Drei Fragen und dreimal drei Antworten führten zu einem bemer- kenswerten Ergebnis: zu einer Bestandsaufnahme des Fortschritts und einer Bilanz der Hoffnungen. Drei Fragen und dreimal drei
Ant- worten lösten engagierte Diskussionen aus, brachten interessante Stellungnahmen namhafter Mediziner zu Problemen unserer Zeit.Drei Fragen und dreimal drei Antworten bieten Orientierungshilfe, können Ausgangspunkt weiterer Standortdiskussionen werden.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Politik
Medizin 1964-1984-1994 im Urteil
Experten von
Eine Orientierungshilfe und Diskussionsgrundlage
Hans Mohl
Die Fragen stellte das am 3. Ja- nuar 1964 erstmals ausgestrahlte ZDF-Gesundheitsmagazin „Pra- xis" zum Ende seines 20. Sende- jahrganges. Sie galten im Rück- blick den Fortschritten und Pro- blemen der letzten zwanzig Jahre, im Ausblick den Prognosen für die nächsten zehn Jahre. Konkret wurde darum gebeten, jeweils mit drei Antworten aus persönlicher Einschätzung zu bestimmen:
C) Die drei wichtigsten medizini- schen Fortschritte der letzten 20 Jahre;
C) Die wichtigsten, die Medizin belastenden Probleme der letzten 20 Jahre;
© Die wichtigsten medizinischen Erwartungen der nächsten 10 Jahre.
Befragt wurden Direktoren nam- hafter Forschungsinstitute, Ordi- narien, Chefärzte, Abteilungsvor-
stände, Präsidenten von Fachge- sellschaften und Kongressen, Me- diziner, die als Repräsentanten ih- rer Fachdisziplin angesehen wer- den können, die in der Fortbil- dung eine führende Stellung ein- nehmen. Berücksichtigt wurden aber auch Lehrbeauftragte für All- gemeinmedizin und Ärzte, die in der Berufspolitik die Interessen ihrer Kollegen vertreten, etwa in der Konzertierten Aktion im Ge- sundheitswesen. Nicht vergessen wurden schließlich einige emeri- tierte Persönlichkeiten, die die Medizin der letzten 20 Jahre ent- scheidend mit beeinflußt und ge- prägt haben.
Das Ziel war, ein möglichst breites Spektrum an medizinischem Fachwissen zu erfassen, also die verschiedensten Fachgebiete zu berücksichtigen. Dabei sollten al- le heute wesentlichen Fächer er- faßt werden von der Anästhesiolo- gie über die Chirurgie und Epide- miologie, die Gentechnologie und
Gerontologie, über die Humange- netik und die Innere Medizin bis hin zur Radiologie und Sportme- dizin und Urologie. Kurz: ange- strebt wurde ein sehr breiter Querschnitt. Wobei klar war, daß die Auswahl nicht nach wissen- schaftlichen Kriterien repräsenta- tiv sein konnte. Die journalistische Auswahl wollte und sollte aber ein hohes Maß an medizinischem Sachverstand repräsentieren.
Ein ungewöhnliches Echo
Das Echo auf die Befragung war außerordentlich vielverspre- chend, quantitativ und qualitativ.
Auf die 150 Anfragen gingen 133 Antworten ein; mit 88,7% zweifel- los eine selten erreichte hohe Rücklaufquote. Die Fragen selbst wurden als „interessant und wich- tig", „von ganz besonderem Inter- esse" bewertet. Der Direktor einer Dermatologischen Klinik schrieb:
„Ihre Rundfrage hat mich so auf- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 28/29 vom 13. Juli 1984 (21) 2153
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Medizinische Fortschritte der letzten 20 Jahre
geregt und interessiert, daß ich diese hochinteressante Thematik mit den etwas über 30 Ärzten der Klinik über mehrere Stunden dis- kutiert habe."
Viele Zuschriften beschränkten sich nicht auf die lapidare Aufli- stung der dreimal drei Entschei- dungen, sondern fügten mehrsei- tige Kommentare und Stellung- nahmen bei. Manche ergänzten ihre Beurteilungen bei den Fort- schritten der letzten 20 Jahre auf bis zu neun, bei den Problemen bis zu zehn Angaben. Einige bo- ten Alternativantworten, gaben
„globale" Urteile ab, unterteilten sie wahlweise etwa nach chirurgi- schen, technischen und phar- makologischen Gesichtspunkten, oder sie legten getrennte Maßstä- be an, einen diagnostischen und einen therapeutischen.
Einige überklebten den ersten Fragebogen oder schickten eine zweite, korrigierte Antwortfas- sung nach. Die meisten berück- sichtigten in ihren Stellungnah- men die gesamte Medizin; einige wenige konzentrierten sich allein auf ihr Fachgebiet. Fast alle gin- gen davon aus, daß insbesondere die Fortschritte und Probleme in der Bundesrepublik Deutschland gemeint waren.
Bis auf seltene Ausnahmen wur- den auf alle drei Fragen minde- stens drei Antworten gegeben.
Manche fanden aber einige Ent- wicklungen von so überragender Bedeutung, daß sie auf weitere Angaben verzichteten, insbeson- dere bei den Prognosen. Summa summarum konnten durchweg dreimal drei Antworten ausgewer- tet werden, wobei die Spitzenent- scheidungen alle ziemlich eindeu- tig ausfallen, die weiteren Rang- folgen jedoch ebenfalls sehr be- merkenswerte Einschätzungen vermitteln. Auch nur einmal gege- bene Urteile sind häufig sehr in- teressant und beachtenswert.
Die Auswertung wurde nach ei- nem Punktsystem vorgenommen.
Für die erste Antwort gab es 3
Friedrich Deinhardt Foto:
Privat
Punkte, für die zweite 2 Punkte und für die dritte Antwort 1 Punkt.
Mehrfachbenennungen wurden berücksichtigt.
Fortschritte 1964-1984
„Die größten Fortschritte wurden im Bereich der Diagnostik ge- macht und nicht im Bereich der Therapie." Diese resümierende Anmerkung eines Internisten wur- de durch das Gesamturteil über- zeugend bestätigt, was keines- wegs von vornherein zu erwarten gewesen war, da die Leistungen der Chirurgie während der letzten 20 Jahre besonders im Blickpunkt nicht nur der Öffentlichkeit, son- dern auch der Fachwelt gestan- den haben.
Bildgebende Verfahren an der Spitze
Eindeutig auf Platz 1 kommen die neuen bildgebenden Verfahren, an allererster Stelle die Compu- tertomographie. Ein Anästhesist kommentierte: „In der Computer- tomographie sehe ich einen Fort- schritt, der vergleichbar ist mit der Einführung der Röntgenuntersu- chung. Diese Methode ist nicht nur für die medizinische Seite, sondern in gleicher Weise für den Patienten von überragender Be- deutung. Das diagnostische Pro- cedere läßt sich vereinfachen, ist
für den Patienten schmerzlos, nicht belastend und gibt eine kaum vorstellbar hohe Treffsi- cherheit. Das ist ein Fortschritt, der sich auf alle medizinischen Spezialdisziplinen des operativen und nichtoperativen Bereiches auswirkt." Ein Orthopäde erkann- te an: „Computertomographie er- möglicht heute Aufnahmen, die vor 10 Jahren noch als unmöglich galten."
Aus der Sicht eines Neurochirur- gen wurde geurteilt: „Die Compu- tertomographie gibt insbesonde- re im Bereich des Zentralnerven- systems, aber auch in anderen Körperabschnitten und Organsy- stemen gegen früher erheblich erhöhte diagnostische Sicherheit, ohne die Patienten durch invasive Verfahren zu belasten und zu ge- fährden. Die verbesserte Diagno- stik zieht eine wesentliche Ver- besserung der Behandlungsmög- lichkeiten nach sich."
Von vielen gleichwertig eingestuft wurde die Sonographie, verein- zelt mitgenannt die Nuklearmedi- zin mit ihren szintigraphischen Darstellungen. Dabei wurde ins- besondere der Wert der Ultra- schall-Untersuchungen in der Schwangerschaftsvorsorge be- tont, darüber hinaus jedoch ange- merkt: „Die Sonographie hat die diagnostischen Möglichkeiten im Bereich des Abdomens verbes- sert. Die Sonderform der Sono-
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Archiv
2154 (22) Heft 28/29 vom 13. Juli 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
Punkte Platz 1- Bewer- tungen Neue bildgebende
Verfahren Transplantations- und Herz-Gefäß- Chirurgie Implantations- chirurgie Immunologie Krebs
Mikrochirurgie Endoskopie Intensiv- und Not- fallmedizin Früherkennungs- programme Beta-Rezeptoren- blocker
165
142 65 55 48 36 31 26 25 23
31
24 9 8 5 7 6 3 4 7
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Kurt Semm Foto:
Meer- kämper
graphie, die Doppler-Ultraschall- Sonographie, ermöglicht die nicht-invasive Darstellung von Veränderungen an den Körper- schlagadern, insbesondere auch an den das Gehirn versorgenden Schlagadern, und eröffnet damit Möglichkeiten der Früherken- nung und gezielten Behandlung arterieller Verschlußkrankheiten.
Als Beispiel sei die operative Be- seitigung von Karotisstenosen mit dem Ziel der Verhütung und Be- handlung von Schlaganfällen ge- nannt."
Insgesamt wurden die neuen bild- gebenden Verfahren mit 165 Punkten bewertet; von 31 Exper- ten wurden sie auf Platz 1 einge- stuft.
Zweiter Platz: Transplantationen Als zweiten wichtigsten Fort- schritt der letzten 20 Jahre sehen die Befragten die Transplanta- tions- und Herzchirurgie mit 142
Punkten und 24 Platz 1-Einstufun- gen. Die Transplantationen ran- gieren dabei mit 82 Punkten noch deutlich vor der Herz- und Gefäß- chirurgie.
Auch die Erfolge der Implanta- tionschirurgie werden als heraus- ragend bewertet, also die Ersatz- teilchirurgie mit Herzschrittma- chern, künstlichen Gelenken, Ge- fäßprothesen.
Die zehn wichtigsten Fortschritte sind nach dieser Bewertung:
Beim Krebs werden sowohl grundsätzliche Erkenntnisse in der Tumorbiologie als auch Fort- schritte in der Diagnostik und in der Therapie anerkannt. Konsta- tiert werden eine „Überwindung des Nihilismus" und eine Optimie- rung der Krebstherapie.
Besonders herausgestellt werden Erfolge in der Leukämiebehand- lung im Kindesalter, aber auch im Erwachsenenbereich, ausge- dehnt durch die Möglichkeiten der Knochenmarkstransplanta- tion. Hier seien „enorme Fort-
schritte" mit Heilungen eingetre- ten, die man kaum vermutet habe.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit habe erreicht, daß beim kind- lichen Wilms-Tumor durch die Be- handlung mit Operation, Röntgen- und Chemotherapie die Heilungs- rate von 10 auf 80 Prozent ange- stiegen sei. Auch Verbesserungen in der Therapie von Hodentumo- ren sind mehrfach notiert worden.
Zu den neuesten Forschungser- gebnissen wurde angemerkt:
„Neueste Entwicklungen auf dem Gebiet der Krebsgenetik mit der Definition von Onkogenen gehö- ren zu den wichtigsten Errungen- schaften, doch bedürfen die Be- funde noch weiterer Bestätigung"
(F. Deinhardt, München)
Immunologie, Endoskopie ...
Auch zu weiteren Erfolgsbilanzen sind mehrere Anmerkungen wert, zitiert zu werden.
Zur Immunologie: „Dank besserer Kenntnis der Funktion des menschlichen Immunsystems und der Möglichkeiten seiner Beein- flussung haben sich die Erfolgs- aussichten von Organtransplanta- tionen verbessert. Wesentliche neue Behandlungsmöglichkeiten resultieren aus der Erkenntnis, daß eine Reihe von Erkrankungen auch auf Immunreaktionen ge- genüber eigenem Körpergewebe beruhen können und auf den ver- besserten Möglichkeiten der Un- terdrückung dieser Immunreak- tion." (F. Loew, Homburg/Saar) Zur Endoskopie: „Die Diagnostik wurde in einem Ausmaß verbes- sert und solidisiert, wie es nicht vorauszusehen war. Die endosko- pischen therapeutischen Metho- den haben Belastung und Kosten erheblich reduziert (Papillotomie, Polypektomie)." (R. Ottenjann, München) — „Die konsequente Polypektomie aus dem Dickdarm ist eine sichere Prophylaxe gegen diesen nahezu schon häufigsten Krebs." (L. Demling, Erlangen) Ludwig
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Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 28/29 vom 13. Juli 1984 (23) 2155
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Medizinische Fortschritte der letzten 20 Jahre
Die Endoskopie ermöglichte den
„Übergang von der diagnosti- schen Laparoskopie zur endosko- pischen Abdominal-Chirurgie mit Perfektion der generellen Adhae- siolyse im Abdomen, Ovarekto- mie, Adnektomie, konservierend oder radikalen Behandlung der Ei- leiterschwangerschaft im gynäko- logischen Bereich bis hin zur Ap- pendektomie und Darm-Adhae- siolyse, insbesondere nach vor- ausgehenden Operationen durch Bauchschnitt. Durch die endosko- pische Abdominal-Chirurgie wird nicht nur der stationäre Aufenthalt des Patienten auf wenige Tage re- duziert, es entfällt insbesondere postoperativ die bei einer Laparo- tomie nötige Rekonvaleszenten- zeit, d. h. Arbeitsunfähigkeit." (K.
Semm, Kiel)
Zur Mikrochirurgie: „Mikrochirur- gische Operationstechnik hat auf dem Gebiet der Neurochirurgie die Möglichkeiten der Ausschal- tung von Aneurysmen und Angio- men (Behandlung und Verhütung von Hirnblutungen) und die Ent- fernung bestimmter Hirntumoren wie beispielsweise von Tumoren der Hypophyse oder des Klein- hirnbrückenwinkels und der übri- gen Schädelbasis wesentlich ver- bessert. Sie ermöglicht es außer- dem, bei Verschlüssen von Schlagadern, die das Gehirn ver- sorgen, die Blutversorgung des Gehirns durch Herstellung eines Umgehungskreislaufes — Anasto- mosen zwischen Adern der Kopf- schwarte mit Gehirnadern — zu verbessern. In anderen Teilgebie- ten der Medizin hat die Mikroope- rationstechnik gehörverbessern- de Operationen, Eingriffe im Be- reich der Augen, die Replantation von Gliedmaßen, die durch Unfäl- le abgetrennt wurden, die Verbes- serung der Herzdurchblutung nach Herzinfarkten durch Anle- gen von Gefäßanastomosen und vieles andere mehr ermöglicht.
Sie ist zugleich eine der wesent- lichen Voraussetzungen für die Transplantation mancher Organe wie beispielsweise der Bauch- speicheldrüse." (F. Loew, Hom- burg/Saar)
Friedrich Wilhelm Ahnefeld Foto:
Kowalsky
Überlebenschancen
Zur Intensivmedizin: „Die Ent- wicklung zahlreicher neuer Me- thoden in allen Bereichen der Notfallmedizin, angefangen von der Neugeborenenreanimation bis zur Sofortbehandlung des Herzinfarktes, einschließlich De- fibrillation außerhalb der Klinik, führten auch zu einer völlig neuen Gestaltung der außerklinischen Behandlung, zur Schaffung einer völlig neuen Aufgabe, der Notfall- medizin. Die Überlebenschancen nach akuten Erkrankungen, ins- besondere nach schweren Verlet- zungen, sind ständig erweitert worden."
„Während die Sterblichkeit auf in- tensivmedizinischen operativen Einrichtungen vor 10 Jahren noch weit über oder um 50 Prozent lag, ist die Sterblichkeitsrate, obwohl wir eher mehr Schwerstverletzte und Risikopatienten in diesen Be- reichen zu behandeln haben, im Schnitt auf etwa 15 Prozent zu- rückgegangen. Nicht nur das Überleben ist verbessert, auch die Invalidität konnte erheblich her- abgesetzt werden. Alle diese Ent- wicklungen haben sich auf den gesamten operativen Bereich aus- gewirkt, und zwar sowohl auf die intra- als auch die postoperative Phase. Sie führten zur Auswei- tung chirurgischer Eingriffe und haben ganz maßgeblich damit die
Effizienz auch im anästhesiologi- schen Bereich beinflußt." (F. W.
Ahnefeld, Ulm)
In der weiteren Rangfolge der wichtigsten Fortschritte kommt die Ausrottung der Pocken auf Platz 11 mit immerhin 21 Punkten.
Fünfmal wurde sie auf Platz 1 ge- setzt.
Als weitere herausragende Lei- stungen wurden häufig oder mehrfach, hier alphabetisch ge- ordnet, genannt:
Antibiotika, Calciumantagonisten, Chemotherapie beim Ca, Chro- mosomenanalyse, Dialyse, Gen- technologie, Koronarang iog ra- phie, Kontrazeptionsverbesserun- gen, Labordiagnostik, Lithotrip- sie, Monoklonale Antikörper, Ost- eosynthese, Perinatologie, Photo- koagulation, Polio, Psychothera- pie, Rehabilitationsprinzip, Sen- kung der Säuglingssterblichkeit, Transluminale Angioplastie.
Unter „Verschiedenes" wurden noch Nennungen mit 36 Punkten notiert. 6 Angaben standen dabei auf Platz 1:
Aufbau einer Medizinischen Infor- mation und Dokumentation; Wie- derentdeckung der Ganzheitsme- dizin mit Anerkennung der Not- wendigkeit hausärztlicher Betreu- ung; Ansätze zur Entwicklung ei- ner zeitgerechten medizinischen Ethik; Die (langsame) Neuorien- tierung auf den Panoramawandel der Krankheiten; Gesundheitsvor- sorge in den Entwicklungslän- dern, damit Eindämmung von in- fektiösen Epidemien; Möglichkeit der Tiefkonservierung von Blut.
• Wird fortgesetzt
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. h. c. Hans Mohl Fontanestraße 49
6500 Mainz 31 2156 (24) Heft 28/29 vom 13. Juli 1984 81. Jahrgang Ausgabe A