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Archiv "Kosovo: „Nichts hält sie mehr auf“" (19.07.1999)

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er Einmarsch der ersten NATO-Verbände in das Ko- sovo am 11. Juni war das Startsignal für viele Kosovaren, wie- der in ihre Dörfer und Städte heimzu- gehen. Auch wenn die Rückkehr möglich ist, sind die Folgen des Krie- ges noch lange nicht überwunden.

Zahlreiche Dörfer sind zerstört, Häu- ser verbrannt, Brücken gesprengt, Brunnen verseucht. Abgeschlachtetes Vieh liegt auf den Weiden, Mi- nen lauern in Gärten und am Wegesrand, und nicht selten wurde der gesamte Besitz ge- plündert. Mit in die Heimat nehmen die Kosovaren auch die schrecklichen Erlebnisse vor und während ihrer Flucht, die Erinnerung an getötete Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn. Wut, Haß und Trauer fließen zusammen und entzünden wieder Gewalt:

Die Bilder von brennenden Häusern und fliehenden Ser- ben lassen Böses erahnen.

„Die Kosovaren haben die Chance, auf die sie gewar- tet haben. Ich hoffe, daß sie besonnen sein werden“, sagt der Arzt Tim Schen, der als einer der ersten Mediziner für „Ärzte ohne Grenzen“ in den Kosovo zurückge- kehrt ist. Der Friedensvertrag von Kumanovo war kaum unterzeichnet, da wagten sich bereits die ersten Mit- arbeiter der Hilfsorganisation nach Pristina vor. Mittlerweile sind fast 40 Ärzte, Krankenschwestern und Logi- stiker im Kosovo. Während in Maze- donien und Albanien die ersten großen Lager geschlossen werden, konzentrieren die Hilfswerke ihre Ar- beit nun vorwiegend auf die kleine, ju- goslawische Provinz.

In den vergangenen Wochen ha- ben die Mitarbeiter zahlreiche Dörfer und Städte um Pristina, Prizren, Pec und Djacovica besucht. „Pec war wie eine Geisterstadt“, erinnert sich Guil- laume de Galleis. „Es waren nur noch ein paar hundert serbische Familien dort, die nicht wußten, ob sie Pec so- fort verlassen oder den Schutz der KFOR-Truppen suchen sollten. Nur ganz langsam sind ehemalige Bewoh-

ner mit ihren Familien in die Stadt zurückgekehrt. Die Stimmung bleibt deshalb sehr angespannt.“ 80 Prozent der Stadt sind zerstört. In erster Linie nicht durch die Bomben der NATO.

Vielmehr hat ein systematischer Häu- serkampf nichts als ausgebrannte Rui- nen hinterlassen.

Wie durch ein Wunder blieb das Krankenhaus verschont, so daß „Ärz- te ohne Grenzen“ sofort Medikamen- te verteilen und in den umliegenden Dörfern Gesundheitsposten einrich- ten konnte. Bei allen medizinischen Aktivitäten versucht die Organisation

sicherzustellen, daß alle Gruppen da- von profitieren, also Serben, Roma und Kosovaren. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, in einigen Kran- kenhäusern mit internationalem Per- sonal zu arbeiten.

Vor dem Krieg gab es im Kosovo zwei parallele Gesundheitsstruktu- ren: einerseits die größeren Kran- kenhäuser, die von serbischen Auto- ritäten geführt wurden, andererseits ein dichtes Netz von kleineren Mut- ter-Teresa-Ambulanzen, in denen je- weils ein Arzt und eine Schwester gearbeitet haben. Schwierige Fälle mußten natürlich an die größeren Hospitäler überwiesen werden, aber Erste Hilfe und einfache Behandlun- gen konnten die Ambulanzen leisten.

„Mit Erschrecken mußten wir jetzt feststellen, daß in der Region Prizren rund 30 Prozent dieser Ambulanzen völlig zerstört waren. Sie wurden niedergebrannt, die Fensterscheiben zertrümmert, die Türen zertreten, und sowohl das Mobiliar als auch die medizinischen Gerä- te waren demoliert“, berichtet der Lübecker Pfleger Frank Kaspereit.

„Ärzte ohne Grenzen“

beliefert viele der noch funkti- onstüchtigen Gesundheitszen- tren mit Medikamenten und medizinischem Material, wie zum Beispiel Antibiotika, Schmerzmittel, Verbandszeug oder Desinfektionsmittel. Dar- über hinaus fahren mobile Kli- niken in die Dörfer, um die Menschen vor Ort zu behan- deln. Die Krankenhäuser in der Hauptstadt Pristina, in Prizren, Pec und Djakovica werden mit Medikamenten und Personal unterstützt. Es ist wich- tig, gleichzeitig die Hospitäler und Ambulanzen in den Dörfern wieder- aufzubauen, um die Bevölkerung mög- lichst umfassend zu versorgen. Die Bregenzer Ärztin, Ursula Sillaber, er- innert sich noch gut an ihren ersten Tag im Krankenhaus von Pristina: „Ich be- handelte einen kleinen Jungen, der drei Wochen zuvor durch einen Grana- tenangriff verwundet worden war. Da es in seinem Heimatdorf keine Ärzte und Medikamente gab, konnte er die ganze Zeit nicht versorgt werden. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich

A-1887 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 28–29, 19. Juli 1999 (27)

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Kosovo

„Nichts hält sie mehr auf“

In den vergangenen Wochen haben sich mehr als 415 000 Kosovaren auf den Weg zurück in ihre Heimat gemacht. Die schnelle Rückkehr ist verständlich, doch birgt sie für die Versorgung der Menschen zahlreiche Risiken.

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befürchte, daß er sein Bein verlieren wird. Die Wunde ist einfach zu alt.“

Abgesehen von chronischen Krankheiten leiden viele Menschen im Kosovo unter akuten Atemwegs- erkrankungen und Magen-Darm-In- fektionen. „Ärzte ohne Grenzen“ un- tersucht daher auch die sanitären Ver- hältnisse sowie die Trinkwasserqua- lität. Zwar funktioniert die Wasser- versorgung in vielen Gebieten relativ gut. Doch die Verwaltung dieses Be- reichs lag in den vergangenen acht Jahren fest in serbischen Händen, und die meisten Experten haben jetzt das Land verlassen. Der Wasserfachmann Martin Odmann beschreibt die Situa- tion: „Es geht nicht nur darum, die ka- putten Wasserleitungen wieder in- stand zu setzen, sondern ein neues Wasserwirtschaftssystem aufzubauen.

Die Kosovaren sind sehr motiviert, aber leider teilweise auch frustriert, weil sie nicht wissen, welche Rolle sie künftig spielen werden, und weil ihnen notwendige Geräte fehlen. Wir liefern deshalb Wassertransporter, Chlor zur Desinfektion und alle möglichen Er- satzteile, um das System wieder in Gang zu bringen.“

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Die überstürzte Rückkehr von manchmal 10 000 Flüchtlingen täglich hat in den vergangen Wochen immer wieder zu Minenunfällen geführt. Die

KFOR-Truppen haben den offiziellen Auftrag, die großen Verkehrswege von Minen zu räumen, aber für Privat- grundstücke, Wege und kleinere Ne- benstraßen sind sie nicht zuständig.

Doch genau dort lauert die Gefahr. In den ersten Tagen wurden täglich zahl- reiche Minenopfer in das Kranken- haus nach Pristina gebracht.

Die Geschichten der Opfer ähneln sich, und doch ist jede auf ihre Art tragisch: Nach zwei Monaten in den Bergen traut sich ein 50jähriger

Mann wieder zurück in sein Dorf. Als er die Eingangstür seines Hauses öff- net, explodiert eine Sprengfalle. Mit zahlreichen Wunden am Oberkörper muß er sofort notversorgt werden.

Am gleichen Tag trifft es auch ein 13jähriges Mädchen, das im Garten ihrer Eltern auf eine Mine tritt. Sie verliert ihr rechtes Bein und das linke unterhalb des Knies. 20 Minen wur- den in der Umgebung dieses Hauses gefunden. „Jeden Tag transportieren wir Minenopfer in die Krankenhäu- ser“, klagt Koordinator Christopher Stokes. „Je mehr Kosovaren zurück- kehren, desto häufiger wird es zu Mi- nenunfällen kommen. Wenn nicht ganz schnell Organisationen ins Land kommen, die diese Minen räumen, werden die Folgen für die Menschen hier katastrophal sein.“ Optimisti- sche Schätzungen gehen von minde- stens drei bis fünf Jahren aus, bis alle Minen im Kosovo geräumt sein wer- den.

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„Mein Dorf wurde am 15. April 1999 umzingelt. Es dauerte nicht lan- ge, bis wir aus unseren Häusern ver- jagt wurden. Alle fünf Minuten wurde unser Konvoi von Soldaten und Para- militärs gestoppt. Wir mußten ihnen Geld bezahlen, um unseren Traktor behalten zu dürfen. Wir sahen eine Frau in einem Auto, die von einem Scharfschützen getötet wurde. Wir kannten sie nicht, sie war etwa 70 Jah- re alt. Viele Leute sind unterwegs zu- sammengeschlagen worden. Die Sol- daten haben oft in die Luft geschos- sen, um uns Angst zu machen (. . .)“, berichtet eine 28jährige Frau aus dem Dorf Vaganica. Mit ähnlichen Erleb- nissen während ihrer Flucht sind Tau- sende Menschen in Mazedonien, Al- banien und Montenegro angekom- men. Auch heute haben sie diese trau- matischen Ereignisse nicht überwun- den.

Bei Kriegsflüchtlingen kommt es nicht selten zu einer fatalen Ballung von traumatischen Erlebnissen: Den Vertriebenen wird ihre Heimat ge- waltsam entrissen, sie werden Schika- nen ausgesetzt, Frauen werden verge- waltigt, Männer gefoltert. Diese Er- fahrungen führen häufig zu psychi-

A-1888 (28) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 28–29, 19. Juli 1999

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Aktivitäten im Kosovo

lMedizinische Betreuung der Flüchtlinge, die vom UNHCR zurück in das Kosovo gebracht werden.

lUnterstützung der Kranken- häuser in Pristina, Pec, Prizren und Djakovica. Zur Verfügung gestellt werden Medikamente, medizinisches Material und Personal.

lMobile Kliniken für die länd- lichen Regionen Pristinas, Pec, Priz- ren

lWasser- und Sanitationspro- jekte

lPsychologische Projekte (in Vorbereitung)

Anschrift: „Ärzte ohne Gren- zen“, Lievelingsweg 102, 53119 Bonn, Spendenkonto: Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00, Konto: 97 0 97

Unter den Buh-Rufen der albanischen Bevölkerung verlassen serbische Zivilisten das Kosovo. Fotos (2): dpa

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schen Störungen: „Der Alltag der Be- troffenen wird fortan bestimmt durch die ,Angst vor der Angst‘ – die Angst, daß die Katastrophe im Kopf unfrei- willig wiedererlebt, wieder durchlebt wird. Die Betroffenen fürchten diesen ,Flashback‘ und vermeiden möglichst alles, was an das Trauma erinnern könnte.“ Der Konstanzer Psycholo- gin, Margarete Schauer, ist dieses Ver- haltensmuster immer wieder begeg- net. Sie hat in Brazda/Mazedonien zahlreiche Patienten behandelt, die in völlig verwirrtem Zustand, schreiend und unfähig zu sprechen, auf einer Trage zu ihr gebracht wurden. Zwei Stunden später, so berichtet sie, konn- ten die Betroffenen geschwächt zwar und sehr müde, aber auf eigenen Bei- nen wieder zu ihren Angehörigen zurückgehen. „Wenn keine psycholo- gische Hilfe angeboten wird, besteht

die Gefahr, daß sich aus den akuten Belastungsstörungen eine chronische posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die jahrelanges Leiden für die Betroffenen bedeuten kann.

Ähnlich wie in Mazedonien und Albanien wird „Ärzte ohne Grenzen“

daher auch im Kosovo psychologische Projekte anbieten. Denn viele Rück- kehrer werden mit den traumatischen Erlebnissen allein nicht fertig werden.

Die unausgesprochene Furcht oder Trauer macht sie krank. Die Pillen der Ärzte aber können ihnen in solchen Fällen nicht helfen. Petra Meyer

A-1889 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 28–29, 19. Juli 1999 (29)

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND/AUFSÄTZE

Kosovarische Kinder finden bei der Rückkehr in ihr Dorf zerstörte Häuser und Tierkadaver vor.

ie wir’s zum Schluß so herr- lich weit gebracht“ könn- ten die Bürger unseres Landes nach 25 Jahren teils gemeinsa- mer, teils gegenläufiger politischer, ökonomischer und plebiszitärer Initia- tiven sagen, wenn sie die Veränderun- gen bewerten, die sich in der Kranken- versorgung und der gesundheitlichen Betreuung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben. Es ist gelungen, einen primär an der Erfül- lung seines beruflichen Auftrages ori- entierten Ärztestand „im Dienste der Gesundheit des einzelnen Menschen und des ganzen Volkes“ in einem „sei- ner Natur nach freien Beruf“ so unter ökonomischen Druck zu setzen, daß seine Freiräume für Menschlichkeit, guten Willen und Verantwortung im- mer enger geworden sind.

Auch die organisierte Fassade dafür, eine aus Mitwirkung und Mitbe- stimmung organisierte Selbstverwal- tung, soll nun, geht es nach dem Willen der Bundesregierung, abgeschafft wer- den. Damit fällt auch der Rahmen, den nachdenkliche Politiker und Beamte sozialen und liberalen Geistes „ihrer“

sozialen Krankenversicherung und Krankenversorgung vor über hundert Jahren gegeben hatten. Unter dem Diktat ökonomischer Prioritäten spielt auch das keine Rolle mehr. Ist das nun die neue, die zukünftige Normalität für Handel und Wandel im sozial finan- zierten „Gesundheitswesen“ am Be- ginn seines zweiten Jahrhunderts?

Dieses „Gesundheitswesen“ war angedacht und angelegt, aus seinen ethischen und professionellen Quel- len heraus so zu funktionieren, als bedürfe es keiner nennenswerten Außensteuerung, jedenfalls keiner ökonomischen Priorisierung.

Von vornherein sehr niedrig an- gesetzte Arbeitsentgelte beziehungs- weise Honorare, gebunden an „Ar- mensätze“ der staatlichen Gebühren- ordnungen, Überwachungsmechanis- men gegen Mißbrauch und Ausnut- zung in den vertragschließenden Krankenkassen und Verbänden der

„Leistungserbringer“ sorgten dafür, daß niemand mit Erfolg „Gewinn- Maximierung“ betreiben konnte. So- lange die soziale Finanzierung über einkommensproportionale Beiträge den sozial Schutzbedürftigen vorbe- halten blieb, waren Ziel und System in sich stimmig. Erst als die Politik sich anschickte, damit eine weitere Ebene der Sozialpolitik mit allen möglichen Umverteilungs- und sozialen Aus- gleichsmechanismen zu verbinden, zerstörten Widersprüchlichkeiten und versicherungsfremde Intentionen das bisher schlüssige Konzept.

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Völlig aus dem Gleichgewicht ge- riet die nunmehr zu einer Volksversi- cherung ausgeweitete „gesetzliche Krankenversicherung“, als nach einer sozialpolitischen Überbeanspruchung der Rentenversicherungen in den Jah- ren von 1972 bis 1975 auch die Kran- kenkassen in den Strudel der Bei- tragsumschichtungen gerieten und ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Versicherten und Vertragspart- nern ohne Beitragssatzsteigerungen nicht mehr nachkommen konnten.

Das störte die Chancen der deutschen Wirtschaft im internationalen Wett- bewerb wegen der steigenden Ar- beitskosten, die sich auch auf die Ex- portpreise auswirkten.

Krankenversicherung

Rückkehr zur Normalität

Ökonomische Durchdringung hat die primäre Hilfsbereitschaft verdrängt. Doch auf der beruhte das Ordnungssystem der sozialen Krankenversicherung.

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Ernst-Eberhard Weinhold

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Seitem wird das „Gesundheits- wesen“ nicht mehr seinen eigentli- chen Zielen und professionellen Be- dingungen untergeordnet, sondern ökonomisch übersteuert – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste an huma- ner und medizinisch-fachlicher Qua- lität. Darauf reagieren sowohl die im System verantwortlichen Organisatio- nen als auch die davon betroffenen handelnden Personen.

Das zu wissen und in diesem Wis- sen zu handeln, darin liegen Verant- wortung und Kunst der zuständigen Politiker, wenn auch deren Wechsel mit den jeweils regierenden Mehrhei- ten wechselnde Schuldzuwei- sungen geradezu provoziert.

Dennoch gibt es eine Konti- nuität nicht nur in Amt und Macht. Es gibt sie, jedenfalls wirkte sie sich so aus, in der Vernachlässigung dessen, was die Gesellschaft beispielsweise vom freien Arztberuf erwar- tet: Spielräume für Zuwen- dung und Zurücksetzung eige- ner Interessen gegenüber de- nen der Menschen, die im Ge- sundheitswesen Hilfe brau- chen. Spielräume, für die in ei- ner Welt, in der die ökonomi- schen Prinzipien die Werte bestim- men, kein Verständnis existiert.

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Jean Paul hat formuliert: „Wer an das Gute im Menschen glaubt, be- wirkt das Gute im Menschen.“ Über Jahrtausende hat die Freiberuflich- keit der Ärzte mit der vorchristlichen und christlichen Zuwendung zu den Schwachen und Hilfsbedürftigen den kulturellen Standard einer Gesell- schaft bestimmt. Die Geschichte vom Tanz um das Goldene Kalb erinnert an die Zeitlosigkeit der Aussagen des Alten Testaments. Und sie markiert gleichzeitig die Kluft zwischen den ethischen Normen einer Gesellschaft und ihrer Anfälligkeit für persönliche Vorteilsnahmen. Solange das nicht an- ders wird, kann die Normalität nicht zurückkehren, die sich aus der Ver- bindung von Vertrauen, Verantwor- tung und Verpflichtung zum Handeln ergibt. Diese Normalität setzt aber voraus, daß Einigkeit über die Werte-

Hierarchie besteht. An erster Stelle muß die Erhaltung und Wiederher- stellung der Gesundheit der Men- schen stehen. In der Gesundheitspoli- tik müssen diesem Ziel andere Ziele nachgeordnet werden, wenn sie den Prioritäten gerecht werden soll, die von den Menschen selbst gesetzt wer- den.

Wenn zur Entfaltung heilender Initiativen und Kräfte Freiräume ge- schützt oder sogar gefördert werden müssen, so muß die Politik das bewir- ken. Tut sie das nicht, trägt sie Verant- wortung für die dadurch entstehen- den Defizite und die mangelnde Effi-

zienz der unmittelbar beteiligten Or- ganisationen und Personen. Wissen und Gewissen sind wichtiger als Re- glementierungen und Kontrollen.

Werden sie durch andere Vorrangig- keiten verdrängt oder erstickt, taugt die Politik nicht für die bestimmenden Rahmenbedingungen.

Daß die Normalität, in der sich Humanität und ethische Berufsorien- tierung der Heilberufstätigen maß- geblich auswirken können, zugunsten ökonomischer Orientierungen verlo- rengegangen ist, haben Politiker und Gesetzgebung zu verantworten. Mit der Sensibilität für das Gedeihen ethi- scher Verhaltensweisen war es bei den Regierenden nie weit her. Zur Zeit werden alte Voreingenommenheiten durch Dickfelligkeit konserviert; die Hoffnungen auf eine neue Beweglich- keit im politischen Handeln waren vergebens.

Dabei wäre die Rückkehr zur Normalität in einem Gesundheitswe- sen, in dem sich kranke Menschen aufgehoben und sozial geschützt fühlen können, nicht besonders

schwierig: Seit drei Jahrzehnten ha- ben Deutsche Ärztetage für die Poli- tik und für sich selbst Konzepte und Anpassungskriterien formuliert. So- weit ihnen der Gesetzgeber dafür die Möglichkeiten eröffnet hat, haben sie diese auch vorangetrieben.

Leider ist die Politik den freiheit- lichen Rahmen dafür bisher schuldig geblieben. Nicht einmal das, was die Schöpfer der sozialen Krankenversi- cherung im Jahre 1883 vorgedacht hatten, ist erhalten geblieben. Der Politik waren andere Ziele wichtiger, so daß Mitbestimmung und Mitent- scheidung in demokratischen Selbst- verwaltungen jetzt im Wege waren. Ohne die staatliche Bevormundung mit einer La- wine von Gesetzen und Ver- ordnungen hätte im selbstver- walteten Gesundheitswesen auch die moderne und qualifi- zierte Medizin ihren Platz ge- funden und ihre Weiterent- wicklung vollziehen können.

Die Gemeinsamkeit der Ziele und der Grundhaltungen bei der Inanspruchnahme und bei der Zuwendung von Leistun- gen im Gesundheitswesen hät- te eine andere Normalität ge- schaffen, als sie die Politik bewirkt hat.

Für die „Insider“ im gesundheit- lichen Wirtschaftsbereich steht außer Zweifel, daß die ökonomische Durch- dringung des Gesundheitswesens in Deutschland mit der Verdrängung von primärer Hilfsbereitschaft und Zurücksetzung von Gewinnstreben bei Personen und Institutionen gera- de jene Normalität beseitigt hat, auf der einstmals die soziale Krankenver- sicherung ihr Ordnungssystem ge- gründet hat.

Die Suche nach einem staatsfer- nen, freiheitlichen Konzept für das Gesundheitswesen von morgen sollte deshalb von Grund auf neu beginnen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-1889–1890 [Heft 28–29]

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med.

Ernst-Eberhard Weinhold Dorfstraße 140

27637 Nordholz

A-1890 (30) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 28–29, 19. Juli 1999

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Karikatur: Reinhold Löffler

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