklicher ist es, dass es bis- her nicht gelungen ist, die Ärzte besser und an der richtigen Stelle in die Prävention einzubeziehen – abgesehen von den kleinen Grup- pen traditionell präventiv tätiger Ärzte, etwa in der Arbeitsmedizin

oder im Öffentlichen Gesundheits- dienst. Auch eine Untersuchung des Gesundheitsmonitors der Ber- telsmann-Stiftung kam vor einiger Zeit zu dem Ergebnis, dass Ärzte kaum präventiv tätig sind [10]. Sie nutzen insbesondere ihre Möglich- keiten zur Gesundheitsberatung zu wenig. Dies hat zum einen mit der Struktur des ärztlichen Vergütungs- systems zu tun, das nach wie vor kaum Anreize für eine „sprechen- de Medizin“ bietet, zum anderen mit dem geringen Stellenwert der Prävention in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Letzteres könnte durch eine Vernetzung mit den zwischenzeitlich in Deutsch- land aufgebauten universitären Public Health-Strukturen verbes- sert werden.

Regionale Steuerungs- potenziale

Ein weiterer Schwachpunkt prä- ventiver Strukturen sind die bisher unzureichenden regionalen Steue- rungsmechanismen. Hier ist in Zu den bevölke-

rungsmedizi- nisch relevanten Maßnahmen der Primärpräven- tion zählen zum Beispiel das Impfen oder die Schwangeren-

vorsorge.

(6)

erster Linie der Öffentliche Gesund- heitsdienst gefragt. Er könnte in Form von „Gemeindediagnosen“

durch regionale Gesundheitsbe- richterstattung Handlungsschwer- punkte und lokale Präventions- möglichkeiten identifizieren, dies in regionale Netzwerke – zum Bei- spiel kommunale Gesundheitskon- ferenzen – einbringen und auf die-

ser Basis die Entwicklung von regi- onalen Präventionsplänen mode- rieren. In Bayern geschieht dies im Moment im Rahmen eines vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege geförder- ten Modellvorhabens „Runde Ti- sche Prävention“ in acht bayeri- schen Regionen. Die begleitende Evaluation des Modellprojekts soll

fördernde und hemmende Fakto- ren einer solchen regionalen Steu- erung der Prävention identifizieren und so auch Gestaltungshinweise für eine Weiterentwicklung dieses Prozesses nach der Modellphase liefern. Bereits absehbar ist, dass ein konstruktives Zusammenwirken regionaler Umsetzungsstrukturen und überregionaler Kompetenz-

zentren dabei ein entscheidender Punkt sein wird. Die Einrichtung des Bayerischen Zentrums für Prä- vention und Gesundheitsförderung am Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und die Eta- blierung regionaler Präventions- manager an den Regierungen trägt dem auf Landesebene Rechnung, auf Bundesebene geht die Bundes-

zentrale für gesundheitliche Auf- klärung ebenfalls Schritte in diese Richtung.

Fazit: Prävention als work in progress

Als dritte Säule des Gesundheits- wesens wird die Prävention auf ab- sehbare Zeit nicht dienen. Verän- derungen im Gesundheitswesen – und erst recht Weichenstellungen nach dem Muster des Health in all Policies-Ansatzes – vollziehen sich erfahrungsgemäß eher in kleinen Schritten. Das muss bei komplexen und nicht vollständig überschau- baren Vorhaben kein Nachteil sein, weil so bessere Möglichkeiten der Korrektur fehlerhafter Entwicklun- gen bestehen. Der Ausbau der Prä- vention wird daher vorerst ein „work in progress“ bleiben – aber es soll- te erkennbar sein, dass eine Ziel- richtung vorhanden ist und diese ernsthaft verfolgt wird. Der nächs- te Entwurf des Präventionsgeset- zes wird zeigen, ob dem so ist.

Dr. Joseph Kuhn (LGL) Präventionsausgaben nach Ausgabenträgern in Deutschland 2011 (in Millionen Euro)

Abbildung 2 Quelle: Statistisches Bundesamt

Gesetzliche Kran- kenversicherung 6.000

4.000

2.000

0

Öffentliche

Haushalte Private Haushalte/

Organisationen Gesetzliche

Unfallversicherung Arbeitgeber Soziale Pflege-

versicherung Gesetzliche Ren-

tenversicherung Private Kran- kenversicherung

Das Fußnoten- verzeichnis zu diesem Artikel finden Sie unter www.kvb.de in der Rubrik Pres- se/Publikationen/

KVB FORUM/Li- teraturverzeichnis.

4.782

2.336

1.336 1.079 875

320 188 165

Abbildung 3 Quelle: GKV-Spitzenverband, Präventionsberichte 2004

300 250 400 350

200 150 100

50

Ausgaben der Krankenkassen für Prävention und Gesundheitsförderung nach den Paragrafen 20, 20a SGB V (in Millionen Euro)

0

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

148 180 232

300

340 311 303

270 238

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