1 Ingrid Sehrbrock
Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB
Grußwort zum 1. Mai 2005 - Recklinghausen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
morgen werden wir wieder in manchen Blättern lesen, dass der 1. Mai, die
Veranstaltungen zum Tag der Arbeit nicht mehr zeitgemäß sind. Feierliche Reden zum ersten Mai sind es in der Tat nicht.
Die wird es heute auch nicht geben. Aber es geht um etwas anders.
Als der Bundesvorstand des DGB das diesjährige Maimotto beschlossen hatte, war die Reaktion gemischt. Du bist mehr als eine Nummer, du bist mehr als ein
Kostenfaktor, du hast Würde, zeig sie! Das ist sperrig, das geht einem nicht so glatt von den Lippen.
Aber, Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion der letzen Tage über den
Kapitalismus und die Verantwortung der Unternehmen zeigt, dass wir damit mitten ins Herz getroffen haben.
Dass die Würde des Menschen unantastbar ist. steht in der Verfassung. Aber dieser Satz besteht nicht aus vertrockneten Buchstaben.
Mehr als je zuvor wird den Menschen klar, was das nicht heißen kann.
• dass Menschen, die dreißig Jahre und mehr gearbeitet haben und dann den Arbeitsplatz verlieren, nach einem Jahr praktisch in die Sozialhilfe fallen
• dass ALG II Bezieher ihre mühsam angesparte LV mit Verlust verkaufen müssen, und dann später erst recht dem Staat auf der Tasche liegen
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• dass junge Leute nach vielen Warteschleifen in allen möglichen Ersatzmaßnahmen schließlich mit 19 vielleicht einen Ausbildungsplatz finden
• dass jungen Akademikern nichts Besseres als ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen angeboten wird, und die Eltern für den Lebensunterhalt weiter aufkommen müssen
• dass Arbeitsplätze selbst zu drei oder fünf € die Stunde angenommen werden, nur um nicht arbeitslos zu sein
• dass junge Frauen, die Kinder bekommen könnten, mit schlecht verpackten Vorwänden den Job nicht kriegen, aber ihre männlichen Kollegen.
Anrede,
wo ist da der Schutz der Würde dieser Menschen geblieben?
Wir können es nicht zulassen, dass solche wichtigen Sätze nur auf dem Papier stehen und im Alltag immer weniger Bedeutung haben.
Das war die Idee des Bundesvorstands, als wir dieses Motto für dieses Jahr ausgewählt haben.
Anrede,
die Diskussion über die Verantwortung der Unternehmen in diesen Zeiten ist richtig.
Mit seiner Kapitalismus-Kritik hat Franz Müntefehring den Nerv der Menschen schon getroffen.
Aber, Kolleginnen und Kollegen, dazu passt die Politik der Bundesregierung nun ganz und gar nicht.
Massive Steuererleichterungen für Unternehmen, Ausweitung der befristeten Beschäftigung,
3 Zugeständnisse für Betriebe, die ausbilden
Einschränkungen beim Kündigungsschutz
Verlagerung von Kosten in der sozialen Sicherung einseitig auf ArbeitnehmerInnen
Das ist nicht gerade eine Politik, die dem Kapitalismus die Zähne zieht.
Im Klartext: wer den Mund spitzt, muss auch pfeifen.
Alles andere macht Politik und Politiker unglaubwürdig.
Anrede,
als Gewerkschaften und als DGB bleiben wir dran, Arbeitsbedingungen einzufordern, die die Würde der Menschen in den Betrieben und den Verwaltungen achten.
Das ist nicht mit links zu machen, das wisst ihr alle.
Dazu brauchen wir Menschen, die zeigen, wann es genug ist
Dazu brauchen wir Menschen, die wieder bereit sind mit den Gewerkschaften und mit anderen Verbänden, die sich um Belange der Beschäftigten kümmern
gemeinsam den Arbeitgebern die rote Karte zu zeigen
Mich macht optimistisch, dass über 35 % der neuen Mitglieder junge Leute sind.
Das lässt hoffen.
In diesem Sinne wünsche ich Euch einen guten 1. Mai.