Chemie-Nobelpreis 1997
Das älteste Rad der Welt
äre Paul Boyer Europäer, dann hätte er jetzt vielleicht den Begriff „Energie-Euro“ erfun- den. Die Gelegenheit dazu war die Bekannt- gabe des diesjährigen Chemie-Nobelpreises, dessen eine Hälfte sich der amerikanische Biochemiker und sein bri- tischer Kollege John Walker teilen und dessen andere Hälfte an den dänischen Arzt und Biophysiker Jens Skou geht. Denn im Zentrum der mit knapp 1,7 Millionen DM preisgekrönten Arbeiten der drei Forscher steht ein Mo- lekül, das die Fachwelt schon bislang gerne als „Energie- währung“ der Zelle bezeichnete – das Adenosintriphos- phat, kurz ATP. Freilich hat die Natur mit dem Energie- lieferanten ATP längst das vollzogen, was die Europäer mit dem Euro noch vor sich haben: Die „Währung“ gilt über alle Grenzen hinweg. ATP ist so uralt, daß der Stoff- wechsel aller Lebewesen auf das Molekül abgestimmt ist.
o verschiedene Prozesse wie Eiweißsynthese, Muskelbewegung und Nervenfunktion werden letztlich durch ATP in Gang gehalten. Bei harter körperlicher Arbeit liegt der Tagesverbrauch eines Men- schen an ATP bei etwa einer Tonne. Boyer und Walker er- halten ihre Nobelpreis-Hälfte, weil ihre Beiträge entschei- dend für die Aufklärung jenes Enzyms waren, mit dem die Zelle für diesen enormen ATP-Nachschub sorgt. Boyers Arbeit hatte etwa 1950 begonnen. In langjährigen Unter- suchungen identifizierte er die Bestandteile des Enzyms
„ATP-Synthase“ und entwickelte ein Modell, wie das En- zym ATP erzeugt. Walker hat schließlich vor allem durch Röntgenkristalluntersuchungen den von Boyer vorherge- sagten Aufbau des Enzyms bestätigt: Die ATP-Synthase funktioniert nach Art eines „Wasserrades“, das von einem Ionenstrom in Rotation versetzt wird.
abei wird der „Schwung“ der Drehung in einer Bindung des ATP-Moleküls gespeichert, gleich- sam als würde eine Feder gespannt und dann fi- xiert. Ein Drittel dieses ATPs verbrauchen Zellen für je- nen Prozeß, über den Jens Skou 1957 seine erste Studie veröffentlicht hat. Skou ging der Frage nach, wie Zellen es schaffen, daß in ihrem Inneren andere Natrium- und Kali- um-Konzentrationen vorliegen als in den Körperflüssig- keiten. In aufwendigen Versuchen reicherte er aus zerrie- benen Nervenzellen von Krabben ein Enzym an, das in Gegenwart von Kalium- und Natrium-Ionen ATP spalte- te. Skou gelang der Nachweis, daß das Enzym eine Pore in der Zellmembran bildet und pro ATP drei Natriumionen aus der Zelle hinauspumpt und im Austausch zwei Kali- um-Ionen aufnimmt. Skou hatte mit dieser Natrium-Kali- um-Ionen-Pumpe den ersten Vertreter einer Enzymklasse gefunden, die wie ständig laufende Klimaanlagen die Be- dingungen im Inneren der Zelle regulieren. Klaus Koch A-2856
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(4) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 44, 31. Oktober 1997
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