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Archiv "Kinder-„Euthanasie“: Endstation Spiegelgrund" (05.02.1999)

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eter, ein zweijähriger Junge aus Wien, wurde im März 1942 in die Kinderfachabteilung „Spiegel- grund“ der psychiatrischen Klinik auf der Baumgartner Höhe in Wien aufgenommen.

Die Diagnose lautete „Idio- tie“. Im Dezember erkrankte der Junge an Diphtherie. Die behandelnden Ärzte vermerk- ten, daß er weder in geistiger noch körperlicher Hinsicht Fortschritte mache. Im Januar kam eine Grippe hinzu. Trotz seiner akuten Erkrankung nahmen die Ärzte eine En- zephalographie vor, um sein Schädelinneres zu untersu- chen. Wenige Tage später, nachdem die Ärzte eine „be- ginnende Bronchopneumo- nie“ diagnostiziert hatten, war der Junge tot. Peter war nicht das einzige Kind in der 1940 eingerichteten Abteilung, bei dem unter Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs Enzepha- lographien eingesetzt wurden:

Die Wiener Anstalt war eines der Zentren des Euthanasie- programms der Nationalsozia- listen.

Tod durch

„ gezielte“

Nachhilfe

Bislang war über diese Vor- gänge wenig bekannt. Der Arzt Matthias Dahl hat in sei- ner an der Universität Göttin- gen eingereichten medizinhi- storischen Dissertation unter- sucht, nach welchen Kriterien und auf welche Weise Ärzte und Pfleger geistig und körper- lich behinderte Kinder getötet haben. Die Arbeit ist kürzlich auch als Buch erschienen*.

Der Göttinger Arzt hat für seine Studie unter anderem die Krankengeschichten von 312 gestorbenen Kindern, Personalblätter der Ärzte und die Prozeßakten von Volks- gerichtsprozessen gegen An- staltsmitarbeiter durchforstet.

Ergebnis: Bis Kriegsende starben in der Wiener Kinder- fachabteilung 772 Kinder – viele von ihnen durch gezielte

„Nachhilfe“. Ihnen hatte das Pflegepersonal auf Weisung der Ärzte zusammen mit dem Essen Schlafmittel ver- abreicht. In einigen Fällen ga- ben die Ärzte selbst tödlich wirkende Morphium-Injek- tionen.

Als Todesursache gaben die Ärzte zumeist Lungen- entzündungen an. Tatsächlich seien die meisten Infektionen jedoch erst durch die verab- reichten Barbiturate ausgelöst worden, berichtet Dahl. Da- mit sollten die – nach der NS- Ideologie – „lebensunwerten“

Kinder körperlich geschwächt werden, um sie dann an scheinbar natürlichen Todes- ursachen wie Lungen- oder Darmentzündungen sterben zu lassen. Die detaillierten Obduktionsberichte ließen zwar keinen Zweifel daran, daß die Kinder tatsächlich an den angegebenen Todesursa- chen gestorben seien. Aller- dings habe die Pathologin in keinem ihrer Sektionsproto- kolle die Frage aufgeworfen, worauf die Entzündungen zu- rückzuführen sein könnten.

Immerhin seien 244 Kinder an Infektionen gestorben.

Eine weitere Variante der getarnten „Todesbeschleuni- gungen“ war vermutlich der Nahrungsentzug. Viele Kin- der hätten erhebliche Ge- wichtsdefizite gehabt, berich- tet Dahl. Bis 1943 habe die Zahl der Todesfälle stetig zu- genommen, der Höchststand wurde im Juli 1943 erreicht.

In diesem Monat starben 32 Kinder. Nach Ansicht Dahls läßt sich ein Zusammenhang mit den räumlichen Kapazitä- ten feststellen: Gab es viele Neueinweisungen, so daß die Betten nicht mehr ausreich- ten, wurden Kinder, für die bereits ein „positiver“ Be- scheid aus Berlin vorlag, mit Medikamenten getötet.

„Skrupellose Wissenschaftler“

Die entsprechenden Be- scheide, in denen über

„Wert“ und „Unwert“ des Lebens dieser Kinder ent- schieden wurde, kamen vom

„Reichsausschuß zur wissen- schaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwe- rer Leiden“, der für das Eu-

thanasie-Programm zustän- dig war. Die Grundlage für diese Urteile legten jedoch die behandelnden Ärzte. Sie verfolgten das Ziel, mit Hilfe moderner Diagnostik und wissenschaftlicher Methoden entsprechend der NS-Ideolo- gie den „Lebenswert“ der

Kinder zu bestimmen. Sie be- werteten deren „Nutzen für die Volksgemeinschaft“ und schickten dann entsprechen- de Meldungen an die Eu- thanasie-Dienststelle. Wenn sie in ihren Gutachten einem Kind ungünstige Entwick- lungschancen bescheinigten und seine Arbeitsleistung ne- gativ beurteilten, kam alsbald die Weisung aus Berlin, das entsprechende Kind zu „be- handeln“ – diese euphemisti- sche Umschreibung bedeute- te das Todesurteil. In einigen Fällen, so hat Dahl festge- stellt, haben die Ärzte offen- bar gar nicht erst auf die Er- mächtigung zum Töten ge- wartet.

33 der im „Spiegelgrund“

untergebrachten Kinder star- ben infolge einer Enzephalo- graphie. Bei diesen riskanten Untersuchungen hat nach Ansicht Dahls das For- schungsinteresse im Vorder- grund gestanden. Die Ärzte hätten sich als „skrupellose Wissenschaftler“ erwiesen, die die behinderten Kinder für ihre Forschungsvorhaben

mißbrauchten. Es bestand auch eine Zusammenarbeit mit der Wiener Universitäts- Kinderklinik. Hierbei teste- ten die Ärzte ohne Zustim- mung der Eltern an den Kin- dern einen Impfstoff gegen Tuberkulose. Dabei war der Tod ein geplanter Bestandteil A-250 (14) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 5, 5. Februar 1999

S P E K T R U M DAS BESONDERE BUCH

Kinder-„Euthanasie“

Endstation Spiegelgrund

Wie Ärzte in der Wiener Kinderfachabteilung willige Vollstrecker des NS-Tötungsprogramms wurden, beschreibt das hier vorgestelllte Buch.

* Matthias Dahl: Endstation Spiegelgrund. Die Tötung be- hinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940 bis 1945, Verlag Eras- mus, Wien, 1998, 195 Seiten, kar- toniert, 46 DM

Anlage des Psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe, vormals „Am Steinhof“, aus der Vogelperspektive. Aquarell, signiert R. Vilimek, betitelt

„Am Steinhof, Wien 1910 Entnommen aus: Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund

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des Experiments, die Obduk- tion die letzte Versuchsphase.

Keine Einzelfälle Maßgeblichen Anteil an dem Tötungsprogramm hatte der aus Leipzig stammende Facharzt für Nervenheilkun- de Dr. med. Ernst Illing. Der überzeugte Parteigenosse der NSDAP hatte 1942 die Lei- tung der Kinderfachabteilung übernommen. Unter seiner Ägide erreichte die Tötungs- welle 1943 ihren Höhepunkt, als 169 Kinder in der Anstalt starben. Illing wurde nach dem Krieg vom Volksgericht zum Tod durch Erhängen ver- urteilt. Die Ärztin Marianne Türk, die ebenfalls an den Kindstötungen beteiligt ge- wesen war, erhielt eine zehn- jährige Freiheitsstrafe, deren Vollzug schon 1948 vorläufig eingestellt wurde. 1952 wurde

ihr die Verbüßung der Rest- strafe erlassen, später erhielt sie sogar ihren akademischen Grad zurück. Eine Pflegerin wurde zu acht Jahren Kerker verurteilt.

Dahl berichtet über den ebenfalls an der Klinik tätig gewesenen Wiener Psychia- ter Dr. med. Heinrich Gross:

Seit 1938 NSDAP-Mitglied, wurde Gross im März 1950 wegen Totschlags zu zwei Jahren Kerker verurteilt.

Doch schon 1951 wurde das Urteil wieder aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

Gross machte danach als Arzt und Wissenschaftler Karrie- re, wobei er unmittelbar an seine frühere Tätigkeit im

„Spiegelgrund“ anknüpfte:

Nach Angaben Dahls publi- zierte er bis 1966 mindestens zwölf pathologisch-anatomi- sche Arbeiten, für die er Hir- ne von eben jenen Kindern

verwendete, die während des Krieges in der Anstalt „eu- thanasiert“ worden waren.

1962 wurde Gross leiten- der Arzt an seiner alten Wir- kungsstätte auf der Baum- gartner Höhe in Wien. Sein Habilitationsversuch schei- terte allerdings, als bekannt wurde, daß er Gehirnschnitte

von Kindern aus dem Spie- gelgrund verwendet hatte.

Seiner weiteren Karriere tat das jedoch keinen Abbruch:

1968 wurde der Nervenarzt Leiter des „L. Boltzmann-In- stituts zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensy- stems“, 1975 erhielt Gross das

„Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse“. Er blieb vielbe- schäftigt. Noch 1997 war der 81jährige als Gerichtsgutach- ter tätig. Gross sei im übrigen kein Einzelfall, hat Dahl fest- gestellt. Auch aus den Kin- derfachabteilungen in Bran- denburg-Görden, Kaufbeu- ren, Eglfing-Haar und Eich- berg wurden Gehirne von getöteten Kindern wissen- schaftlich ausgewertet, zum Teil auch noch nach dem Krieg. Heidi Niemann (pid)

A-251 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 5, 5. Februar 1999 (15)

S P E K T R U M DAS BESONDERE BUCH

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A-252 (0) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 5, 5. Februar 1999 1

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