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Archiv "Die Revolte entläßt ihre Kinder" (24.07.1985)

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Die Revolte entläßt

ihre Kinder

Mit Schalmei und In- brunst spielen Kramerey und Kurzweyl auf Markt- festen dem Volk auf

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Die Alternativbewegung und ihre kulturellen Auswirkungen — (k)ein Nachruf

Was ist eigentlich aus dem ge- worden, was noch vor nicht allzu langer Zeit für Schlagzeilen oder recht ratlose Kommentare in den Kulturbetrachtungen sorgte — dem Auszug der Ju- gend aus „unserer Gesell- schaft"? Was wurde aus den ge- genkulturellen Aus- und Aufbrü- chen der 70er Jahre, den Wohn- gemeinschaften und Alternativ- projekten, den Utopien vom

„befreiten Leben", den kollekti- ven Mythen und Sehnsüchten

nach der „ganz anderen Gesell- schaft"? Haben die Protagoni- sten dieser Bewegungen, die in Eruptionen wie dem Berliner Häuserkampf kulminierten oder auch die grüne Partei kulturso- ziologisch speisten, resigniert?

Sind sie gescheitert und haben sich angepaßt, sang- und klang- los?

Um die zentrale These gleich vorwegzunehmen: das Gegen- teil ist der Fall. Die Alternativbe-

wegung hat nicht verloren. Sie hat im Gegenteil den Sieg da- vongetragen — den kulturellen.

Sie hat sich in den „Bauch der Gesellschaft" hineinbewegt.

Viele ihrer „Patterns" findet man heute in leicht veränderter Gestalt im Alltagsleben wieder.

Das beginnt im großen Rahmen bei einer weitverbreiteten Su- che nach dem Sinn, nach einem Sinn jenseits der materiellen Ausrichtung des Lebens. Es

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 30 vom 24. Juli 1985 (69) 2203

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die Alternativbewegung

geht über die weitverbreitete Klage über den maroden Zu- stand unserer Umwelt, das in- zwischen schon obligate Miß- trauen gegenüber der gesamten politischen Sphäre bis in sehr reale kulturelle Veränderungen:

in den Städten ist heute, ganz im Gegensatz zu etwa den 60er Jahren, eine Vielzahl von Le- bensformen gang und gäbe.

Wohngemeinschaften locken kaum noch Vorurteile hervor, unverheiratete Paare sind kein Skandal, althergebrachte Nor- men sind außer Kraft gesetzt.

Bis in die Feinstrukturen haben sich „alternative" Fragestellun- gen durchgesetzt. Jeder Arzt dürfte sie heute in der einen oder anderen Form als Mißtrau- en ob einer rein naturwissen- schaftlichen Medizin zu spüren bekommen, jeder Lehrer weiß, daß mit Autorität allein nicht mehr viel bei den Jugendlichen zu „holen" ist.

Das ist natürlich zugespitzt, heißt es doch nicht, daß sich al- ternative Lebensformen auf

Beide Welten halten sich im Bioladen die Waage, private Hand vertreibt hier alternatives Ideengut

breiter Front durchgesetzt hät- ten. Aber die Alternativkultur hat ihre Identität, ihr Ghetto-Be- wußtsein stets aus der Abgren- zung gegen einen erratischen Block „herrschender Kultur"

behauptet. Dadurch, daß zumin- dest ihre Fragen und Wünsche von der Gesamtgesellschaft ad- aptiert wurden, haben sich die scharfen Grenzen zwischen

„Kultur" und „Gegenkultur"

verwischt — und dadurch die Ab- grenzung erschwert. Die Alter- nativbewegung ist also durch ih- ren Erfolg in Frage gestellt wor- den. Diese Gesellschaft zweifelt an sich selbst — sie taugt nicht mehr so recht als Feindbild.

Null Bock aufs Kollektiv?

Innere Probleme sind hinzuge- kommen. So hat sich etwa das Modell Wohngemeinschaft nicht als dauerhafte Lebensform be- haupten können. Wohngemein- schaften sind „Durchlauferhit- zer" jugendlicher Kulturen ge- blieben, auf eine gewisse Zeit sozialer Dichte und kollektiven Abenteuers reduziert.

Für die Protagonisten der Wohn- gemeinschaft waren die „WGs"

oftmals ein Familienersatz. Hier, in der Gruppe, wollte man sich die Geborgenheit, das Verständ- nis holen, das man im „bürger- lichen " Elternhaus vermißte.

Das hat die Wohngruppen fast immer überfordert: nach einer relativ kurzen Zeit der Intensität bemerkte man am Mitbewohner Desinteresse, Macken und Feh- ler. Da alle von der Gruppe Zu- wendung forderten, aber kaum jemand wirklich in der Lage war, diese zu geben, bildete sich ein ständiges „Emotionsdefizit", das mit der hektischen Suche nach den anderen, den „besse- ren" Mitbewohnern bekämpft wurde. Die Wohngemeinschaf- ten wurden zu brüchigen Selbst- erfahrungsgruppen, die Alltäg- liches, Trennendes nicht ertra- gen konnten, denn das hätte den selbstgestellten kollektiven Anspruch sabotiert. Viele sind

vor den häufigen Um- und Aus- zügen schließlich in das Single- oder Paardasein geflüchtet.

Überforderungen prägten auch die Alternativprojekte. Die Auf- hebung der Trennung zwischen Leben und Arbeit, machte die selbstverwalteten Betriebe mit- unter zu einem „Totalstreß".

Persönliche Aversionen führten stets auch zu Krisen im Arbeits- bereich — und umgekehrt. Eine Art „Krisenmechanik" machte das Leben und Arbeiten in sol- chen Projekten unerträglich.

Hinzu kommt ein Nebeneffekt egalitärer Strukturen: sie schaf- fen ein permanentes „Verant- wortungsvakuum", das von kol- lektivem Sinn, von gemeinsa- mer Emphase gefüllt sein will.

Hier wurden Gemeinsamkeits- gefühle quasi zum Produktivmit- tel — das Individuum konnte sich nicht mehr von der Gruppe ent- lasten, und so kam es zu einer weitverbreiteten Wahrnehmung solcher Gruppen als ein Zwangszusammengehang, der seine Mitglieder gleichsam

„frißt".

Loch in der Logik

Eine nicht unentscheidende Rolle in diesem Niedergang der alternativen Alltagsmythen spielte zudem eine Art „inneres Paradox": Die Lebens- und Ar- beitsformen der „Szene" waren ja ursprünglich von politischen Grundideen durchtränkt. So gal- ten etwa Alternativprojekte als Überlebensbastionen in einer feindlichen Gesellschaft, die ein

„richtiges Leben" gar nicht zu- ließ. „Es gibt kein richtiges Le- ben im falschen" — so ein Wahl- spruch der Subkultur. Im Klar- text: erst müsse die gesamte Gesellschaft umgewälzt werden, bevor unentfremdete Sozial- und Produktionsformen entste- hen könnten. Die Alternativpro- jekte bewiesen aber gerade durch ihre Existenz, daß in die- sem „System" sehr wohl selbst- verwaltete Enklaven möglich sind, denn trotz ihrer Schwierig- 24. Juli 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

2204 (70) Heft 30 vom

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die Alternativbewegung

keiten: sie existierten ja, in gar nicht unerheblicher Zahl und durchaus nicht ohne Erfolge.

So kam der Alternative in einen inneren Zwiespalt: Mit der Aus- formung von Utopien im „hier und jetzt" verriet er seinen revo- lutionären Ansatz, er verkroch sich, wie es so schön hieß, in ei- ner Nische, er hatte keinen „ob- jektiven" Grund mehr, für eine Gesamtveränderung zu kämp- fen. Die Projekte waren auch in- nerhalb der Alternativszene stets umstritten, manche be- zeichneten sie als die raffinierte- ste Form des Verrats. Ging es einmal einem Projekt gut, stimmte die Kasse und das Ge- fühl, schlug erbarmungslos das

„linke Über-Ich" zu und stellte diesen Zustand als Anpassung in Frage: Auch hier kann man wieder sagen: Es waren die Er- folge der Alternativbewegung, die sie in die (relative) Auflösung trieb.

Man kann es sich jetzt einfach machen und die gegenkulturel- len Versuche unter der Rubrik

„gescheitert" abhaken. Aber

Noch gehören alternative Kinderläden nicht der Vergangenheit an, wohl aber ihr Image als Bürgerschreck das ist nur billig und selbstge- recht. Denn diese Bewegung hat ja durchaus richtige Zweifel am Fortgang unserer materialisti- schen Wohlstandskultur gesät, sie hat zumindest einige Ant- worten gegeben und unsere Kultur bereichert.

Vielleicht können wir heute, aus einem anderen historischen Blickwinkel, eine neue gesell- schaftliche Qualität der Zukunft skizzieren. Die Alternativbewe- gung war ja in ihrem Kern und

Ursprung eine Revolte gegen die pure Sachlogik der „Wirt- schaftswundergesellschaft", ge- gen die „Bunkerareale" der Kleinfamilie, gegen eine erstarr- te Alltagskultur. Sie hat hier auf Defizite nur hingewiesen, sie keinesfalls verursacht: Der Zer- fall der Kleinfamilie etwa auf ih- ren reproduktiv ausgerichteten Kern, die dadurch folgenden Probleme — etwa für alte Men- schen, aber auch für die Ehe selbst, die durch diese Reduzie- rung zum alleinigen und über-

forderten Orientierungspunkt des Lebens geworden ist — hat sich ja erst durch die Ökonomi- sierung der Gesellschaft vollzo- gen. Daß da Ideen wie „Großfa- milie" neu formuliert wurden, darf nicht wundern.

Man kann nun die „Wirtschafts- wunderwerte", jene an Geld, Karriere und Funktionalität aus- gerichtete Kulturform, wieder- um als Revolte definieren — als Revolte gegen die Erfahrung des Totalitarismus, der völligen Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 30 vom 24. Juli 1985 (71) 2205

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Aus den Kommunen flüchtete man/frau in die gute alte Jung- gesellenbude:

Männer-WG

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Die Alternativbewegung

„Vergesellschaftung des Men- schen", wie sie im Faschismus stattfand — der einzelne als Teil des „Volkskörpers" eines gro- ßen, gesellschaftlichen Über- Sinns. Der pure Individualismus war die Gegenreaktion, ein grundsätzliches, ja radikales Mißtrauen gegen alles „Gesell- schaftliche". Der Aufbruch der Jugendlichen hat nun wieder kollektive Mythen dagegenge- setzt — ebenso überzogen, zuge- spitzt und „total".

Die „Wahrheit" liegt nun nicht in der Mitte, sondern in der Ergän- zung. Eine lebendige Gesell- schaft braucht öffentliche wie private Räume, kollektive wie in- dividualistische Formen, sie braucht Ökonomie und Sinn. All dies muß sich dabei weiter aus- formen. Die Alternativbewegung hat ja beides formuliert: eine Idee der Gemeinschaft und eine Idee der fortentwickelten indivi- duellen Autonomie. Sie hat mit ihrer Kritik an Ehe und Berufs- formen so unrecht nicht gehabt:

Wie viele haben immer noch kein eigenes Leben gelebt, ha-

ben sich auf totale Weise an den Partner oder die Firma gebun- den? Wie viele Individuen in die- ser Gesellschaft sind wirklich er- wachsen im Sinne von Eigenver- antwortung, von Konfliktfähig- keit? Wer kann schon den Part- ner „loslassen", ihm Freiheiten gewähren, wer hat die symbioti- schen Kindheitsträume in sich selbst wirklich überwunden? Es gibt in dieser Gesellschaft noch genügend private Höllen, es gibt noch genügend Unmenschlich- keit, Mangel an Würde und Ko- operation in Fabriken und Bü- ros. Eine Gesellschaft, in der die kulturellen Formen wirklich „zi- vilisiert" sind, muß auch ihre in- neren Hierarchien bearbeiten können — nicht im Sinne einer sofortigen Abschaffung, zumin- dest aber einer ständigen Re- form.

Ins gesellschaftliche Diesseits Es geht also, schon wieder und immer noch, um die Emanzipa- tion der einzelnen. Denn das hat die Alternativbewegung gezeigt:

gesellschaftliche Veränderun- gen sind nur durch individuelle zu bewerkstelligen. Alle Grup- peneuphorien sind nutzlos, wenn die Mitglieder außer ihrer Sehnsucht nach Nähe nicht auch die Fähigkeit zur Distanz haben, alle Nicht-Hierarchien sind zum Scheitern verurteilt, wenn nicht kompetente Koope-

ration die ordnenden Funktio- nen der Autorität ersetzt.

Es klingt anmaßend, aber will unsere Gesellschaft sich nicht in ihren Sackgassen verrennen, sondern qualitative Kultursyn- thesen aus diesen hin- und her- wogenden „Revolten" entwik- keln, ist• es zwingend: Die „alte"

Kultur muß von der alternativen Ära lernen, auch von ihren Feh- lern, aber ebenso von dem, was da in den letzten zehn Jahren als kulturelle Bedürfnisse geäußert wurde. Umgekehrt wird die Al- ternativgeneration lernen müs- sen, daß es das „gesellschaft- liche Jenseits", das System, in dem endlich alles „gut" wird, nicht gibt — Lehrgeld in dieser Richtung hat sie bereits gezahlt.

Eine „qualitative" Gesellschaft muß ihre inneren Widersprüche ausbalancieren, sie darf das ei- ne nicht mit dem anderen aus- grenzen, die Freiheit nicht mit der Gleichheit, die Autonomie nicht mit der Gerechtigkeit, das Funktionable nicht mit dem Spontanen.

So endet die Revolte nie. Ein

„polyvalenter Revolutionär" et- wa müßte für die Freiheit zu Fel- de ziehen, wenn der Mythos der Gleichheit den Sieg erringt — aber auch umgekehrt. Er müßte für privaten Raum kämpfen, wenn eine Gesellschaft kollekti- vistisch zu werden droht — und vice versa. Der chinesische Wei- se Lao-Tse hat vor 2400 Jahren gesagt: „Qualität, über die aus- gesagt werden kann, ist nicht die absolute Qualität." Man könnte es auch so formulieren:

Qualität ist erwachsener Radika- lismus. Ein Radikalismus der Vielfalt. Matthias Horx

2206 (72) Heft 30 vom 24. Juli 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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