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Archiv "„Du rennst ins Nichts der Leere und Traurigkeit“ — Anregung zur Selbsthilfe psychisch Kranker: nur eine Frage der Zeit und Geduld" (15.04.1983)

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Academic year: 2022

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Mit dem Malen, Nähen und Ba- steln ist bei psychisch Kranken viel getan, aber nicht alles. Ich meine, es gilt, das Gehirn mit so- viel Sauerstoff zu versorgen, damit es den „Griesgram" los wird, den leider die Tabletten und Gesprä- che uns nicht immer nehmen kön- nen. Die Melancholie scheint an Erbanlagen gebunden zu sein (denk ich), an Faktoren wie Schwäche, Sensibilität und gewiß auch ans Heim-Milieu. Wie wir et- was erleben, spielt eine Rolle — auch gilt es, dem Speck zu Leibe zu rücken, das heißt vom Leibe zu kriegen. Es gibt ja „Kummer- speck", und die Sedativa, die be- ruhigen, erzeugen bei manchen

„Freßlaune". Daraus entspringt Unbeweglichkeit.

Dicke bewegen sich ungern, das Herz leidet und man fühlt sich nicht wohl. Nun gibt es die billig- ste Therapie, die langsam ange- gangen, zur lebensfroheren Not- wendigkeit wird bei jedem Men- schen, nämlich das Laufen. Ich hab's steigern können auf drei Stunden, mal schnell, zuletzt et- was langsamer gehen, seit drei Jahren, täglich. Ich bin 65 Jahre und gehe in der Zeit inzwischen etwa zwanzig Kilometer täglich.

Alle Beschwerden, auch die kör- perlichen, verschwinden (nach

dem ersten, immer etwas mühseli- gen „Angang"), wie Darmträgheit, Rheuma, Krampfadern, Herzrhyth- musstörungen, und im Kopf be- ginnt es nach einer Stunde etwa zu „tagen". Ideen wachsen ganz von alleine. Es ist natürlich ganz mies, in eine vielleicht graue De- pression und Einsamkeit „hinein- zulaufen", zuweilen fehlt mir in der Traurigkeit auf dem Zimmer sogar noch die Konzentration, die Klamotten zurechtzusuchen.

Wegzehrung heißt inzwischen bei mir Wasser, eine kleine Plastikfla- sche und trockene Brötchen. Kalk- vitamintabletten (billig!), Schuh- werk ist sehr wichtig, leichte Stützsandalen mit Wollsocken, selbst im Winter, garantiert wär- mer als alle Stiefel (da sich der Fuß andauernd bewegen kann).

Geduld gehört zu allen therapeuti- schen Heilkräften, die nur mit ei- genem „Dazutun" wirksam sein können.

Wie gesagt, du rennst ins Nichts der Leere und Traurigkeit mit ei- ner ganz „verlorenen, bodenlo- sen" Seele, betest und heulst viel- leicht. Dennoch ist es nur eine Fra- ge der Zeit und Geduld und noch- mals Geduld, eh' die Wunden im Gemüt etwas heilen.

„Das Wandern ist des Müllers Lust" ist kein dümmliches Lied, birgt wie alle Volkslieder und Mär- chen eine jahrhundertalte Erfah- rung. Überhaupt haben die Men- schen früher von ihren Beinen viel mehr Gebrauch gemacht.

Die Menschen wissen gar nicht, was laufen heißt. Nicht „Trimm dich" mit Stoppuhr, sondern beim Wandern in einen gleichbleiben- den Rhythmus kommen und wah- re Wunder an Freuden erleben.

Tatsächlich, auch noch in den Großstadtstraßen, die man bald nicht mehr bemerkt, weil der inne- re Ballast immer leichter wird. Die Ausweglosigkeit der Probleme zerrinnt. Ich bin ein „Atmer", nichts anderes. Und auf einmal nimmt etwas Neues, bisher Uner- fahrenes in mir Gestalt an. Man kann auch ein bißchen beten im Rhythmus: „Herr, erbarme dich", und alsbald kommen die frischen Bilder, das sind Auswege! Das Wichtigste ist Ausdauer.

Der größte Witz: „Trimm dich"

wird in Spezialräumen betrieben, mit Sauna, auf Fahrradgestellen mit Pulszählgerät. Widernatürli- cher geht's kaum: Im „Pool" im- mer wieder Kehren machen, somit aus dem Rhythmus kommen. Das gleiche gilt für Skilifte, die das mühsame, herrliche, erwärmende Aufsteigen mit dem Erlebnis des Gipfels verhindern.

Inzwischen ist angesichts dies teu- ren und ungesunden Wahnwitzes der Langlauf entstanden, sehr empfehlenswert. Langlaufen kann so ziemlich jeder, auch ein älterer Mensch. Es heißt gehen im Rhythmus.

Um auf das Laufen zurückzukom- men: Ich dachte, es wäre eine An- regung wert, mit unseren psy- chisch Kranken am Trimm-dich- Pfad oder anderswo sich langsam einzulaufen. Wie das bei Untrai- nierten eingeübt wird, das wissen die Heilgymnasten. Ich weiß, daß es in den Sanatorien für „Betuch- te" schon lange betrieben wird.

Maria Reinhardt

„Du rennst ins Nichts

der Leere und Traurigkeit"

Anregung zur Selbsthilfe psychisch Kranker:

nur eine Frage der Zeit und Geduld

Eine Leserin des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES, selbst erfahren als Patientin der Psychiatrie und heute im Altersheim eines Klo- sters ansässig, macht Vorschläge, wie sich psychisch Kranke die so überaus bittere Melancholie vertreiben können. Sie rät zur Selbsthilfe durch Laufen. Ihr schwungvoller Bericht ist es wert, ernst genommen zu werden. Die Redaktion folgt der Bitte der Autorin, ihren Namen und ihre Adresse nicht zu nennen, da -- wie sie schreibt — ihre „Vergangenheit in der Psychiatrie" für ihre Kinder belastend sein könnte. „Maria Reinhardt" am Ende des Beitrages ist ein von der Redaktion gewähltes Pseudonym. DÄ

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A 86 Heft 15 vom 15. April 1983 80. Jahrgang

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