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Archiv "Krankheit als Störung einer vertrauten Wirklichkeit" (14.05.1993)

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THEMEN DER ZEIT KURZBERICHTE

Krankheit als Störung

einer vertrauten Wirklichkeit

Organerkrankungen sind als Symptome psychosomatischer Leiden zu verstehen und dieses Leiden als das Problem, das die Medizin mit ihren Begriffen beschreiben und mit ihren Mo- dellen und Methoden lösen soll. Diagnosen wiederum benutzen Symptome, um Krankhei- ten zu identifizieren. Sie sagen dem Arzt, was er wann, wo und wie zu tun hat. Der Schritt nach der Diagnose ist die Behandlung. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer direkten körperlichen Einwirkung und einem kommunikativen Einwirken.

uf der Grundlage körperli- cher Eingriffe hat die somati- sche Medizin ihr Körpermo- dell und ihre Diagnosen ge- staltet. Symptome versteht sie als Wirkungen von Krankheitsursachen, deren Lehre die Ätiologie ist. Daraus leitet sich die ätiologische Behand- lung ab, die Krankheitsursachen und ihre Symptome beseitigen soll. Das Verständnis für Eingriffe mit dem Wort erfordert ein anderes Denk- schema, in dem Worte als Nachrich- tenträger und Beziehungen als Nach- richten-Verbindungen aufgefaßt wer- den. Hiernach hat die psychologische Medizin ihr Konzept für psychothe- rapeutische Interventionen entwor- fen. Inzwischen wurde das ursprüngli- che Modell der somatischen Medizin von einem Modell abgelöst, das den Organismus als lebendes System sieht, das sich aus sich selbst erzeugt und erhält, indem es benötigte Ener- gien und Stoffe aus seiner Umgebung aussucht und sich einverleibt. Leben- de Wesen reagieren nicht mechanisch auf Einwirkungen, sondern verwan- deln sie in Zeichen, die ihnen Nach- richten vermitteln über die Bedeu- tung der Umgebung für die eigenen Bedürfnisse. Krankheitssymptome lassen sich somit als Störungen der Nachrichtenverbindungen deuten.

Wie im Modell der psychologi- schen Medizin sind auch im neuen Körpermodell Beziehungen, die den Nachrichtenaustausch aufrecht hal- ten, ein wesentliches Element. Der lebende Körper wird nach dem Kon- zept der Systemtheorie als ein hierar- chisch in Integrationsebenen geglie- dertes Gebilde verstanden. Es gibt eine Ebene, auf der Zellen und Or-

gane in einen Organismus integriert sind, eine Ebene, auf der Organis- men mit Teilen ihrer Umgebung eine komplexere Einheit bilden, und eine Ebene, auf der Organismen sich zu sozialen Systemen zusammenfinden.

Auf jeder Ebene treten, nicht ableit- bar von den Elementen der unteren Ebene, neue Eigenschaften auf.

Psychosomatische Medizin läßt sich somit als Beziehungsmedizin de- finieren und Gesamtdiagnosen als Beziehungsdiagnosen. Jeder Mensch ist mit lebenden und unbelebten Ob- jekten seiner Umgebung durch Be- ziehungen verknüpft, die für ihn eine bestimmte Bedeutung haben. Er ist in einen für Außenstehende unsicht- baren „Mantel" gehüllt, der aus den Fäden seiner Beziehungen zu Men- schen und Dingen seiner Umgebung gewebt und für ihn lebenswichtig ist.

Mündigkeit ist unentbehrlich

Die Fäden müssen von beiden Seiten gesponnen werden und sind auch für die Gesundheit von Bedeu- tung, weil jede Leistung des Körpers einer Gegenleistung der Umgebung bedarf: Zum Atmen braucht man die Gegenleistung der umgebenden Luft, zum Gehen die Gegenleistung des Bodens, zum Liegen die Gegenlei- stung der Unterlage. Gesunde und Kranke können sich so aufeinander einspielen, daß die pathologische Funktion im Zusammenspiel optimal ausgeglichen wird. Das bedeutet auch, daß der Kranke in dem Maß krank ist, in dem ihm die Zuwendung seiner Mitmenschen fehlt.

Auch das psychosoziale Selbst muß immer neu aufgebaut werden durch bestätigende Rückmeldungen der sozialen Umgebung. Diese kön- nen fehlen, wenn man im Kranken- haus liegt. Das Dasein als Patient hat zwei Leiden: Ein körperliches Unver- mögen und ein moralisches, bedingt durch den Patientenstatus. Das Ge- fühl des Unvermögens wird stärker und spezifischer, wenn die Kommu- nikation zusammenbricht und der Arzt die elementare Wahrnehmung des Patienten in Frage stellt, in der Ich-Gefühl und Ganzheitsgefühl des Patienten gründen. Um dem Kran- ken das Gefühl der Entmündigung zu ersparen, muß der Arzt wissen, was dem Kranken zum Mündigbleiben oder -werden fehlt. Mündigkeit ist unentbehrlich, um die eigene psycho- soziale Identität und Individualität aufzubauen und zu erhalten.

Der Patient hat in seinem Kör- per Empfindungen, deren Bedeutung er nicht versteht. Er hofft, daß dieses

„Nicht-Erkennen" bald vergeht und er in seine vertraute Wirklichkeit zu- rückkehren kann. Geschieht dies nicht, so muß er diese unverstande- nen Zeichen in Worte übersetzen, die er dem Arzt als Fragen vorlegt.

Dieser wiederum hat sie zu interpre- tieren, indem er dem Patienten sagt, was seine Empfindungen bezeichnen.

Krankheit gibt sich in diesem Aus- tausch von verbalen und averbalen Zeichen als Wirklichkeit eines sich entwickelnden „Dramas" zu erken- nen, das aus Arzt, Patient und Krankheit besteht. Mündig kann der Patient in diesem Drama nur so weit sein, wie es auch der Arzt ist.

Elisabeth Pflanz A1 -1428 (50) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 19, 14. Mai 1993

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