FOKUS
Die Volkswirtschaft 10 / 2020 29 geschaffen. Was neu dazukommt, ist der starke Anstieg der Unternehmensschulden – wobei hier der als Intermediär wirkende Finanzsektor nicht berücksichtigt wird. Insgesamt betragen die Schulden des privaten Sektors in der Schweiz über 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das ist im internationalen Vergleich ein Spitzenwert, der lediglich von Schweden übertroffen wird (siehe Abbildung 1).
Globale Firmenschulden sind stabil
In den 21 wichtigsten entwickelten Volks- wirtschaften betragen die Unternehmens- schulden heute im Durchschnitt 91 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP). Anteilsmässig liegt die Unternehmensverschuldung damit auf einem ähnlichen Niveau wie vor zehn Jah- ren. Im Gegensatz zu den zwei Jahrzehnten vor der Finanzmarktkrise waren die meisten US- amerikanischen und europäischen Unter- nehmen zurückhaltend bei der Kreditauf- nahme. Dies vor allem deshalb, weil sie die Wachstumsperspektiven auf ihrem Heimmarkt
W
eltweit ist die Staatsverschuldung seit Ausbruch der Finanzkrise von 2008 stark angestiegen. Dank einer vernünftigen Finanzpolitik und der traditionellen Position als«Zinsinsel» befindet sich die Schweiz in einer vergleichsweise komfortablen Lage. Allerdings:
Dies gilt nur für die öffentliche Verschuldung – bei der privaten Verschuldung schneidet die Schweiz deutlich schlechter ab.
Das Schweizer Steuersystem und insbesondere die Regel des Eigenmietwertes haben seit mehre- ren Jahrzehnten den Anreiz einer höheren Hypo- thekar- und damit auch Haushaltsverschuldung
Bedrohliche Unternehmensverschuldung
Anders als in den meisten Industriestaaten ist die Unternehmensverschuldung in der Schweiz in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Solange die Zinsen tief bleiben, droht wenig Gefahr. Doch niemand hat mit Corona gerechnet. Anastassios Frangulidis
Abstract Die Verschlechterung der Staatsfinanzen seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise im Jahr 2008 steht im Vordergrund der globalen Diskus- sionen um die Entwicklung der Schuldenlage. Dank einer vernünftigen Finanz politik befindet sich die Schweiz diesbezüglich in einer komfortab- len Lage. Dies ist aber im Bereich der privaten Verschuldung weniger der Fall. Aufgrund eines starken Anstiegs der Unternehmensschulden betra- gen die Schulden des Schweizer privaten Sektors über 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Dieser im internationalen Vergleich hohe Wert deu- tet darauf hin, dass das Thema «Schulden» auch in der Schweiz von Rele- vanz ist.
Abb. 1: Öffentliche und private Verschuldung (Ende 2019)
PICTET ASSET MANAGEMENT, DATASTREAM / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Staatsverschuldung Privatverschuldung 400 in % des BIP
300
200
100
0
Russland Arge
ntinien
Mexiko Polen Indien
Brasilien Deutschland
Südkorea Australien
Spanien Italien
USA China Grossbritannien
Griechenland Schweden
Schweiz Kanada
Fran kreich Japan
VERSCHULDUNG
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als ungenügend einschätzten. Insbesondere in Europa hat die Eurokrise nicht nur die Nach- frage, sondern auch das Angebot nach Unter- nehmenskrediten negativ beeinträchtigt. Viele Banken im Euroraum waren seit der Finanzkrise darauf bedacht, die Qualität ihrer Bilanzen zu verbessern. Deshalb verfolgten sie eine restrik- tive Kreditpolitik.
Schweiz tanzt aus der Reihe
Anders als in der westlichen Welt sind die Unter- nehmensschulden in China im Verlauf des letz- ten Jahrzehnts massiv angestiegen und machen inzwischen 144 Prozent des BIP aus. Da China sowohl für die konjunkturelle Entwicklung der Schwellenländer wie auch der übrigen Welt eine zunehmend bedeutendere Rolle spielt, ist diese Entwicklung keine gute Nachricht.
Auch in der Schweiz sind die Unternehmens- und Haushaltsschulden – entgegen dem Trend in den Industriestaaten – seit der Finanzkrise gewachsen (siehe Abbildung 2). Diese Ent- wicklung steht in einem engen Zusammenhang mit einem starken Anstieg der Kreditaufnahme.
Ein Indikator dafür ist die sogenannte Kredit- lücke, die angibt, wie stark das aktuelle Verhält- nis der Kreditvergabe zum Bruttoinlandprodukt vom langfristigen Trend abweicht. Sie ist in der Schweiz im Privatsektor und insbesondere im Unternehmensbereich in jüngster Zeit deutlich angestiegen – was auf eine Beschleunigung der Kreditaufnahme des Schweizer Unternehmens- sektors hindeutet.
Diese auf den ersten Blick erstaunliche Ent- wicklung lässt sich zu einem bedeutenden Teil durch die Zinsentwicklung in der Schweiz er- klären. So hat die Unternehmensverschuldung Party unter erschwer-
ten Bedingungen:
MAD-Club in Lausanne Anfang Juni.
KEYSTONE
FOKUS
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Anastassios Frangulidis
Leiter Multi Asset und Chefstratege, Pictet Asset Management, Zürich
nach der Einführung von Negativzinsen durch die Schweizerische Nationalbank im Jahr 2015 an Dynamik gewonnen. Ganz offensichtlich sind Investitionsprojekte, welche früher als wenig rentabel galten, nun durch die tieferen Finanzierungskosten interessanter geworden.
Zudem wird es für börsenkotierte Unternehmen attraktiver, einen Teil ihrer gehandelten Aktien wieder zurückzukaufen, indem sie Mittel auf dem Kapitalmarkt aufnehmen.
Corona verstärkt Risiken
Der Anstieg der Fremdfinanzierung der Unter- nehmen ist gut verkraftbar, solange das damit erzielte Wachstum die Kosten der Finanzierung der bestehenden Schulden nachhaltig über- schreitet. Dies schien in den letzten Jahren – auf- grund der tendenziell stetig sinkenden Zinsen – der Fall zu sein. Die aktuelle ökonomische Krise rund um Covid-19 zeigt nun aber, dass sich die Wachstumsperspektiven schnell verschlechtern können. Zudem könnte eine Normalisierung der
Abb. 2: Verschuldungsentwicklung des öffentlichen und des privaten Sektors in der Schweiz (2000 bis 2019)
sehr tiefen Inflationsraten in den nächsten Jah- ren zu einem Ende der sinkenden Zinsstruktur in der Schweiz führen. Es ist deshalb ratsam, sowohl für die Unternehmer als auch für die Investoren, die langfristigen Risiken der an- steigenden Unternehmensverschuldung nicht zu vernachlässigen. Gerade für die Schweiz ist die Erkenntnis von Bedeutung, dass nicht nur eine steigende Staatsverschuldung, sondern ebenso eine stark zunehmende Unternehmens- verschuldung ein Risiko für die langfristige Wohlstandsperspektive darstellt.
PICTET ASSET MANAGEMENT, DATASTREAM, STAND: ENDE 2019 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
150 in % des BIP 125
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020
100 75 50 25
Haushalte Firmen (ohne Finanzsektor) Staat