Von Helmut Humbach, Saarbrücken
1. Das Vergehen des Yima.
Das Verdienst von Wolfgang Lentz ist es, wie ich schon an anderer
Stelle hervorgehoben habe, unseren Blick in verstärktem Maße auf die
Betrachtung der Komposition in den zarathustrischen Gathas gelenkt
zu haben und damit auf die Möglichkeit, aus der Komposition rück¬
wirkend Schlüsse auf die Übersetzung zu gewinnen'.
Wie nötig das war, geht wohl zum Beispiel daraus hervor, daß es
Babtholomab nicht gelungen ist, die aus einer so klaren Stelle wie
Y.32.3 Syaomqm. .. yäiS asrüdüm^
„die Taten, durch die ihr berühmt (berüchtigt) geworden seid"*
zu gewirmenden Erkenntnisse der Deutung der syntaktischen Verhält¬
nisse in den im Verlaufe des gleichen Liedes folgenden verwandten, aber
dunkleren Stellen nutzbar zu machen, nämlich
' Vgl. meine Rezension von Wolfgakg Lentz, Yasna 28, in IP 63, die
ieh aus technischen Gründen im folgenden mit IF 63 Rez. zitiere. Ich
erlaube mir übrigens, bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die
Bemerkung in ZDMG 105. *6P von mir weder verfaßt noch veranlaßt ist.
^ Als Aorist von sru „hören" ist nm der Wurzelaorist bezeugt. Vgl.
sravimä Y.28.7 und vor allem auch asrvätdm Y.30.3. Die Lesung asrüdüm
Geldnebs ist also Babtholomaes asrüzdüm vorzuziehen.
ä Geläufig ist die Übersetzung „berüchtigt". Richtiger ist vielleicht „be¬
rühmt", das dann als Ironie zu verstehen ist. Der Anfang des an die daevä vispäohö gerichteten Liedes Y. 32 ist, wie ich in WZKSOA 1 zu zeigen bemüht bin, die Parodie eines Liedes an die viM>e deväh. Daß die auf der Parodie be¬
ruhende Ironie im übrigen nicht nm auf den Anfang des Liedes beschränkt
ist, zeigt Str. 11, soferne man bereit ist, in mazibii (Instr. PI.) und apayeüi
(Instr. Sg.) lebendige Kasusformen zu erblicken und von Babtholomaes
Verlegenheitslösimg, die hinter jenem ein Adverb, hinter diesem einen In¬
finitiv sucht, abzugehen, apayeüi ergibt sich so als Apposition von maziblä.
Ersetzt man außerdem die Unform aahvas-6ä (angeblich Akk.Pl.) dmch die
gut bezeugte v. 1. avhavas-iä (Nom.Pl.), so wird axmhi66ä avhavasöä zm Appo¬
sition von dragvantö, wodmch überhaupt erst die Geschlossenheit und scharfe
rhythmische Gliederung der Strophe offenkundig wird :
Y.32.11 taeöit mä mörandm jyötüm yöi dragvantö mazibiS öiköitaraS
anuhiilä avhavasiä apayeiti raexanaahö vacdam
„Die zerstören das Leben, die Trughaften, die nüt (sogenannten) großen Dingen glänzen,
die (sogenannten) Lebensherrinnen und Lebensherren:
mit der Wegnahme des Besitzes des ErbteUs."
Y.32.6 pourü aenä Snäxätä yäiS srävahyeiti Y.32.7 aeSqm aenaahqin. .. yäiS srävi
Y.32.8 aeSqm aenaohqm. . .srävi
Ja, es scheint sogar, daß Baetholomae die offenkundige Verwandtschaft
dieser vier Textstellen überhaupt nicht gesehen hat'.
Daß Baetholomaes wenig schöne Auffassung von srävahyeiti Y.32.6
als Infinitiv nicht richtig ist, haben freilich schon Andeeas und Wackeb¬
naoel erkannt (NGGW 1913.379, 1931.324). Trotzdem konnten sie aber
die Strophe Y.32.6 noch nicht überzeugend klären. Mit Baetholomae
betrachteten nämlich auch sie noch das in ihr vorkommende SnäxStä als
Verbalform und legten es so mit ihm als Falschschreibung für *SnäStä
aus, das sie für die S.Sg.Med. des sonst nicht bezeugten, hier ausnahms¬
weise dehnstufig gebildeten Aorists der Wurzel qsjnas hielten*. Der An¬
nahme, daß in dem einen Worte so viele Unregelmäßigkeiten gehäuft
seien, ist doch wohl seine Erklärimg als regelmäßige Form vorzuziehen.
Deshalb deute ich Snäxätä als Lok. Sg. von SnäxSti-, das gleich j. anäxSti- ,, Unfriede" ist*. Das zwingt natürlich dazu, die sjTitaktischen Verhält¬
nisse in der Strophe völlig von Baetholomae und seinen Nachfolgern
abweichend zu beurteilen :
Y.32.6 pourü aenä SnäxStä yäiS srävahyeiti yezi täiS a&ä
vöistä hätä.maräne vahiStä manaahä ahurä
■dwahmi v3 mazdä xSa§röi aSäicä sänghö vidqm
,,Die vielen Frevel, mit denen er friedloserweise* nach Be¬
rühmtheit (Berüchtigtheit) strebt — ob er das tut^, weißt du,
' Nicht einmal die offenkundige Parallelität der beiden aeSqm aenanhqm,
die doch allem Anschein nach das vorausgehende pourü aenä aufnehmen,
kommt bei Baetholomae zm Geltung. Im zweiten Beleg nimmt er ein Hapax
legomenon aenah- „Frevler" an, wälirend er im ersten Beleg wie auoh im
gleichartigen aeiqm aenaahqm Y.30.7 dmchaus mit dem geläufigen aenah-
,, Frevel" rechnet.
^ Die später geläufige Verwechslung von St mit xät kommt in den Gathas
und im Yasna Haptaijhaiti noch nicht vor. Vgl. auch IF 63.44'' zu g. faraiti- (YH), dem j. fraxSti- entspricht.
^ äxäti- und anäxiti- gehören ohne Zweifel zu ä-xsä, das offensichtlich
„anschauen" bedeutet. Vgl.IF 63 Rez. zu avaenä. . .äxsö Y. 46.2. Ich vermute deshalb, daß äxiti- „Beachtung (der Gesetze)" und anäxSti- „Mißachtung (der Gesetze)" ist.
* Der Privativlokativ Snäxätä scheint ähnlich wie asruätä Y.43.12 aufzu¬
fassen zu sein. Verwandtes bei Verf. Corolla Linguistica 92 ff.
' a&ä, das trotz der Überzähligkeit des Verses keinesfalls einfach weg¬
gestrichen werden darf, vertritt m.E. das vorausgehende Verbum srävahyeiti bei dessen Ehipse in der Wiederholung. Ähnlich wird im Jungawestischen öfters i&ä gebraucht. Belege hierfür verzeichnet Bartholomae Air. Wb. 365 f.
— yezi scheint von vöistä abhängig zu sein. Vgl. vaedä yezi Y.48.9 „ich weiß ob" und ved. veda yädi RV 10.129.7.
o Ahura, der du der Verdienste eingedenk bist, durch den besten Sinn.
In deinem Machtbereich soll euch, o Mazda, imd der Wahr¬
haftigkeit Lobpreis ausgebreitet werden"'.
Dafür, daß yäiS srävi der folgenden Strophe Y.32.7 im wesentlichen
nach Syaomqm. . .yäiS asrvdüm Y.32.3 und ainä. . .yäiS srävahyeiti zu
beurteilen ist, daß also aenaohqm. . .yäiS srävi mit Beziehung von yäiS
auf aenaohqm zusammenzunehmen ist, leuchtet — so hoffe ich wenig¬
stens — ohne weiteres ein*. Die Strophe lautet :
y. 32.7 ajeSqm aenaohqm naeöit vidvd aoföi hädröyä
yä föyä sänghaite yäiS srävi x'^aenä ayaohä
yaeSqm tü ahurä irixtdm mazdä vaediStö ahi
Betrachtet man sie unbefangen, also ohne Zugrundelegung der teil¬
weise auch unter größten Zugeständnissen kaum mit dem Text in Über¬
einstimmung zu bringenden Übersetzung Babtholomaes*, so läßt sich
wohl kaum der Eindruck umgehen, daß von aeSqm aenaohqm nicht nur
der Relativsatz mit yäiS srävi abhängig ist, sondern eine ganze Serie von
Relativsätzen {yä. . .yäiä. ..yaeSqm), die, ähnlich wie in Y.32.10, durch
Padaende imd Zäsur voneinander abgegrenzt sind. Das heißt also, daß
yäiä srävi zusammen mit dem ihm folgenden x^aenä ayaohä einen Satz
bildet. Daraus ergibt sich ein, wie mir scheint, bemerkenswertes Problem.
Folgt man Lentz' unverkennbarem Streben, gleiche Wörter nach
Möglichkeit gleich zu übersetzen, also vor aUem bei der als Mittel der
Komposition dienenden Wiederholung eines Wortes in einem Liede* mit
völliger Gleichheit der Bedeutungsnuance zu rechnen, so kann man
schwerlich umhin, aeäqm aenanhqm ... yäiä srävi x^aenä ayaohä etwa
durch „die Frevel, durch die einer mit Hilfe des Ordals mit dem glühen¬
den Erze berühmt (berüchtigt) wird" zu deuten, was Unsinn ist.
Rudolf Mayeb, mit dem ich über meine Bedenken sprechen konnte,
verdanke ich die m. E. einzig diskutable Lösung dieser Schwierigkeit:
srävi ist hier juristischer Terminus imd bedeutet „wird ziu- Aussage
gebracht, überführt". Demnach ist zu übersetzen:
' Zu Päda c vgl. MSS 7.71 mit Note 5.
" Baetholomae übersetzt yäiS srävi durch ,,wie bekannt", rechnet also mit einem yäiä „wie", das weder in sich wahrscheinlich ist, noch auch dmch brauchbare sonstige Belege zu stützen. Vgl. auch IF63 Rez. 7.ayäiä Y.28.11.
^ hädröyä jj yä jöyä sänghaite / yäiä srävi x^aenä ayaohä // bedeutet nach
Baetholomae „in dem Verlangen nach Erreichung {hädröyä) des Gewinns
{jöyä), der {yä), wie bekannt {yäiä srävi), durch das lohende Metall {x'^aenä ayaohä) zuteU wü-d {smghaite).
* Oder natürlich auch, was ich im folgenden davon nicht trennen will, bei
seiner Variation durch ein etymologisch verwandtes Wort {asrüdüm : srä¬
vahyeiti).
„Mir keines dieser Frevel bewußt zu sein behaupte ich' in meiner geraden Art*,
dieser Frevel, die vom Gewalttäter* ausgesprochen werden, um
derentwillen er mit glühendem Erz zur Aussage gebracht wird,
dieser Frevel, deren Schuldlast du genauestens zur Kenntnis nimmst,
o Ahura, o Mazda."
Bei der Wiederholung eines von Lentz so genannten ,, spezifischen
HäufigkeitsWortes" (hier sru ,, hören") muß also damit gerechnet werden,
daß in der Wiederholung eine ganz andere gedankliche Sphäre anklingt
als bei der ersten Nennung*. Daß srävi Y.32.7 im Gegensatz zu den
vorausgehenden asrüdüm Y.32.3, srävahyeiti Y.32.6 und den später fol¬
genden sravd Y.32.9, 10 und sravaahä Y. 32.12 der gerichtlichen Termino¬
logie entstammt, wird auch durch seinen unmittelbar folgenden zweiten
Beleg aeSqm aenanhqm. . .srävi yimasöit Y.32.8 wahrscheinlich, wo
aesqm aenaahqm als partitiver Gen.Pl. an Stelle eines Instr. Sg. (oder PI. ?)
zu stehen scheint. Als adverbiale Ergänzung zu srävi findet sich hier
•dwahmi mazdä viSidöi aipi ,,in deiner Entscheidung, o Mazda". Da nun
viöi'&a- in Y.46.18 das Urteil ist, in dem Gerechte und Ungerechte von¬
einander geschieden werden (vgl. Y.46.15,17) sowie Böses mit Bösem und
Gutes mit Gutem vergolten wird, liegt es recht nahe anzunehmen, daß
' Babtholomaes Auffassung von aojföi als Infinitiv zu ved. ühati „rückt"
(Air. Wb. 40), nach der ,, Frevel rücken" soviel wie ,, Frevel begehen" wäre,
ist seither von verschiedenen Forschern dmch Zugrundelegung jeweils an¬
derer Verben modifiziert worden. Ich vermute jedoch, daß nicht nm die ety¬
mologische Verbindung von aoföi mit Ühati irrig ist, sondern überhaupt die
so überaus gezwrmgene Analyse der Form als Infinitiv. Deshalb betrachte
ich aoföi als regelmäßige 1. Sg.Ind. Präs. von aof „sprechen", wozu der Inj.
aofi imd der Konj. aofäi ebenfalls gathisch belegt sind.
2 hädröyä, dem sicherlich ein *hädra- zugrunde liegt, ist entweder BUdung des Typs x'"ä&röyä ,, durch Streben nach Wohlergehen", ved. akvayä ,,aus Begehr nach Pferden", oder es ist Adverb des Typs ved. päpäyä ,, schlecht".
Gilt letzteres, so könnte man unter der Voraussetzung, daß hädra- gleich ved.
sädhü- ist, hädröyä dmch ved. sädhuyä, das Adverb von sädhü- erklären.
^ Nybeeg, Religionen 448 meint, daß föyä zum Staimne faya- ,, Gewinn,
Sieg" (Y.50.7) gehöre. Das ä ist jedoch offensichtlich zweigipflig zu messen,
was auf Zugehörigkeit zu den Wmzelnomina weist (vgl. WZKSOA 1). Näher
liegt also die Zuordnung von föyä zu ved. jyd- (d. i. jid-) ,, Gewalt".
* Teilweise ist der Wechsel der gedanklichen Sphäre vielleicht sogar als
dichterisches Kunstmittel zu betrachten. Da mystische Identifikationen ein
wesentliches Merkmal der priesterlichen Dichtung der alten Arier ist, mag
tatsächlich die Meditation über die verschiedene Verwendbarkeit eines
Wortes mit zm dichterischen Technik gehört zu haben. Oft erweckt freUich
die Verschiedenheit der Bedeutungsfelder in den verschiedenen Sprachen beim
Übersetzer den Eindruck des Wechsels der gedanklichen Sphäre, während
dem Dichter ein solcher Wechsel gar nicht bewußt war. Vgl. etwa sänghö
Y.32.6 neben sSnghaiti ib. 7.
das Wort an unserer Stelle die richterliche Entscheidung des Ahura
Mazda bezeichnet' :
Y.32.8 aeSqm aenaohqm vlvaohuSö srävi yimasSU
yä maSySng öixänuSö ahmäkSng gävS bagä x^ärdmnö
aeäqmilt ä ahml ■dwahmi mazdä vlSi^dvi aipt
„Um eines dieser Frevel willen wurde vor allem Yima, der
Sohn des Vivahvan zur Aussage gebracht,
der die Menschen erfreuen wollte
gerade um eines dieser Frevel willen — in dieser deiner
(richterlichen) Entscheidung, o Mazda*".
Wir erfahren so in Y.32.6— 8 mancherlei über die Sage vom Könige
Yima, von seiner Schuldhaftigkeit und von seiner Verurteilung. Leider
lassen sich Aussagen über die Art seines Vergehens nur unter wesentlich
größeren Vorbehalten machen. Zwar meint Bartholomae, von den
Späteren nur in Kleinigkeiten beanstandet, ahmäkäng gäuS bagä x^ärdmnö
bedeute ,,der den Unseren Fleischstücke zu essen gab"*. Das kann er
aber nur dadurch möglich machen, daß er das im ganzen Awesta vielmals
und eindeutig als Nom.Sg. bezeugte gäuS als unregelmäßigen Gen. Sg.
(sonst gäuS) betrachtet*. Mit solcher Methode läßt sich natürlich alles
beweisen. Ich vermute demgegenüber, daß in yä maSyäng. . .ahtnäkäng
gäuS das Wort ahmäkäng Apposition zu maSyäng und das Wort gäuä
Apposition zu yä (seil, yimö) ist. gätiä, das als Maskulinum „Stier" be¬
deutet, dürfte hier also eine Bezeichnung für den königlichen Helden sein
wie etwa arSan- in arSa airyanqm dahyunqm ,, Stier der arischen Länder",
das in Yt.5.49 vom mythischen Könige Haosravah gesagt ist. Nicht min¬
der problematisch ist die Deutung von x^ärdmnö. Läge Kausativum
„zu essen geben" vor, wie Baetholomae meint, würde man *xmrayqs,
*xmrayamnö erwarten. Doch auch wenn man gemeinsam mit Andeeas
und Wackeenagel mit einem Verbum primitivum ,, essen" rechnete,
wäre die Form ungewöhnlich. Das Normale wäre nämlich * x^arajs (vgl.
j. x^'arö). Sehr beachtlich scheint mir deshalb eine Vermutung, die
' Die richterliche Gewalt des Hausherrn ist in Y.46.5 dmch das mit
viiida- etymologisch verwandte Adjektiv vlöira- bezeichnet.
" Bartholomae übersetzt ,,von ihnen (aeSqmöit) werde ich {ahml) künftig {aipi) von dir (dwahmi) geschieden werden (■viii&öi)". Zu meiner Auffassung von ai/pl als Präposition mit Lokativ vgl. ved. dpi mit Lokativ. Eine weitere
Diskussion der Auffassung Bartholomaes von dieser Zeile erübrigt sich
wohl in Anbetracht der geradezu abenteuerlichen syntaktischen Vorstellun¬
gen, die ihr zugrundeliegen.
ä Andreas und Wäckernagel übersetzen „indem er aß" (NGGW 1913.
381, 1931.325).
* Für Andreas und Waokkrnaokl gilt gäMä entsprechend als Fehl¬
schreibung für gäui.
K. Hoffmann einmal äußerte: x^ärgmna- könnte Denominativum eines
* x'^ära- sein, das durch ahd. swuor ,,Eid" erklärt werden könnte. So
könnte man übersetzen :
yä maSyäng iixSnuSö ahmäkäng gäuS bagä x^ärdmnö
„der die Menschen mit Glücksanteil erfreuen wollte — die
Unseren er, der Stier —, indem er einen (Mein-)Eid ablegte"
Manches spricht dafür. Gerade die eidliche Aussage ist es ja, deren
Wahrhaftigkeit mangels anderer Kriterien durch ein Ordal geprüft zu
werden pflegt. Von einem Ordal war aber gerade in der vorhergehenden
Strophe die Rede. In den Bereich des Eids bzw. Meineids weist aber auch
das Zeugnis der jungawestischen Stelle Yt. 19.33, nach der der Frevel
des Yima aus einem draogvm väöim aahaidim bestand, also aus trüge¬
rischer Rede. Auch nach Aussage der Gathastrophe Y.45.1 scheint es,
daß der Verlust des Paradieses seine Ursache in frevlerischem Worte hat.
Das Stichwort ist duS.sastiS ,,der Übelredner", das Wort, mit dem auch
die der Nennung des Yima in Y.32.8 folgende Strophe Y.32.9 beginnt:
Y.45.1 nöit daibitim duS.sastiS ahüm mdrqSyät
akä varanü drdgvä hizvä ävdrdtö
„Nicht möge der Übelredner die Welt zum zweitenmal' ver¬
derben
mit seinem üblen Begehr, der Trughafte, mit seiner Zunge,
als einer, zu dem man sich entschlossen hat."*
2. Der Mythos von den Zwillingen.
In dem berühmten Passus Y.30.3 fi". der Gathas, in dem von den
mainyü paouruye die Rede ist, den beiden Bestrebungen, die die Grund-
1 daibitim ist gleich j. tbitlm „zum zweitenmal".
2 Es scheint mir unnötig, mit Nybeeg, Religionen 166 dem Verbaladjektiv
ävarata- die beim transitiven Verbmn ungewöhnliche aktive Bedeutung ,,der
gewählt hat" beizulegen, ävdrdta- meint m. E. „zu dem als Führer oder Ge¬
nossen sich die Menschen entschlossen haben". Das Wort kann wohl nur im
Zusarmnerihang mit der bislang nicht erkannten Parallele avaeruxtä. . .
ävarand viöi'&ahyä narSm.naram Y.30.2 verstanden werden, wo die Gottheiten
(MSS 7.78) dazu aufgefordert werden, die Entschließungen zm Kenntnis zu
nehmen, die auf der Bemteilung eines Mannes um den anderen dmch den
Priester Zarathustra beruhen, nardm.naram ist natürhch nicht Adverb
„ihr. Mann für Mann", wie Baetholomae Air. Wb. 1053 zwar aus Verlegen¬
heit annimmt, aber doch schwer wahrscheinlich machen kaim, sondern enthält
lebendige Kasusformen, wie etwa j. nmäne.nmäne „in jedem Hause". Zur
verbalen Rektion von viöidu- vgl. fradadu- in Y.45.9.
läge des irdischen Lebens darstellen', finden sich mancherlei Probleme,
die von den Forschem, die sich mit den fraglichen Strophen beschäftigt
haben, nicht bemerkt worden sind.
Eines von diesen Problemen stellt sich m. E. bei dem Versuche einer
Analyse der Formen manahl, vaöahl und Syaodanöi in
Y.30.3 at tä mainyü paouruye yä yämä x^afdnä asrvätdm
manahiöä vaöahiSä äyao&anöi hl vahyö akdmöä.
Bartholomae faßt hier nach seinen Vorgängern manahl, vaSahi und
äyao&anöi als Lokative auf und übersetzt „das Bessere imd das Böse in
Gedanken, Wort und Tat". Unserem modernen Sprachgebrauch ist
diese Lösung zwar durchaus gemäß. Man muß sich aber doch darüber im
klaren sein, daß das Altiranische sonst kein ak^m manahl {vaSahl, Syao-
■&anöi) kennt, sondern nur akdm manö (vacö, Syao&andm), wo aka- als
attributives Adjektiv fungiert. Da scheint es mir doch viel treffender,
manahl, vacahl und Syao&anöi nicht als singularische Lokative auszu¬
legen, sondern als Nominative des Duals, manahlöä vacahlöä Syao&anöi
hl vahyö akdmcä bedeutet also m. E. „beiderlei Gedanken, beiderlei
Worte, beiderlei Werke, das bessere und das schlechte". Die Kon¬
struktion in Syao&anöi hl vahyö akdmöä ist dabei nach ved. sde cdsatca vd-
casi RV 7.104.12 ,, beide Worte, das wahre und das unwahre" zu be¬
urteilen.
Nimmt man das als richtig hin, so ergibt sich auch eine völlig neue und
einfache Lösung für das so dunkle und vielfach umstrittene x^afdnä.
Bartholomae hatte x^afdnä asrvätdm mit „sie offenbarten sich durch
ein Traumgesicht" wiedergegeben. Dagegen läßt sich einwenden, daß
man ein Traumgesicht sicher nicht so sehr hört (asrvätdml), sondem vor
allem sieht*. Will man dieser Komplikation aus dem Wege gehen, so ist
es wohl vorzuziehen, x^afdnä nicht als Instr. Sg. aufzufassen, sondern
ebenfalls als Dual im Sinne von , .beiderlei Träume". Wie manahl, vaäahl
und Syao&anöi ist also auch x^afdnä als Apposition zu mainyü zu be¬
trachten*. Zu übersetzen ist also :
' In der Parallele Y.45.1 steht aohduä nuiinyü paouruye. Bartholomae
nimmt paouruye als lokativisches Adverb. Die Stellung macht jedoch ad¬
jektivischen Eindruck. Betrachtet man nun die Opposition maeniä paouruye :
maenis apSmä in Y.44.19 sowie die Verbindmig Vdrdzänä paouruye Y.36.1,
so kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß paouruye die regel¬
rechte Vertretung eines älteren *paouruyä ist, das in dieser Form nicht be¬
legt ist und u. a. sowohl Nom.Du.m. als auch Instr. Sg.n. und Nom.Sg.f.
sein kann.
^ Vgl. BÖHTLiNGK-RoTH VTI 1432, wo reiches Material für svdpna- als
Objekt zu paä und drS.
^ „Auch im Schlaf tut bzw. träumt man Sünde" (Geldner Übs. zu
RV 7.86.6).
„Dies sind die beiden gnmdlegenden Bestrebungen (oder hier:
Strebensäußenmgen), die Zwillinge, die als beiderlei Träume bekannt geworden sind,
als beiderlei Gedanken und beiderlei Worte, als beiderlei Werke,
das bessere und das schlechte".
Auch die folgende Strophe, nämlich Y.30.4, enthält eine unerkamtte
Schwierigkeit, nämlich die Verbalform dazde. Da man annahm, Zara¬
thustra trage hier eine Erzählung über die Schöpfung der Welt durch die
beiden mainyü vor, deutete man dazde als 3.Du.Perf.Med. der Wurzel
dä in der Bedeutung ,,sie beide schufen". Das ist wieder einmal nur imter
der Annahme eines Bündels von Unregelmäßigkeiten möglich. Erstens
müßte die Form natürlich *dadäite lauten (vgl. j. mamanäite). Zweitens
könnte sie als Medium nicht bedeuten ,, sie schufen (für einen anderen)",
sondern nur „sie schufen für sich", was aber wieder dem Kontext
nicht entspricht. Drittens wäre aber in Korrespondenz zum erzählenden
Inj.Präs. des korrespondierenden Verbums hSm. . .jasaetdm des Neben¬
satzes ein erzählendes Tempus zu erwarten, also der Inj.Präs. oder Aor.,
keinesfalls aber das Perfekt.
So ist es wohl auch hier besser, auf den Boden der belegten Tatsachen
zurückzukehren und dazde ebenso zu deuten wie an allen seinen an¬
deren gathischen Belegstellen, nämlich als 3. Sg.Präs.Med. „er verschafft sich, nimmt sich vor, macht sich zueigen"'. Die Übersetzung der Strophe
lautet dann etwa folgendermaßen :
Y.30.4 atdä hyat tä hSm mainyü fasaetsm paourvim dazde
gaem£ä afyäitimSä ya-dadä avhat apämdm aahuä
adiStö dragvatqm at aSäune vdhiStdm manö
„Und wenn diese beiden Bestrebungen kämpferisch auf¬
einandertreffen*, macht man sich das Zunächst* zueigen,
Lebensfülle und Lebensmangel, und die Art, wie das Leben
zuletzt sein wird :
gar schlecht das der Trughaften — aber dem Wahrhaften
wird der beste Gedanke zuteil werden."
' Zu dähvä Y.50.2 vgl. MSS 6.46"; zu ahmai dazde Y.5I.19 und taibyö
ddnhä Y. 34.1 vgl. MSS 7.692; ^Uisva Y. 33.12 vgl. MSS 7.71; zu nidämä
Y.45.8 neben ni. . .dasva Yt. 10.32 vgl. IF 63.43"; zu dazde Y.51.6 und däite
Y.44.19 vgl. WZKSOA 1.
' Zu häm mainyü fasaetdm vgl. hyat Mm apädä. . .famaete Y.44.15 „wenn
die beiden Heere aufeinanderstoßen werden".
* Nach aahduS ahyä paourvim der Parallele Y.45.3 ist paourvim im Sinne
von aohäuS paourvim zu verstehen. aahäuS entfällt wegen des in Apposition
zu paourvim stehenden Synonyms gaem. Zur Stilfigur paourvim. . .ya§ä6ä
avhat apSmam aohuS vgl. västryät. , ,y§ vä nöit avhat västryö Y. 31.9, mä
kamnafävä hyatöä kamnänä ahmi Y. 46.2.
24 ZDMO 107/2
Davon, daß hier eine Schöpfungsgeschichte gegeben sei, kann also
keine Rede sein. Vielmehr ist der Mensch im Gewissenskampfe, im Kampf
zwischen dem Guten und Bösen in ihm und um ihn geschildert' und es
werden Lohn und Strafe für die richtige und die falsche Entscheidung
genannt*.
Trotz all dem möchte ich aber keineswegs behaupten, daß den Stro¬
phen Y.30.3,4 ein mythologischer Zug völlig ferne liege. Er ist lediglich
in anderer Richtung zu suchen. Es läßt sich ja mit emigem Rechte be¬
haupten, daß mainyü. . .asrvätdm „die beiden Bestrebungen sind bekannt
geworden" nicht wemger als das mit seinem ebenfalls augmentierten
Aorist von sru auffällig verwandte daevä. . .asrüdüm „ihr Daevas seid
berühmt (berüchtigt) geworden" das altbekannte und in Mythen und
Hymnen tradierte Wissensgut bezeichnet*.
Dafür, daß Zarathustra den Kem der Vorstellung von den ungleichen
Zwillingen aus älterer Überlieferung geschöpft hätte, könnten in der Tat
auch gewisse Übereinstimmungen zwischen dem gathischen Passus mit
' Man vergleiche dazu V. 7.52 nöit zi ahmi paüi nairi dva mainyu räna
ava.atdvhat „nicht treten ja vun diesen Manne die beiden nminyü kampfes¬
lustig gegeneinander an".
2 Irrig ist auch die am ausführlichsten von H. H. Schaedeb in ZDMG
94.401 ff. vertretene Auslegung der Parallelstelle Y.45. 1 ff. als Kosmogonie. Das läßt sich leicht an der dort in Y.45.2 auftretenden Verbalform mravat zeigen.
Babtholomae hat sie als 3. Sg.Inj.Präs. von mrü „sprechen" ausgelegt,
ohne sich daran zu stören, daß diese Form bis in die jüngsten Partieen des
Awesta hinein mraot lautet, mravat kann nur Konj .Präs. sein. Zu dem als
Konj. schon längst erkannten mravaiti Y.51.8 verhält es sich wie g. fimaf
zu g. jimaiti (beides Konjunktive). Die Strophe steht also keinen Schöpfungs¬
bericht dar, sondern eine Auffordenmg zxun Aussprechen eines Bannfluches.
Y.45.2 o« fravaxäyä avhäui nuiinyü paouruye
yayä spanyd uiti mravat yäm angram
nöit nä manä haünte
„Verkünden will ich die beiden grundlegenden Bestrebungen
des Lebens,
von denen die heilvollere folgendermaßen zm verderblichen
sprechen soll:
Nicht stimmen unser beider Gedanken überein".
spanyd und angrö mainyus bezeichnen hier die Menschen heilvoller \md ver¬
derblicher Bestrebung. So versteht auch die alte zoroastrische Theologie die
Stelle. Das zeigt Y.19.15, wo der Spmch nöit nä manä. . .haiinte dem Zara¬
thustra in den Mund gelegt wird, der damit den Tmghaften bannt — eine
Situation, die dmchaus in den Rahmen der Gathas paßt (vgl. Y.49.3 imd
MSS 6.45). [Ähnlich zu mravat Gbbshevitch JRAS 1952.177.]
8 Ähnlich frasrüta- „vernommen" (bzw. „verkündet") in Zarathustras Hin¬
weis auf die aus dem Veda bekannte Sage von der Ilä, in deren Fußtapfen
sich das Butterschmalz sammelte: padäiS yä frasrütä iiayä „mit Fußtapfen, die vernommen sind als die der I2ä" (Y.50.8, vgl. IF 63.43).
seinem vaSahl. .. .vahyö akdmöä (Y.32.3), häm mainyü fasaetdm (ib. 4),
ayd. . .y5 drdgvä (ib. 5) und dem oben genannten RV 7.104.12 sprechen,
wo es heißt: ade cdsac ca vdcast pasprdhäte, täyor ydt satydm. ... "Die
beiden Worte, das wahre und das unwahre, streiten miteinander. Das
wahre unter den beiden. ..". Die Feststellung einer gewissen Ähnlichkeit
darf natürlich nicht über die augenfälligen Verschiedenheiten hinweg¬
täuschen. Die Vedastelle zeigt allenfalls einen Ansatz zur dualistischen
Betrachtungsweise, die bei Zarathustra voU ausgeprägt ist.
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aus den Turfanfunden
Von Ebnst Waldschmidt, Göttingen
I
Im Jahre 1904 publizierte Richard Pischel^ als erste Frucht seiner
Beschäftigung mit den nach Berlin gelangten Sanskrittexten aus
Chinesisch-Turkistan die nicht sehr umfangreichen Reste von sechs
kurzen buddhistischen Sütras, welche zu der nach Sachgruppen zu¬
sammengefaßten kanonischen Textsammlung der Buddhisten, dem
Sarnyuktägama (Päli: Samyuttanikäya), gehörten*. Seither konnte
unter den Berliner Turfanhandschriften nie wieder eine ähnliche zu¬
sammenhängende Folge von Sütras aus eben dieser Sammlung festge¬
stellt und herausgebracht werden.*
Nun war mir unter den z. Z. in Göttingen befindlichen Turfan-Hand¬
schriften längst ein in elf Zeilen in älterer zentralasiatischer Brähmi be¬
schriebenes Manuskript mit der Katalognummer S 474 durch das un¬
gewöhnlich große Format (13 cm Höhe, 52,5 cm Breite) und den ver¬
hältnismäßig guten Erhaltungszustand aufgefallen. Die Blätter 5 und
7—18 davon sind vollständig oder in ansehnlichen Teilen vorhanden;
1 Bruchstücke des Sanskritkanons der Buddhisten aus Idykutiari, Chine¬
sisch-Turkestan, SBAW 1904, S. 807—827; desgl. „Neue Bruchstücke
aus Idykutiari ", ebd. S. 1138—1145. Beide Publikationen ent¬
sprechen nicht mehr dem heutigen Stande des Wissens. Besonders die zweite
zeigt Unrichtigkeiten und Mängel, auf die ich an anderer Stelle einzugehen gedenke .
2 Die vier großen kanonischen Textsammlungen (ägama) werden in der
Mahävyutpatti folgendermaßen aufgezählt: (1.) ekottarikägamah, (2.) ma-
dhyamägamah, (3.) dirghägamah, (4.) samyuktägamah (ed. Sakaki 1421—1424).
Das Divyävadäna (S. 333.8) gilst die „Vierheit der Ägamas" (ägamacatustaya) in anderer Reihenfolge an: (1.) samyuktaka, (2.) madhyama, (3.) dirghägama, (4.) ekottarika. Den sicheren Nachweis dafür, daß es sich bei den von Pischel
herausgegebenen Fragmenten um Reste von sechs Sütras aus dem Sarn¬
yuktägama handelte, erbrachte Sylvain Lfivi kurze Zeit nach Bekannt¬
werden der Berlüier Blockdruckreste (T'oung-pao, Ser. 2, Vol. 5, 1904,
S. 297—309).
' Einige dem Sarnyuktägama entnommene Texte erscheinen in der Hand¬
schrift D 424, welche ich in „Bruchstücke buddhistischer Sütras aua dem
zentralasiatiachen Sanskritkanon", Leipzig 1932, publizieren koimte, doch
ist D 424 eine Sanunelhandschrift, die auch Sütras aus anderen Ägamas ent¬
hält.