W
enn auch seit der Publikation von Rollo (1798) bekannt, blieb die Neuropathie der Diabetiker von den Ärzten nahezu unbeach- tet, bis sie von Marchal de Calvi (1864) als eine der wichtigen Komplikationen des Diabetes erkannt wurde. Hinfort fanden vor allem Manifestationen an den peripheren Nerven das Interesse einer kleinen Zahl von Spezialisten. Durch eine Publikation von Ewing, Campbell und Clarke wurde 1980 die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, daß die diabetische Neuropathie nicht nur zu Funktionsausfällen führen und dann die Le- bensqualität des Diabetikers schwer belasten kann, sondern daß die Neuropathie des auto- nomen Systems auch ein Prädiktor der einge- schränkten Lebenserwartung ist.Selbst diese alarmierende Mitteilung hat- te aber wenig Auswirkung auf Therapie und Betreuung der Diabetiker. Die Studie von Ewing et al. entsprach methodisch nicht den damaligen Standards epidemiologischer For- schung und fand deshalb weniger Beachtung, als es die, wie wir heute wissen, richtige Aus- sage verdient hätte. Vor allem aber wurden viele Ärzte wohl deshalb von einer intensi- veren Beschäftigung mit der diabetischen Neuropathie (DN) abgehalten, weil die klini- sche Manifestation allzu vielgestaltig er- schien, die Ätiologie nicht gesichert war, die Pathogenese hypothetisch blieb, die Diagno- stik Schwierigkeiten bot und die Therapie meist unbefriedigend war. An dieser, eher den Forscher als den Kliniker/Praktiker for- dernden Situation hat sich vor allem in den letzten 15 Jahren Wesentliches geändert.
Heute haben wir die Möglichkeit, die ätio- pathogenetischen Zusammenhänge zu er- kennen, das Ausmaß des Problems zuverläs- sig abzuschätzen, anhand klarer diagnosti- scher Kriterien die Krankheitssituation des Patienten zu beschreiben und zu quantifizie-
ren sowie Empfehlungen für eine kausale oder hilfsweise symptomatische Therapie zu geben.
Der „Arbeitskreis diabetische Neuropa- thie“ hat sich das Ziel gesetzt, mit einer lockeren Folge von Aufsätzen im Deutschen Ärzteblatt vor allem auf einige der neuereren Entwicklungen hinzuweisen, die für Klinik und Praxis von Belang sind. Die kleine Serie beginnt mit einer klinisch-epidemiologischen Einführung und wird in der Folge unter an- derem auf die sensomotorische DN, die auto- nome DN des kardiovaskulären Systems so- wie des Gastrointestinal- und Urogenital- traktes, den diabetischen Fuß und auf Thera- pieprobleme eingehen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-678 [Heft 11]
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Friedrich Arnold Gries Ärztlicher Direktor des
Diabetes-Forschungsinstituts an der Universität Düsseldorf Auf’m Hennekamp 65
40225 Düsseldorf
A-678 (42) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 10, 8. März 1996
M E D I Z I N EDITORIAL
Diabetische Neuropathie
Einführung in die Thematik der Serie
Friedrich Arnold Gries
Arbeitskreis: „Diabetische Neuropathie“
Prof. Dr. med. Hans-Georg Baumgarten, Berlin, Prof. Dr. med. Joachim Erckenbrecht, Düsseldorf, Prof. Dr. med. Friedrich Arnold Gries, Düsseldorf, Prof. Dr. med. Thomas Meinertz, Hamburg, Prof. Dr. med. Bernhard Neundörfer, Erlangen, Prof. Dr. med. Gerhard Reichel, Zwickau, Dr. med. Heinz Rüssmann, Dinslaken, Dr. med. Heinz Ulrich, Frankfurt, PD Dr. med. Dan Ziegler, Düsseldorf