A 1354 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 27–28|
8. Juli 2013SUCHT IM ALTER
Ärzte sind wichtige Ansprechpartner
Alkoholismus, Tabak- und Arzneimittelabhängigkeit sind unter Senioren verbreitet, bleiben aber oft unbemerkt. Die Zahl der Betroffenen wird vermutlich weiter steigen.
Die Drogenbeauftragte sieht Ärzte in der Pflicht, Senioren besser zu beraten.
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och ist Sucht im Alter so- wohl in der Gesellschaft als auch in der Medizin ein unter- schätztes Problem“ – darauf ver- wies die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyck- mans, Mitte Juni anlässlich der von ihr veranstalteten Tagung „Unab- hängig im Alter – Sucht im Alter“.Dyckmans stufte „Sucht im Alter“
als eines der großen Themen der deutschen Sucht- und Drogenpoli- tik in den kommenden Jahren ein.
Auch, weil die Zahl der Betroffenen vermutlich weiter steigen wird, vor allem bedingt durch die demografi- sche Entwicklung.
Die Gründe für die Abhängigkeit im Alter sind nach ihrer Darstellung vielfältig: Einige der betroffenen Senioren sind schon in jüngeren Jahren süchtig geworden und neh- men ihre Abhängigkeit mit ins Al- ter. Andere werden von einschnei- denden Veränderungen wie Eintritt in den Ruhestand, Tod des Partners oder Umzug in ein Altersheim aus der Bahn geworfen beziehungswei- se leiden unter dem Gefühl der Ein- samkeit und dem eigenen Altern.
Alkohol ist vor allem bei älteren Männern ein Problem
Ältere Männer greifen häufig zum Alkohol. Die jüngste Studie zur Ge- sundheit Erwachsener in Deutsch- land des Robert-Koch-Instituts (RKI) belegt, dass 34 Prozent der Männer im Alter von 65 bis 79 Jah- ren in riskanter und damit gesund- heitsschädigender Weise Alkohol konsumieren. Bei gleichaltrigen Frauen sind es 18 Prozent.Senioren sind aber auch verstärkt der Gefahr von Arzneimittelab - hängigkeit ausgesetzt. Psychotrope Medikamente wie opioidhaltige Schmerz mittel, Benzodiazepine und sogenannte Z-Drugs werden der RKI-Studie zufolge von fünf Pro-
zent der Frauen und drei Prozent der Männer konsumiert. Bei Frauen ab 60 Jahre steigt der Anteil der Konsumentinnen auf zwölf Prozent.
Insgesamt geht man in Deutschland nach Angaben der Drogenbeauf- tragten von 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen mit einer Arzneimittel- abhängigkeit aus; ein großer Teil davon sollen ältere sein.
„Medikamente wie Schmerz-, aber auch Schlaf- und Beruhigungs- mittel, besonders Benzodiazepine, werden oft zu schnell oder viel zu lange verabreicht, ohne dass eine Überprüfung der Notwendigkeit stattfindet“, bemängelte Dr. med.
Dirk Wolter, Chefarzt des Fach - bereiches Gerontopsychiatrie des Krankenhauses im dänischen Ha- derslev. Er kritisierte, dass auch Fachleute die Langzeitwirkung der- artiger Arzneimittel unterschätzten.
Medikamente würden im Körper älterer Menschen mit einer doppelt so langen Halbwertzeit wie bei jün- geren abgebaut, dann sei oft bereits die nächste Tablette genommen.
Dies könne zu einer schleichenden
Intoxikation führen. Selbst meh - rere Wochen nach Absetzen der Medikation könnten Wachheit und kognitive Leistungsfähigkeit noch beeinträchtigt sein.
Er warnte, dass häufig jedoch die mit Alkohol- und Arzneimittel - abhängigkeit verbundenen Stürze, Depressionen und Verwirrtheitszu- stände dem hohen Lebensalter zu- geschrieben oder mit Symptomen alterstypischer Erkrankungen ver- wechselt würden. Das eigentliche Problem bleibe so unentdeckt.
Dyckmans: Auch das Pflegepersonal schulen
Die Drogenbeauftragte sieht deshalb in erster Linie Ärzte und Apotheker in der Pflicht, ältere Menschen anzu- sprechen und aufzuklären: „Gerade Ärzte werden gerne und häufig von Senioren aufgesucht. Die Chance, ältere Menschen tatsächlich zu errei- chen, ist in einer Praxis besonders groß.“ Vor allem bei Arzneimitteln tragen Ärztinnen und Ärzte aus der Sicht von Dyckmans eine große Ver- antwortung. Sie müssten bereits bei der ersten Verschreibung deren Risi- ken und Nebenwirkungen aufzeigen und nicht nur auf den Beipackzettel verweisen.Zugleich stelle die Versorgung von alten Menschen mit riskanten Drogenkonsummustern auch das Pflegepersonal vor besondere Her - ausforderungen, sagte Dyckmans.
Ärzte und Pflegepersonal müss- ten für die besondere Problematik sensibilisiert und geschult werden, forderte sie. Gleichzeitig müssten Alten- und Suchthilfe enger zu - sammenarbeiten als bisher. Das Bundesgesundheitsministerium hat einen Förderschwerpunkt Sucht im Alter aufgelegt, um Ausbildung der Fachkräfte und Vernetzung der Ar- beitsfelder voranzutreiben.
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Eugenie Wulfert Bei der Jahrestagung der Drogenbeauftragten zum Thema
„Sucht im Alter“ verwies einer der Referenten, Dr. med.
Dirk Wolter, auf eine Veröffentlichung im Deutschen Ärzte- blatt (DÄ, Heft 4/2013): Nach einer Analyse der AOK Hessen und der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung auf Basis einer Versichertenstichprobe stieg die Zahl der Versicher- ten mit mindestens einer Opioidverordnung von 2000 bis 2010 von 3,3 auf 4,5 Prozent (+37 Prozent). Opioide wur- den dabei überwiegend bei Nichttumorschmerz verordnet (2010: bei 77 Prozent der Opioidempfänger).
Die Studienautoren bezeichneten diesen Trend als pro- blematisch, da der Nutzen der Therapie bei Nichttumor- schmerzpatienten kontrovers beurteilt werde. Auch hatte der Anteil der Langzeitbehandlungen bei diesen in den letzten elf Jahren deutlich zugenommen. Artikel, Literatur- hinweise und Leserbriefe: www.aerzteblatt.de/archiv/134113