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Archiv "„Da muß man gegen angehen!“ Leiden und Leid im Wandel der Sprache." (18.03.1983)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen FEUILLETON

Das Arztsein ist zugeordnet dem humanen Leiden. Wandelte sich der Begriff menschlichen Leidens über die Grenzen des Individuel- len hinaus, wären auch Verände- rungen im Selbstverständnis des Arztes zu erwarten.

Der leidende Mensch

Die Wortgeschichte des Verbs

„leiden" geht weit zurück. Sie hat die Sprachforschung seit länge- rem beschäftigt. Wenn wir es heu- te hören, denken wir an Dulden, Ertragen, an das Empfinden von Schmerzen oder Kummer. Es überrascht, daß man im Althoch- deutschen (7. bis 11. Jahrhundert) mit dem gleichen Wort, damals li- dan oder liden, etwas völlig ande- res ausdrückte: Gehen, Fahren, Reisen. Lidan hatte sich von dem Verb irlidan im 9. Jahrhundert ge- spalten, unserem heutigen Erlei- den, in der frühen Bedeutung Durchmachen, Erfahren. Das un- mittelbar verwandte Wort Leiten enthält die Veranlassung, die Auf- forderung zum Durchgehen, Durchmachen in Richtung auf die persönliche Bewältigung von schwerem Schicksal beliebiger Art. Das Sprachbild des Veranlas- sungswortes Leiten entsprach mit- hin einem „Gehen Machen". Es ist in vielen indogermanischen Spra- chen nachweisbar. In dieser Aus- gangsbedeutung des Wortes Lei- den drückt sich also eine Bezie- hung zu dem, was Leiden veran- laßt, aus, die sich in Klarheit von der heutigen unterscheidet.

Schweres Schicksal, wie Krank- heit, Unglück, Verlust forderte so- zusagen „fraglose" Akzeptation, als Teil des Eigenlebens, und die persönliche Verantwortungsüber- nahme, es mit eigenen Mitteln zu

durchgehen. Das alte Nibelungen- lied drückt etwas von dieser ge- schichtlichen Wortbedeutung von Leiden aus. Noch heute ist diese Aufforderung zum Gehen gele- gentlich zu hören: „Da muß man gegen angehen!", oder: „Da muß man halt durch."

Im Übergang zum Mittelhochdeut- schen, in Süddeutschland etwa um 860 schon nachweisbar, wan- delt lidan seine Bedeutung von ur- sprünglich Gehen, Fahren, Reisen in Dulden, Schmerz empfinden.

„Auf die Bedeutungsentwicklung hat wahrscheinlich die christliche Vorstellung vom Leben des Men- schen als einer Reise durch das

irdische Jammertal eingewirkt."

(Duden, Etymologie, Mannheim, 1963, S. 397). Im Südwesten des deutschen Sprachgebietes wurde Leiden durch Dulden völlig er- setzt, verwandt mit lateinisch tole- rare (F. Kluge/W. Mitzka, 21. Aufl., Berlin, New York, 1975, S. 146).

Leiden bedeutete seitdem mehr ein passives Geschehenlassen.

Es ist mehr als wahrscheinlich, daß nicht in erster Linie die Chri- stianisierung allein diesen krassen Wandel im alten Wortsinn von Lei- den bewirkt hat. Sozialgeschicht- lich muß er wohl auch mit dem zunehmenden Verlust an Selbst- verantwortung in ehemals freien Ständen, zum Beispiel der Bauern, durch Lehnsabhängigkeit usw. in Beziehung gesetzt werden.

Die geschichtliche Weiterentwick- lung des emotionalen Gehalts in dem Wort Leiden strebte zwei Endformen zu. Diese betrafen er- stens eine zunehmende Substanti- vierung des Infinitivs Leiden, das heißt: aus dem starken Zeitwort wurde ein Dingwort, das Leiden;

zweitens eine gefühlsmäßig kenn-

zeichnende, aber grammatisch fal- sche Wortverbindung von Leiden und Leid.

Menschliches Leid

Leid und Leiden sind nicht sprach- verwandt. Sie haben zunächst nur einen ähnlichen Wortklang ge- habt. Der ehemals adjektivische Charakter von Leid begegnet uns noch in Redensarten: „Das bin ich jetzt aber leid." („Das akzeptiere, ertrage ich nicht mehr.") Später wurde aus leid das Leid. Das Wort ist auf den germanischerf Sprach- bereich beschränkt. Seine Bedeu- tung ist etwa die eines Gegenspie- lers zu ungetrübtem Wohlbefin- den, zum störungsfreien Lebens- ablauf. Ein Leid widerfährt einem Menschen, ruft Gefühle des Unwil- lens, der Verneinung, der Abwehr hervor.

Sprachwissenschaftlich faßt es Begriffe zusammen, wie: unange- nehm, scheußlich, böse, betrü- bend. Abgeleitet sind beleidigt, lei- dig (lästig), Beileid u. a. Als Sub- stantiv drückte es immer Gegen- sätze zum Angenehmen, Beque- men, Erwünschten, Gesundsein aus, also Kummer, Gekränktsein, Widerwärtiges, also Störung des Wohlgefühls allgemein. Dem Sprachgebrauch nach wird mit Leid alles ausgedrückt, was in den Bereich der Unlust gehört, was keinen Spaß macht.

Dem allgemeinen Sprachgefühl nach ist Leid nur die Tatsache ge- störten Wohlseins, ein Negativum also.

Versuch einer Definition

Trotz Benutzung eines Dingwortes (Substantiv) könnte man Leid eher als „ein Unding" karikieren. Im Gegensatz zum Wortinhalt von Leiden enthält es keine Andeu- tung irgendeiner eigenen Stel- lungnahme des Betroffenen. Leid bewirkt — musikalisch ausge- drückt — Disharmonie eines Men- schen im ganzen. Damit hat es ei-

„Da muß man gegen angehen!"

Leiden und Leid im Wandel der Sprache Hans-Georg Jaedicke

96 Heft 11 vom 18. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Spektrum der oche Aufsätze • Notizen Leiden und Leid

ne gewisse Vergleichbarkeit mit Fieber und anderen pathologi- schen Allgemeinveränderungen.

Phänomenologisch betrachtet wird Leid erkenntlich an Verände- rungen der individuellen Selbst- darstellung. Es wird irgendwie kundgetan, „zur Schau getragen", geäußert, somatisiert, ab-reagiert, denken wir an Leidensstimme, Leidensmiene, Beleidigtsein, Kümmernis, Gram usw. Je hilflo- ser ein Mensch sich dem Leid ge- genüber verhält, um so mehr äh- nelt die Selbstdarstellung kindli- chen Ausdrucksformen, Weinen, Schreien oder auch Mutismus bis hin zu dramatischen Regressio- nen. Von der Sache her „adres- siert" sind diese Änderungen der zuvor ungestörten Selbstdarstel-

lung auf sinnliches Wahrgenom- menwerden durch die humane Umwelt.

Wirkungen des Leids

Wir fassen persönliches Leid pri- mär als Reaktionsform auf etwas auf, das einem erwarteten gleich- bleibenden Ablauf zuwiderläuft („widerfährt"). Leid gestaltet den Ausdruck des Betroffenen. Der Ausdruck wird bei den Wahrneh- menden zum Eindruck. An diesem Punkt begegnen wir der nun fol- genden Dynamik „des Ausdruck/

Eindruck-Erlebens, dem jeder Mensch vom ersten Tage seines Daseins an unterworfen ist" (I. H.

Schultz). Dieser Lebensgesetzlich- keit ist in der älteren Literatur brei- ter Raum gewidmet gewesen, u. a.

bei Ernst Kretschmer.

I. H. Schultz faßt zusammen:

„ . im untrennbaren Aus und Ein des Mit- und Ineinanders gründet wesentlich jedes Zusammen von Menschen, und damit melden sich im Erleben dieses Fundamental- vollzuges verführerische Gefah- ren ..." Schultz weist dabei auf eine Überbetonung der „zentrifu- galen" Ausdruckshaltung hin, die im Rahmen einer hysterischen Charakterstruktur geradezu Krankheitswert bekommen könne.

Ist in der regressiven Selbstdar- stellung des Leidbefallenen die Hilflosigkeit überbetont, wandelt sich physiologisch der Eindruck der Umwelt in unbewußte Schuld- gefühle, deren Bereinigung nur durch eine mehr oder minder auf- wendige mitmenschliche Zuwen- dung, ja Verwöhnung, gelingen kann. Chronifiziert sich weiterhin die Leiddarstellung oder nutzt sich das Reaktionsschema ab, so kann es zur Verstärkung der Aus- drucksformen mit ihren bekann- ten allseitig verheerenden Wirkun- gen kommen.

„Die Tatsache, daß soviel und immer mehr gespro- chen wird, hat eine verhäng- nisvolle Wirkung: Die Worte nützen sich ab.

Was fängt man mit den zu Tode geredeten Worten an?

Es bleibt wohl nur eines: Im- mer einfacher zu sprechen.

Denn die Einfachheit wider- steht der Zerstörung."

Romano Guardini Die Adlersche These vom „Krank- heitsgewinn" bekommt durch so- ziale Ansteckung allgemeinen, in Einzelfällen geradezu vergleichs- weise erpresserischen Charakter.

Zumindest verfälscht sich inner- halb des humanen Ausdrucks-Ein- drucksschemas, als eines Kern- problems aller Mitmenschlichkeit (Leid bringt Zuwendung), diese anthropologische Formel zum An- spruch. In diesen Fällen paaren sich in der Selbstdarstellung oft Leid mit Vorwurfshaltung. Auf die- sem Wege kann Leiddarstellung zum Kampfmittel werden und de- struktiver wirken als aktive Ag- gression (vgl. „passiver Wider- stand").

Leid und Passivität

Das lateinische pati (patior, pas- sus sum, pati), ebenso wie das griechische pathos entsprechen

der heutigen Bedeutung von Lei- den nach der Verschmelzung mit Leid. Beide fremdsprachlichen Worte, pathos, pati, gehen auf ei- ne alte indogermanische Sprach- wurzel pei zurück, die wir in unse- rem deutschen Wort Feind wieder- finden. Feind hieß ursprünglich das zu Hassende. Das gleiche sagt der fremdwortliche Begriff Anti- pathie, wenn man einen nicht mag, ihn nicht leiden kann, oder Apathie, ein Nicht-mehr-Mitma- chen.

Leiden und Leid

Der Inhalt des Wortes Leiden war zunächst daran gebunden, daß Schweres, Unglück, Schicksals- schläge, Verluste usw. als selbst- verständlich zum Menschenleben gehörten, Aufgaben zum Durch- machen, Durchgehen waren und eine Aufforderung des Betroffe- nen zur Eigenleistung darstellten.

Da das Wesen Mensch nur durch eigene Anstrengungen wachsen, an Forderungen stärker werden kann, hatte der alte Begriff Leiden, mit der Wirklichkeit von Durchma- chen, auch den Beigeschmack ei- ner Prüfung eines jeweiligen per- sönlichen Gewachsenseins (leid- geprüft).

Den Charakter eigener Verantwor- tung behielt Leiden auch im ersten Bedeutungswandel zum Dulden und Tragen hin. Beide hatte das Anerkennen einer überirdischen schicksalslenkenden Macht zur Voraussetzung, die auch die Mittel zu irgendeiner Form von Leidens- bewältigung verhieß. Die Hoff- nung auf einen postmortalen Aus- gleich war in einem allgemeinver- bindlichen Umfang verinnerlicht, so daß auch der zweite Inhalt des Wortes Leiden ein duldendes, tra- gendes Gehen auf ein ausglei- chendes metaphysisches Ziel hin einschloß. Das Sterben war mithin ein Teil dieses Weges.

In diesem Zusammenhang wäre es falsch, nach einem Sinn des Lei- dens zu fragen. Denn das Wort der Sinn bedeutet der Weg, die Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 11 vom 18. März 1983 99

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„Keine Wegwerfzeitschrift, nicht zum blitzschnellen Durch- blättern mit anschließendem Wurf in den Papierkorb ge- dacht. Das Heft ist für den Bü- cherschrank bestimmt," so schreibt Dr. med. Anton Heber- ger, der 1. Vorsitzende des Ärzt- lichen Kreisverbandes Mies- bach der Bayerischen Landes- ärztekammer. „Arzt und Poet soll wie eine Brücke zwischen den Kolleginnen und Kollegen sein — auch auf künstlerischem

Gebiet. Arzt und Poet will die nette Zeitschrift für Ärzte wer- den. Wir möchten klein, aber herzlich bleiben."

Das Literaturmagazin „Arzt und Poet" mit Mitteilungen des Ärztlichen Kreisverbandes Miesbach, herausgegeben von Dr. med. Antop Heberger, 8153 Weyarn, soll alle zwei bis drei Monate erscheinen. Heft 1, Fe- bruar 1983, ist 38 Seiten stark und kostet 4,50 DM. ÄKM Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen Leiden und Leid

Reise. Also dürfte der Lebenssinn das Gehen des Lebensweges schlechthin sein. (Vgl. das europä- ische Märchen vom Gevatter Tod.) In diese Auffassung war der Arzt einbezogen, der noch heute fragt:

„Wie geht es?" An diesem Punkt könnte man eine Fülle von Gedan- ken ärztlicher Selbstklärung ein- setzen.

Die Verschmelzung der Worte Leid mit dem sprachlich nicht ver- wandten Leiden kann daher als sinnwidrig angesehen werden. Sie hat eine Entwicklung eingeleitet, an der nicht die Sprache schuld ist, in welcher der Wortinhalt von Leid, wie er oben beschrieben wurde, haltungsbestimmend wur- de. Die Verschmelzung der le- bensanschaulich entgegengesetz- ten Begriffe war eine Folge zahl- reicher langfristiger kultureller und gesellschaftlicher Verände- rungen. Eine solche dürfte der Schwund von geistig-seelischen Mitteln sein, mit Lebensschwierig- keiten fertigzuwerden.

Der Arzt steht heute einem Leiden- den gegenüber, der entsprechend der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation völ- liges Wohlbefinden verlangt, des- sen Leidenstoleranz minimal ist, der findig ist auf der Suche nach dem Sündenbock, der seine Schicksalsbelastung verschuldet haben könnte und der nun für de- ren Beseitigung verantwortlich ist.

Selbst Gott wird in dieses Schema einbezogen. „Wie kann Gott das zulassen! Mir ist der ganze Glaube flöten gegangen."

Der Demonstrationswert von Stö- rungen individuellen Wohlbefin- dens wird nicht nur durch Erfin- dung ganz neuer Krankheitsbe- zeichnungen gesteigert, sondern auch durch sprachlich kollektive Verstärkungen verbaler Selbstdar- stellung. Der Schmerz wird mit Ad- jektiven wie furchtbar, entsetzlich, grauenhaft, unerträglich geschil- dert. Diese Entwicklung wird durch primäre Anspruchshaltung vorangetrieben. Alexander Mit- scherlich hinterließ schwerwie-

gende ärztliche Ausführungen über eine kollektive Problemver- leugnung und eine Unfähigkeit zu trauern. Trauer wird als reaktive Depression zum Anspruch auf So- zialkuren, nach denen Wohlbefin- den erwartet wird.

Diese Sammlung von Beobach- tungen ist nicht neu, und noch we- niger ist sie originell. Das Thema fragte nach dem Arzt. Bereits vor rund dreißig Jahren stellte Viktor von Gebsattel seitens seiner Grundlegung einer medizinischen Anthropologie ähnliche Fragen an

uns, die noch in Zukunft nachklin- gen werden. Eine neue Beziehung zum Wort und seinem Bild — dar- um ging es in diesen Überlegun- gen — könnte vielleicht dem Arzt zum Ort werden, in dem neue Ge- schichte keimt. Beginnen würde diese mit der Frage: „Was fehlt eigentlich uns allen?"

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Hans-Georg Jaedicke Hahnenklee-Bockswiese 3380 Goslar 2

100 Heft 11 vom 18. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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