• Keine Ergebnisse gefunden

Gudrun Pausewang Au revoir, bis nach dem Krieg

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Gudrun Pausewang Au revoir, bis nach dem Krieg"

Copied!
13
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)
(2)

Gudrun Pausewang Au revoir, bis nach dem Krieg

(3)
(4)

Au revoir, bis nach dem Krieg

Gudrun Pausewang

(5)
(6)

5

–1–

Das schon etwas vergilbte, ovale Schwarzweißfoto, im letzten Frühling vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entstanden, zeigt die Familie Hensel. Sie feiert an diesem Tag Omas Ge- burtstag.

Hanni hat es oft angeschaut. Ihr ganzes Leben lang. Es hing – wo immer sie auch wohnte – neben ihrem Bett.

Zuerst fällt ihr Blick auf die Hensel-Oma. Die sitzt in einem Korbsessel in der Mitte des Bildes: eine kleine, rundliche Frau in einem dunklen Kleid. Ihre Füße reichen kaum bis zum Boden.

Ihr faltiges Gesicht verrät ihr Alter: Mitte siebzig. Ihre Hände liegen nebeneinander auf ihrem Schoß.

Opa Hensel ist auf dem Foto nicht zu sehen. Der war schon ein paar Jahre früher verstorben: ein heiterer Mann, der sich immer gern mit seinen Orden aus dem Ersten Weltkrieg ge- schmückt hatte, bevor er fotografiert werden sollte. Hanni konnte sich kaum mehr an ihn erinnern. Was sie über ihn wusste, hatte ihr Oma erzählt.

Zum Beispiel, dass er nachts oft hochschreckte. Da hatte er Oma manchmal mit lauten Schreien geweckt: »Drauf! Drauf!«

und »Attacke!« und »Geschont wird niemand!« Oder er hatte, während er träumte, Grimassen des Entsetzens oder heftige Ab- wehrbewegungen gemacht und kaum zu verstehende Satzfetzen ausgestoßen.

Hanni konnte sich verschwommen daran erinnern, dass sie

(7)

6

einmal in ihrer frühen Kindheit, als Opa auf dem Sofa ein Nicker chen machte, vor seinem Gesicht erschrocken war: Das war nicht das Gesicht des Opas gewesen, den sie kannte.

Oma kam von einem Bauernhof und hatte arbeiten gelernt.

Während des Ersten Weltkriegs, als Opa und ihre beiden ältes- ten Söhne an der Front gewesen waren, hatte sie auch ohne die drei Männer den Steinbruch weiter betrieben, zusammen mit ihrem jüngsten, halbwüchsigen Sohn und ein paar Arbeitern, die für den Wehrdienst schon zu alt gewesen waren.

Aber Orden hatte sie nie bekommen.

Hinter Omas Sessel stehen Vati und Mutti Hensel. Vati war einen Kopf größer als Mutti. Sein lockiges Haar kämmte er im- mer straff nach hinten. Trotzdem fiel ihm oft eine Locke in die Stirn. Als junger Mann hatte er ein Oberlippenbärtchen ge- tragen. Aber seit Hitler an der Macht war, hatte er keines mehr haben wollen. Er – wie auch die ganze Familie – war dunkel- haarig. Allerdings ist Omas Haar auf dem Foto schon ganz weiß.

Vati trägt ein Polohemd und lange weiße Hosen. Lachend hat er seinen Arm um Mutti gelegt. Mit der anderen Hand schwenkt er einen Tennisschläger. Er war leidenschaftlicher Tennisspieler.

Auf der großen Wiese neben dem Haus hatte er einen Tennis- platz angelegt. Dort spielte er im Sommerhalbjahr, wenn es nicht regnete, fast jeden Tag eine Stunde. Meistens mit Jürgen, seinem Ältesten.

Mutti trägt auf dem Foto einen Haarknoten. Das war damals so üblich. Auch sie lacht. Vati hat ihr wohl gerade einen Witz erzählt. Sie liebte ihn noch immer innig, obwohl sie schon

(8)

7

zwanzig Jahre mit ihm verheiratet war und vor ein paar Mona- ten ihren einundvierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Mutti war die einzige Tochter eines Musiklehrer-Ehepaars und konnte sehr gut Klavier spielen. In Hannis Alter hatte sie davon geträumt, Konzertpianistin zu werden. Aber nachdem sie Vati kennen- gelernt hatte, war alles anders gekommen. Das lag auch an ihren asthmatischen Beschwerden.

Jürgen ist auf dem Bild neunzehn Jahre alt. Er studierte Be- triebswirtschaft. Die Frage, was er werden wollte, hatte ihm nie Kopfzerbrechen bereitet. Denn er wusste, dass er vorerst in der Verwaltung des Steinbruchbetriebs arbeiten würde. Zusammen mit seinem Vater wollte er ihn weiter ausbauen, modernisieren und später mal übernehmen. Dass er nie älter als knapp zwei- undzwanzig Jahre werden sollte, ahnte er nicht.

Auf dem Foto steht Hanni vor ihrer Mutter, neben Omas Korbsessel: eine schlanke Vierzehnjährige mit hellen Augen und langen Zöpfen, mehr Kind als Erwachsene. Eigentlich hieß sie Johanna, aber alle riefen sie Hanni. Das glatte Haar hatte sie von ihrer Mutter.

Der Zehnjährige vor Hanni, im Schneidersitz, ist Alfred, der Jüngste der Familie Hensel. Sein Haar ist wie das von Hitler geschnitten. Militärisch stramm salutiert er, die Hand an der Schläfe. Mit dem anderen Arm drückt er Bobby an sich, seinen Foxterrier.

Jedes Mal wenn Hanni einen Blick auf dieses Foto warf, er- innerte sie sich noch genau an die heftige Auseinandersetzung, die damals zwischen Alfred und Vati stattgefunden hatte. Denn

(9)

8

Alfred hatte in der Uniform des Deutschen Jungvolks auf das Bild kommen wollen. Das hatte Vati nicht erlaubt. Er hätte ihm auch nie erlaubt, dieser Nazi-Jugendorganisation für die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen beizutreten, wenn es nicht staatlich angeordnete Elternpflicht gewesen wäre, ihn dort hin- zuschicken.

Das Familienfoto jedoch war Privatsache. Deshalb hatte sich Vati auch nicht durch Alfreds unüberhörbare Seufzer und hef- tiges Gebettel erweichen lassen. Schließlich war dem Jungen nichts anderes übrig geblieben, als zähneknirschend zu gehor- chen.

Ach ja, Alfred. Lieber, armer Bruder. Auf diesem Foto hatte er noch beide Beine.

Und wo ist Rosel? Sie kam erst ein knappes Jahr danach zu den Hensels und ist deshalb nicht auf dem Foto.

Das Bild war im Freien aufgenommen worden. Im Hintergrund kann man allerlei erkennen oder erraten: Vom Steinbruch sieht man nur ein paar birkenüberwucherte Hügel, den Rand einer Felswand, einen Schotterhaufen und ein Förderband voller Steine.

Deutlicher zu sehen sind ein paar hohe, alte Bäume mit mäch- tigen Wipfeln, vor allem die ausladende Krone einer Trauer- weide. Davor das Wohnhaus mit den Nebengebäuden, die noch aus der Zeit stammten, als die Hensel-Urgroßeltern nur einen Bauernhof besaßen und die vielen Steine auf ihren Feldern ver- fluchten.

Ein Schwarzweißfoto. MAI 1939 steht auf der Rückseite.

Damals war für die Hensels noch alles in Ordnung – abge-

(10)

9

sehen davon, dass in den meisten Wohnungen ein Hitlerbild an der Wand hing. Wenn Vati gewusst, ja auch nur geahnt hätte, was sich schon bald, sehr bald in Europa ereignen sollte und welches Schicksal seine Familie ereilen würde, hätte er wahr- scheinlich schnellstmöglich das Hensel’sche Anwesen samt Steinbruch verkauft und wäre ausgewandert. Egal, wohin, nur fort aus Europa.

Aber so wie es auf dem Foto aussah, waren die Hensels damals mit sich und der Welt zufrieden. Kein Wunder. Sie brauchten nicht mehr jeden Pfennig dreimal umzudrehen. Vati hatte zu Jürgens Geburt den Steinbruch von seinem Vater übernommen und war dann in die Wirtschaftskrise hineingeraten. Da war der Betrieb haarscharf an einer Pleite entlanggeschrammt. Bis auf zwei Arbeiter hatte Vati alle Angestellten entlassen müssen.

Es gelang ihm, den Betrieb zu retten. Bald lief alles besser als je zuvor – vor allem dank der Autobahnen, die Hitler bauen ließ. Denn für den Straßenbau braucht man Schotter und Sand.

Vati konnte wieder Arbeiter einstellen. Er hatte sogar Mühe, so viele tüchtige Leute zu finden, wie er brauchte. Deshalb hatten er und Mutti für Hitler gestimmt, auch wenn sie über seinen Judenhass den Kopf schüttelten, sich über sein Gefuchtel amü- sierten und nicht viel von seiner Politik hielten. Aber sie hatten auch wenig Zeit und Lust, sich mit Politik zu beschäftigen.

Hanni erinnerte sich später: Während der Woche war Vati da- mals vom Morgen bis zum Spätnachmittag im Steinbruch oder in seinem Büro gewesen. Einen Abend pro Woche verbrachte er

(11)

10

bei seinen Freunden im Dorf. Mutti hatte sich zusammen mit Oma um den Haushalt und die Schulaufgaben gekümmert.

Abends spielten alle, die Zeit und Lust dazu hatten, zusammen irgendein Gesellschaftsspiel wie Halma, Mikado oder Fang den Hut!. Sonntags saß Mutti meist am Klavier. Vati beschäftigte sich in seiner Freizeit gern mit den Kindern.

Die wuchsen in einem prächtigen Spielgelände auf: Hinter dem Haus lag der schilfumwucherte Weiher, über dessen Ufer sich eine Trauerweide neigte. Eine knorrige Eiche überschattete den Hofplatz. Vor den Eingangsstufen des Wohnhauses zog ein kleiner runder Zierteich mit Blumenrabatten die Blicke auf sich.

In ihm tummelten sich Goldfische. Hühner scharrten und pick- ten auf der Wiese unter den Obstbäumen. Und Oma arbeitete noch täglich in ihrem Gemüsegarten.

Von der Schotterstraße, die vor dem Hensel’schen Anwesen vorbeiführte, zweigte ein breiter, ebenfalls geschotterter Weg ab und verschwand zwischen den Hügeln des Steinbruchs. Dort auf den Hängen tollten die Henselkinder oft herum, gruben Höhlen, ließen Drachen steigen, schnitzten Pfeifen aus Schilf- rohr, sammelten Pilze. Den ganzen Sommer lang badeten sie in dem von Schilf halb zugewucherten Weiher. Und im Winter sausten sie auf ihren Schlitten mit Gejuchz die Hänge des Stein- bruchs hinunter, mal mit Freunden, mal unter sich, immer um- tobt von Bobby.

Das Dorf Fessenbach, zu dem der Steinbruch gehörte, war von hier aus nicht zu sehen. Es lag in einem Tal.

(12)

11

Fessenbach. Ein Dorf wie jedes andere: Kirche, alte und neue Volksschule, Bäckerei, Metzgerei, ein paar Handwerksbetriebe, ein Papierwaren- und ein Tante-Emma-Laden, ein unbedeuten- der Bahnhof. Der Ort hatte mal Felsenbach geheißen, wegen der vielen Felsen zwischen den Hügeln und am Bach.

Jahrelang waren die Henselkinder auf der Schotterstraße sommers wie winters zur Schule gegangen – durch tiefen Schnee, unter Lerchengetriller, unter sengender Sonne, durch wirbelndes Laub. Die neue Schule, inzwischen auch schon dreißig Jahre alt, lag am Ortsrand.

Solche zweiklassigen Volksschulen gibt es heutzutage in un- serem Land nicht mehr: erstes bis drittes Schuljahr, viertes bis achtes Schuljahr, jeweils in einem Raum zusammen – brav und leise, weil der Lehrer noch »züchtigen« durfte.

Von den Hensels gab es außer dem Foto im ovalen Silber rahmen noch zwei Alben mit Schwarz-Weiß-Fotos aus der Vorkriegszeit.

Zum Beispiel jedes der drei Kinder mit seinem neuen Schul- ranzen und der bunten Schultüte an seinem ersten Schultag.

Oder eine riesige Schneewehe vor dem Haus, die ein Erd- geschossfenster halb verdeckt.

Die Kinder vor dem Weihnachtsbaum, etwas unterbelichtet.

Omas Geburtstag: riesig im Vordergrund die Torte, irgendwo im halbdunklen Hintergrund Omas Gesicht.

Die Kinder in Badehöschen, planschend im Weiher, leicht verwackelt.

Hanni über die Tasten gebeugt, während Mutti ihr Klavier- stunde gibt.

(13)

12

Vati und Jürgen lachend beim Tennisspiel.

Opas Grab, frisch bepflanzt.

Welpe Bobby auf dem Sofa, mit Alfred schmusend.

Bobby, an einem Knochen nagend.

Bobby, quer über die Wiese hinter weißen Kaninchen her- jagend.

Bobby fast auf jedem Foto.

Diese Alben gibt es noch. Hanni hat sie ihrer Enkelin Sophie zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

anhand, aufgrund, irgendetwas, irgendjemand, sodass, klein- schreiben (mit kleinem Anfangsbuchstaben), großschreiben (mit großem Anfangsbuchstaben)..

Dass Claudia Müller ihre Begeisterung für die Mosel nicht nur in Bilder zeigt, sondern auch als Winze- rin überzeugen kann, be- schrieb Helmut Orth,

Wir haben erfahren, dass es sie besonders stolz machte, wenn andere Besucher im Museum sich für uns und ihre Geschichten interessierten. Wir haben erfahren, dass die Menschen

Schweitzer ist nun zweifacher Doktor, doch er legt noch einen drauf: Ein Jahr nach der letzten Dis- sertation, 1902, habilitiert er sich in evangelischer Theologie und wird

Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit das fotografische Erbe aus dem Ersten Weltkrieg mit jenem aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist.. Aus einem solchen

Dennoch stellen die Palästinenser und ihre Lager nicht die größte Gefahr für die Stabilität des Libanon dar, wie noch in den siebzi- ger Jahren, als die hochgerüstete und

Ich kann mich nicht mehr an die genaue Zeit erinnern, weiß aber noch, dass die Erschießung in einem Hof stattfand, zu dem man durch eine Einfahrt von der Straße aus kam.. Darüber

Nach Aussage von Mitgliedern der Winkeltaler Widerstandsgruppe in Außervillgraten hatte sie bereits im Herbst 1944 eine Liste mit hundertfünf- zig Fahnenflüchtigen aus dem