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Archiv "Irak: Es leiden die Unschuldigen" (19.10.2001)

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as erste Mal war ich im Dezember 1990 als Teilnehmer einer Delega- tion des Vorstands der Organisa- tion „Internationale Ärzte zur Verhü- tung des Atomkriegs“ (IPPNW) in Bagdad, vier Monate nach dem Einfall der irakischen Armee in Kuweit. Als Friedensnobelpreisträger wollten wir helfen, den Ausbruch eines zweiten Golfkriegs zu verhüten. Die Gespräche waren in zweifacher Hinsicht deprimie- rend: Der irakische Vizepräsident Taha Yassin Ramadan lehnte jede Vermitt- lung von westlicher Seite ab. Die Hilfs- organisation Roter Halbmond und der Präsident der Iraqi Medical Associa- tion, Dr. Rajid Al-Tikriti, der 1993 durch das Regime getötet wurde, berichteten über die ersten Auswirkungen auf das Gesundheitswesen: „Das Embargo be- steht erst seit vier Monaten, doch schon sind viele Diabetiker wegen fehlenden Insulins und alle Nierentransplantier-

ten wegen fehlender Immunsuppres- siva gestorben. Die meisten Haemodia- lysen können wegen fehlender Infusi- onslösungen, Filtern, Kanülen et cetera nicht durchgeführt werden.“

Der Krieg endete im März 1991. Wir wussten um die Not in den irakischen Krankenhäusern, die zuvor auf westli- chem Niveau exzellent gearbeitet hat- ten, und brachten bereits im Mai den ersten Hilfstransport nach Bagdad.

Weitere vier Mal waren wir Ärzte der IPPNW 1991 und 1992 und dann jährlich bis 1997 mit Medikamenten, Spritzen, Kanülen, Infusionslösungen, Operati- onsbedarf und Babymilchpulver im Irak, ich begleitete die Transporte sechs- mal. Wir verteilten die Medikamente und andere Hilfsgüter direkt in den Krankenhäusern des Landes. Für jeden Artikel musste eine Genehmigung des UN-Sanktionsausschusses in New York eingeholt werden. Die Güter wurden

entweder nach Amman geflogen oder mit dem Schiff nach Aqaba transpor- tiert. Von Jordanien aus wurde alles mit großen Lastwagen in zwölf- bis 16-stün- diger Fahrt durch die Wüste nach Bag- dad transportiert. Trotz des irakisch- iranischen Krieges von 1980 bis 1988 und des bereits viermonatigen Embar- gos war Bagdad 1990 noch eine „Frie- densstadt“ mit gut gekleideten Men- schen, gefüllten Geschäften und gut be- suchten Restaurants. 1991 hatten Bom- ben und Raketen Städte, Dörfer, Brücken und Straßen zerstört.

In den Krankensälen der beschädig- ten Krankenhäuser herrschte großes Elend: Wegen der Bombardements auf die Elektrizitätswerke funktionierten bei bis zu 50°C Sommerhitze weder Klimaanlagen noch Ventilatoren oder Kühlschränke. Es fehlte an Medika- menten, Impfstoffen, Spritzen, Ka- nülen und Operationsbedarf. Die mei- T H E M E N D E R Z E I T

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A2706 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 42½½½½19. Oktober 2001

Irak

Es leiden die Unschuldigen

Seit elf Jahren leidet die irakische Bevölkerung unter den Folgen des vom Westen verhängten Embargos. Der Autor, Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs, schildert Eindrücke von einer mehrtägigen Reise in das isolierte Land.

Vor allem Kinder, Frauen, Arme und Kranke sind von den Sanktionen „des Westens“ betroffen.

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sten Patienten litten still oder starben.

Die Mütter und Großmütter saßen hin- gebungsvoll an den Betten ihrer Kin- der. An Brechdurchfall (keine Infusio- nen), Bronchitis oder Pneumonie (kei- ne Antibiotika, kein Sauerstoff ) sowie an Masern starben mehr als 30 Prozent der betroffenen Kinder. Überall extrem abgemagerte und geschwächte Klein- kinder. Dieser Zustand verbesserte sich erst Ende 1996, nachdem der UN-Si- cherheitsrat das „Lebensmittel für Öl“- Programm genehmigt hatte. Dem Irak wurde es gestattet, zunächst für zwei Milliarden, später für vier Milliarden Dollar jährlich Erdöl auszuführen. Der Erlös floss auf ein UN-Sperrkonto. Für etwa 40 Prozent kaufte der Sicherheits- rat Lebensmittel, Medikamente und Krankenhausbedarf ein, die er nach ge- nauester Überprüfung aller Bestellun- gen in den Irak lieferte. Verboten waren alle „dual-use“-Artikel, wie Ersatzteile, Motorspritzen, Elektrogeräte oder Röntgenbedarf.

Etwa 60 Prozent der Ölverkaufserlö- se flossen an die UNO, den kurdischen Nordteil des Irak

und als Entschädi- gung an Kuweit und die Türkei. Für die 22 Millionen Iraker ka- men nun zwar erst- mals offiziell Lebens- mittel und Gesund- heitsgüter ins Land – zuvor war dies nur über humanitäre Or- ganisationen oder den Schmuggel über die jordanische und türkische Grenze mög- lich gewesen. Aber der Bedarf war kei- neswegs gedeckt. Zum

Vergleich: Vor dem Krieg importierte der Irak allein für 600 Millionen Dollar jährlich Medikamente. Vor allem die arme Bevölkerung, also mehr als 80 Prozent der Iraker, litt an Hunger und Krankheit.

Bis 1999 kontrollierten die USA und Großbritannien ein Flugverbot in den Irak, das erst Ende letzten Jahres von einigen arabischen und afrikanischen Staaten „durchbrochen“ wurde. Auch von Deutschland aus sollte ein Direkt- flug nach Bagdad gehen. Nach vier ver-

geblichen Versuchen (die westlichen Fluglinien hatten stets im letzten Au- genblick auf Druck der USA und Groß- britanniens ihre Flüge gestrichen) flo- gen wir am 1. Juni dieses Jahres mit ei- ner bulgarischen Chartermaschine von Frankfurt nach Bagdad.

Das Regime nutzte den West-Besuch zur Kritik

Der Saddam-Flughafen in der iraki- schen Hauptstadt war leer. Die etwa 140 Passagiere des von der „Deutsch- Irakischen Gesellschaft“ organisierten Fluges (acht Ärzte, mehrere Vertreter von Hilfsorganisationen und Industrie- büros, vier Politiker sowie vorwiegend deutsch-irakische Familien) wurden vom früheren Botschafter in Deutsch- land und jetzigen Präsidenten bilate- raler Nicht-Regierungsorganisationen, Dr. Abd Allrazak Al-Hashimi, begrüßt.

Das Regime nutzte unsere Anwesenheit aus, um eigene Auffassungen darzule- gen. So verurteilte Gesundheitsminister

Umed Madhat Mubarak die „schikanö- sen und gegen das Völkerrecht ver- stoßenden Sanktionen“: Durch die un- zureichende Belieferung mit Medika- menten, vor allem Antibiotika, Zytosta- tika, Immunsuppressiva und Cortison, mit EKG-Papier, Operationsbedarf oder auch Säuglingsnahrung sowie der

„absichtlich langsamen Überprüfung“

aller Bestellungen und deren häufiger Ablehnung wegen „dual use“ könne sehr vielen Kranken nicht geholfen wer- den. Abgelehnt werde beispielsweise

die Lieferung von Röntgen- und Mam- mographiegeräten, von Computerto- mographen und den meisten Ersatztei- len – Aussagen, die Fachärzte später be- stätigten. Mubarak wies zudem auf den hohen Anstieg der Zahl an Krebser- krankungen im Süden des Iraks hin, wo US-amerikanische Flugzeuge während des Golf-Krieges etwa 300 Tonnen ab- gereicherte Uranmunition verschossen.

Auf die Frage nach Kausalitätsnachwei- sen antwortete der Minister: „Dem Staat fehlen die notwendigen Laborein- richtungen, weil der UN-Sicherheitsrat diese natürlich nicht genehmigt. Wir ha- ben aber Gewebeproben von Krebs- kranken, die abgereichertes Uran ent- halten. Wir sind bereit, diese Proben ausländischen Labors – natürlich nicht englischen oder amerikanischen – zur Überprüfung auszuhändigen.“ Doku- mentationen und Publikationen will man mir zukommen lassen.

Handelsminister Mohammad Mehdi Saleh führte die immense Arbeitslosen- rate von 60 bis 80 Prozent ebenfalls auf die Sanktionen zurück. Die ohnehin durch die Bombardements stark in Mit- leidenschaft gezogenen Industrie- und Handwerksbetriebe könnten ohne Er- satzteile und neue Maschinen ihre Ar- beit nicht wieder aufnehmen. Auch der einzigen Pharmafabrik enthalte man die für die Produktion notwendigen Basis- stoffe vor. Die von den USA und Groß- britannien vorgeschlagenen „smart sanctions“, die angeblich die Bevölke- rung weniger hart treffen sollten, seien eine reine Täuschung der internationa- len Öffentlichkeit und würden daher von der irakischen Regierung – ebenso wie von Russland, Jordanien, Ägypten und der Türkei – strikt abgelehnt.

Die Kinderabteilungen in Bagdads Krankenhäusern sind vor allem mit Kleinkindern gefüllt. Aufgrund der im- mer noch schlechten hygienischen Ver- hältnisse und der unzureichenden Trinkwasserqualität – die Wasserwerke und Reinigungsanlagen sind nach den Bombenangriffen noch nicht wieder voll funktionsfähig – erkranken sehr viele Kinder an Brechdurchfall, Ty- phus, Amöbendysenterie, Lambliasis oder Hepatitis. Saisonbedingt leiden viele an Masern, spastischer Bronchitis und Pneumonie. Darüber hinaus sind rund 800 000 Kinder schwer unter- T H E M E N D E R Z E I T

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A2708 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 42½½½½19. Oktober 2001

Hilfstransporte für den Irak: Zwölf bis 16 Stunden dauerte die Fahrt im Lastwagen durch die Wüste nach Bagdad. Fotos: Ulrich Gottstein

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ernährt. Im letzten Jahr registrierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2 620 Kinder mit Kwashiorkor, 23 577 mit Marasmus und 162 381 mit schwer- sten Eiweiß- und Vitaminmangelzu- ständen.

In der Universitätskinderklinik in Bagdad, dem Saddam Children’s Hospi- tal, berichtete uns ein Oberarzt, dass im Vergleich zu 1989 kindliche Leukämien und Tumoren 45-mal häufiger aufträten, 65 Prozent der kleinen Patienten stamm- ten aus dem Süden des Iraks. Sein Ge- sicht drückte Trauer aus, als er sagte:

„Viele Kinder sterben bereits beim er- sten Chemotherapiezyklus, und keines wird geheilt, weil uns die Medikamente für moderne Therapieschemata fehlen.“

Zudem sei es weder möglich, Throm- bozytenkonzentrate herzustellen noch Knochenmarktransfusionen vorzuneh- men. „Bei euch werden diese Kinder fast zu 100 Prozent geheilt, bei uns ster- ben sie dagegen zu 100 Prozent.“

Ähnlich deprimierend die Ge- spräche im „Institute of Radiooncology and Nuclear Medicine“. Der in England ausgebildete Direktor, Dr. Taja Ha- meed Al-Askare, berichtete: „Bis 1990 war unser Bestrahlungsinstitut nicht nur führend im Vorderen Orient, son- dern entsprach westlichem Niveau.

Dann konnten wegen des Embargos die Wartungen und Reparaturen nicht mehr vorgenommen werden. Die Gerä- te fielen aus. Jetzt haben wir nur noch zwei Bestrahlungsgeräte, die 17 Jahre alt sind. Keinen Linearbeschleuniger, keine Gammakamera.“ Der leitende Onkologe beschrieb die Situation so:

„Wir können unseren Patienten weder eine kompetente Bestrahlung noch eine moderne Chemotherapie bieten. Wer nicht ins Ausland reisen oder mit viel Geld die notwendigen Zytostatika be- schaffen kann, muss sterben.“

Die WHO und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) be- stätigten, dass weiterhin monatlich et- wa 5 000 Kinder unter fünf Jahren infol- ge des Embargos an Krankheiten und Mangelernährung sterben; seit 1991 sind es mehr als eine halbe Million. Die Zahl der älteren Kinder und Erwachse- nen, die seit 1991 wegen fehlender Heil- mittel starben, liegt bei etwa 1,5 Millio- nen. Dr. Ghulam Popal, Arzt und Epi- demiologe im Büro der WHO, sagte:

„Die Weltgesundheitsorganisation hat mehrfach an den Generalsekretär und die UN-Gremien appelliert und in Studien und Vorträgen auf die Folgen der übertriebenen ‚dual-use‘-Kontrollen und der schleppenden Lieferung drin- gend benötigter Medikamente sowie auf die lebensbedrohliche Ernährungs- lage der armen Bevölkerung hingewie- sen.“

Bagdad weist keine Kriegsschäden mehr auf, doch an den Fassaden der Häuser und Geschäfte bröckelt der Putz. Auf den Straßen herrscht dichter

Verkehr, die Autos vorwiegend mit zer- beulten Kotflügeln und zersplitterten, geklebten Windschutzscheiben. Wenn man viel Geld hat, kann man in den Ge- schäften und Bazaren aus einem großen Warenangebot wählen: Textilien, Fern- seher, Elektrogeräte, Lebensmittel, Obst. Ein gewöhnlicher Arbeitnehmer in Bagdad verdient allerdings nur 2 000 bis 4 000 Dinar monatlich (ein bis zwei Dollar), und auch Klinikärzte und Schwestern verdienen nur etwa das Doppelte. Da zum Beispiel ein Kilo- gramm Fleisch 2 000 Dinar kostet, reicht das Geld kaum zum Leben. Wer nicht hoch bezahlt ist, also bei der Re- gierung, der Armee oder im „legal-ille- galen“ Handel über die Grenzen der Türkei und Jordaniens arbeitet, oder Dollars von Verwandten aus dem Aus- land erhält, ist auf die monatliche Le- bensmittelzuweisung angewiesen, die

der Staat zu einem symbolischen Preis von etwa 10 Pfennig verteilt: Hülsen- früchte, Mehl, Speiseöl, Zucker, Tee und Milchpulver für Kinder bis zum er- sten Lebensjahr. Die Menschen neh- men durchschnittlich täglich 1 800 Ka- lorien zu sich, also etwa 50 Prozent zu wenig. Dabei enthält das Essen sehr we- nig Eiweiß und kaum Vitamine. Kran- kenhausbehandlungen und insbesonde- re Operationen müssen bezahlt wer- den. Auch der ambulante Arztbesuch kostet einen halben bis einen Dollar.

Nur wenige können sich das leisten.

Als Humanist und Arzt kehrt man aus dem Irak zurück mit dem Wissen, dass „der Westen“ am unschuldigen ira- kischen Volk, besonders an Kranken, Kindern, Frauen und Armen, mit sei- nen Sanktionen seit nunmehr elf Jahren ein Verbrechen begeht, das zudem poli- tisch töricht und kontraproduktiv wirkt:

Die Menschen im Irak, auch die früher

„prowestlich“ eingestellten Intellektu- ellen, hegen mittlerweile Hass auf die Regierungen der USA und Großbritan- niens. Das Regime unter Saddam Hus- sein wurde nicht geschwächt, sondern gestärkt. Es leiden ausschließlich die- jenigen, die durch Menschen- und Völkerrecht geschützt sein sollten. Die Aufhebung der nichtmilitärischen Sank- tionen ist dringend erforderlich.

Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein, Gründungs- und Ehrenvorstandsmitglied der IPPNW Deutschland, Ludwig- Tieck-Straße 14, 60431 Frankfurt

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Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 42½½½½19. Oktober 2001 AA2709

Saddam Children`s Hospital: Das kleine Mädchen leidet an Typhus. Es wird sterben.

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