• Keine Ergebnisse gefunden

Nahkampf auf den Straßen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Nahkampf auf den Straßen"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

124 IP November / Dezember 2014 Alexandra Endres | Die Bogotanos brau­

chen Kraft und Nerven: Sobald sie auf die Straße treten, empfängt ihre Stadt sie mit kaum verhohlener Aggressi­

vität, und für den täglichen Weg zur Arbeit brauchen sie Durchsetzungs­

vermögen und große innere Ruhe.

Der Kampf um Platz beginnt schon auf dem Bürgersteig. Nie treten Fuß­

gänger zur Seite, um andere vorbeizu­

lassen, sie gehen stattdessen einfach immer weiter geradeaus.

Besonders schlimm ist das Gedrän­

ge im öffentlichen Nahverkehr. In Bogotá gibt es ein Bussystem, das nach dem Vorbild eines U­Bahn­Net­

zes aufgebaut ist. Es heißt Transmile­

nio und ist der Stolz der Kommunal­

politik. Die Haltestellen liegen wie Bahnsteige etwas erhöht in der Mitte der großen Autostraßen, für die Busse sind eigene Spuren reserviert, Plexi­

glaswände trennen die Haltestellen von der Fahrbahn. Fährt ein Bus vor, öffnen sich Schiebetüren in der Wand, um ein reibungsloses Ein­ und Aus­

steigen zu ermöglichen. Dann schlie­

ßen die Türen sich wieder, zur Sicher­

heit und damit niemand unbefugt die Haltestellen betritt.

Soweit die Theorie. Im Alltag aber hat das Gedränge zwischen den Schie­

betüren viel von einem Nahkampf.

Besonders schlimm ist es in der Rush­

Hour, die in Bogotá fast den ganzen Tag dauert. Dann stehen die Türen des Transmilenio weit offen, weil sich so viele Menschen zwischen ihnen drängen. Von hinten schiebt die Masse, selbst wenn weit und breit noch kein Bus zu sehen ist, und vorne halten sich die Wartenden mit den Fingerspitzen am Türrahmen fest, damit sie nicht dem nächsten Fahr­

zeug vor die Räder fallen. Glücklich ist außerdem, wer am Ende einer Reise mit dem Transmilenio noch all seine Wertsachen bei sich hat. Und mit dem Taxi zu fahren, ist auch nicht nervenschonender.

Es ist schon merkwürdig: An der Kasse im Supermarkt warten die Men­

schen geduldig, bis das alte Mütter­

chen vor ihnen die Münzen aus seiner Börse gefriemelt hat. Den Ausländern begegnen sie freundlich und hilfsbe­

reit und tun alles Erdenkliche, um Gästen den Aufenthalt in ihrer Stadt so angenehm wie möglich zu machen – aber nur, solange sie sich in ge­

schützten Innenräumen befinden.

Auf der Straße jedoch sind Geduld, Freundlichkeit und Rücksicht wie weggeblasen.

Nahkampf auf den Straßen

Im öffentlichen Raum zeigen sich die Auswirkungen des Bürgerkriegs Brief aus … Bogotá

Bild nur in

Printausgabe verfügbar

(2)

IP November / Dezember 2014 125 Brief aus … Bogotá

Das Misstrauen ist all- gegenwärtig, jeder ist sich selbst der Nächste

Woher kommt das nur? Vielleicht liegt es am Bürgerkrieg, obwohl des­

sen direkte Gewalt in Bogotá kaum zu spüren ist. So sieht es eine Freundin;

sie sagt, in den Straßen der Haupt­

stadt spiegele sich der Zustand der kolumbianischen Gesellschaft: „Wir sind alle traumatisiert.“ Es gebe keine Familie, die nicht vom Krieg betroffen sei. Jeder Einzelne schleppe seine Ver­

letzungen mit sich herum. Und alle wüssten, dass sie im Zweifel ganz al­

leine damit klarkommen müssten.

Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir kei­

ner – das scheint gut zu beschreiben, was auf Bogotás Straßen passiert.

Überhaupt scheint das Einzelkämp­

fertum in Kolumbien weit verbreitet.

Die Sprache ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Eine typisch kolum­

bianische Redewendung warnt davor, Spitzbuben Gelegenheit zu bieten:

„Gib keine Papaya!“ Zugleich wird man gerne ermahnt, die eigenen Chancen nicht zu vergeben, selbst wenn man dadurch anderen schadet:

„Verschenk Deine Papayas nicht!“

Anders gesagt: Das Misstrauen ist allgegenwärtig, und jeder ist sich selbst der Nächste. Vermutlich ist das eine ganz normale Haltung in einem Land, in dem der Staat nie in der Lage war, all seinen Bürgern Rechtssicherheit zu bieten, in dem die wirtschaftliche Un­

gleichheit so hoch ist wie kaum sonst­

wo in Lateinamerika, und in dem es seit seiner Entstehung üblich ist, Kon­

flikte mit Gewalt zu lösen, ganz unab­

hängig vom aktuellen Bürgerkrieg.

Eine friedliche Gesellschaft zu schaffen, ist unter diesen Vorausset­

zungen natürlich kompliziert – alle Fortschritte bei den Friedensverhand­

lungen hin oder her. Dennoch gibt es viele Kolumbianer, die der ewigen

Kämpfe müde sind: Die Dorfvorstehe­

rin zum Beispiel, deren Familie von Guerilleros ermordet wurde, die selbst von Paramilitärs gefoltert wurde, und die heute dennoch landauf, landab für Versöhnung wirbt.

Der Balletttänzer, der Kinder aus einem Slum ausbil­

det, weil er findet:

„Wenn wir ihnen

keine Zukunft bieten, wird dieses Land nie zur Ruhe kommen.“ Oder der Unternehmer, der wochenlang in der Gewalt der Guerilla war, und der heute einem Ex­Guerillero Arbeit gibt.

Auch der Bürgermeister Bogotás war ein Guerillero. Gustavo Petro ge­

hörte zur M­19, die allerdings schon lange die Waffen niedergelegt hat.

Viele seiner ehemaligen Kampfgefähr­

ten sind heute in der Politik aktiv. Ob das auch den Kämpfern von der Farc gestattet werden soll, ist eine der schwierigsten Fragen des Friedens­

prozesses.

Petro hat gerade einen Plan vorge­

stellt, der wenigstens die Straßen Bo­

gotás zu einem friedlicheren Ort ma­

chen könnte. Nach mehr als 60 Jahren Planung soll endlich eine U­Bahn ge­

baut werden. Täglich eine Million Pas­

sagiere soll sie befördern und so den Nahkampf auf den Straßen deutlich entspannen. In zwei Jahren, so hofft er, könnten die Bauarbeiten beginnen.

Alexandra Endres ist Wirtschafts- redakteurin bei ZEIT ONLINE.

Bild nur in

Printausgabe verfügbar

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Trotz Pandemie war das Vertrauen in den Produktionsstandort Schweiz auch im ver- gangenen Sommer relativ gross: 42 Prozent der Befragten erwarteten für die Jahre 2020 bis 2023

Konkret heisst das für die Landwirtschaft, wenn unförmige Karotten aussortiert werden, in der Industrie, wenn zu viel produziert wird, im Detailhandel, wenn Produkte ablaufen,

Selbst wenn der Iran sich zur Es- kalation entscheiden sollte, sind sich die Befürworter eines Militärschlags sicher, dass der Westen iranische Ge- genangriffe abwehren

Durch das Beschreiben von fantastischen Tieren werden die Lernenden zum einen motiviert, da die zu beschreibenden Tiere eben ungewöhnlich sind, und zum anderen werden sie in

Abwandlungen vom ganzen nördlichen Churer Rheintal, besonders vom Kreis Fünf Dörfer, sagen: Kein anderes Gebiet Graubündens zeigt solche Vorteile für eine indu¬ strielle

„Wir ruhen uns auf diesem erfreulichen Ergebnis aber nicht aus, sondern arbeiten weiter daran, dass Bildung in unserem Land ein hohes Gut bleibt.“. Mit einer Bildungsbeteiligung

Das dabei eingesetzte Falling Weight Deflec- tometer (FWD) kann eine Belastung von fünf Tonnen oder mehr simulieren – fünf Tonnen entsprechen der Belastung durch ein Rad

Ein Mensch ist plötzlich kein Mensch mehr, sondern eben ein „Fall“ – also gleichsam ein unpersönliches Etwas, das es wagt, alt und schwach zu sein und dann auch noch Kosten