Das Werden
der babylonisch-assyrischen Positions-Astronomie
und einige seiner Bedingungen')').
Von Albert Schott.
Meinem Vater Otto Schott
zum 40 jährigen Architektenjubiläum am 24. März 1934 und
meinem Lehrer Petbb Jbnsbn
zum 50jährigen Doktorjubiläum am 15. Dezember 1934.
Das Betrachten und Beobachten der Sterne verdient
nicht eher den Namen einer Wissenschaft, als bis es sich mit
dem Messen von Raum und Zeit innig durchsetzt hat.
1) Außer den in der Zeitschrift für Assyriologie geltenden Ab¬
kürzungen (s. daselbst Bd. 40, 322—324) verwende ich die folgenden:
Erg. = Ergänzungen zum ersten und zweiten Buch von SSB (1913/14)i
GEW=Jbii8bn, Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur (Bd. 1,
Straßburg 1906).
Guide* = British Museum. A Guide to the Babylonian and Assyrian
Antiquities. Third Edition — revised and enlarged (1922).
HAOG* = Alfr. Jbbbmias, Handbuch der Altorientalischen Geistes¬
kultur. Zweite Aufl. 1929.
Hb. = Wbidnbb, Handbuch d. babyl. Astronomie. Leipzig 1915.
KAO = Im Kampfe um den Alten Orient (Bd. 4 v. WEmKBE).
KK = Lantsbbbgeb, Der Kultische Kalender der Babylonier und
Assyrer (LSS 6 I/II), Leipzig 1915.
Kultr(ichtung) = Martiny, Die Kultrichtung in Mesopotamien. Berlin
1932.
Primordl = Giov. Schiapabblli, I Primordt dell'Astronomia presse i
Babilonesi (Sonderdruck aus der Ztschr. Scientia, Vol. 3, Jahrg. 2 1908), N. VI (Bologna 1909).
Rp = Thompson, The Reports of the Magicians and Astrologers of
Nineveh and Babylon. 2 Bde. London 1900.
SSB= KuGLEB, Sternkunde und Sterndienst in Babel. Münster 1907.
1909/10. 1913/14. 1924 (3 Bände).
2) Von der Entwicklung der älteren babylonisch-assyrischen
Sternkunde handelt Schiapabblli's Aufsatz Primordt (s. Anm. 1); kurz
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 303
Wenn für unser Auge die Natur ihre Lichter löscht und
wieder entzündet, so setzt sie zwischen diese Erscheinungen
je die gleichen Spannen der Zeit, oder sie bildet aus den
Längen der Zwischenzeiten ein Auf und Ab, dessen Gestalt
sich immer gleich oder nahezu gleich bleibt. Ihre Hände be¬
schenken uns so mit den wichtigsten Maßen der Zeit.
Nacht und Tag grenzt sie deuthch gegeneinander ab
durch Sonnenaufgang und -Untergang.
Sie entsendet die junge Sichel des Mondes auf ihren Weg:
dann wächst das Gestirn, bis es wieder abnehmen muß und
endlich auch verschwindet; zeigt sich aber bald hernach die
neue Abendsichel, so ist ein Monat vergangen.
Wie sich nun Monat an Monat reiht, geht das Jahr
dahin, vom Frühling durch Sommerglut zu den kürzeren,
kühleren Tagen von Herbst und Winter: das irdische Jahr
spiegelt den Stand der Sonne, nach dem ob sie in der Äquator-
ebene steht oder ob sie nördhch oder südhch davon ihre
Bahn zieht. Die Dauer von einer Frühlingstag- und -nacht¬
gleiche bis zur nächsten beträgt ein Jahr, wir nennen dieses
ein tropisches Jahr. Das ist das Jahr des Bauern und nach
seinem Maß richtet sich der gewaltige Pulsschlag des erd¬
verhafteten Lebens überhaupt.
Es muß das Jahr aber auch dem Erforscher der Sterne
als äußerst wichtiges Zeitmaß erscheinen: verstreicht doch
zwischen Morgenerst und Morgenerst eines bestimmten
Sternes wiederum ein Jahr. So stand etwa dem Regulus im
Löwen die Sonne bis heute so nahe, daß unser geblendetes
Auge ihn nicht sehen konnte; nun aber ist sie weit genug von
ihm hinweggerückt, und so sieht man ihn zum erstenmal
wieder, kurz vor Sonnenaufgang. Mehrere Monate, und die
Sonne wird sich ihm von neuem nähern, ihn schließlich
unsern Blicken entziehen; bis er dann wieder sichtbar wird,
„heliakisch aufgeht", wie heute, ist ein Jahr verflossen. Aller¬
dings währt das siderische Jahr, die Rückkehr der Sonne zu
WwDKBR (Hb If.) und Kuoler (SSB 1,1—3); eingehender Jabtbow,
Die Religion Babyloniens und Assyriens 2, 423 ff. und, die Zeitrichtung
umkehrend, Bezold, SHAW 1911, II.
304 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
demselben Fixstern, etwa zwanzig Minuten länger als das
tropische Jahr, also der Zeitraum z. B. von einer Tag- und
Nachtgleiche des Frühlings bis zur nächsten. Dieser Unter¬
schied von zwanzig Minuten jährlich macht in 72 Jahren
schon einen ganzen Tag aus, in einem Jahrtausend fast
14 Tage, also in zweitausend Jahren nahezu einen Monat.
Dieser Unterschied äußert sich in einer beständigen Verschie¬
bung des Fixsternhimmels gegenüber den Jahrespunkten; so
haben denn auch die Menschen des 3. Jahrtausends v. Chr.
die Frühlingssonne im StembUd des Stiers gesehen, die des
2. sahen sie im Widder; etwa seit Christi Geburt steht die
Frübhngssonne in den Fischen; künftige Jahrtausende werden
sie im Wassermann sehen usf. Dementsprechend wandert
auch der Himmelspol durch mehrere Sternbilder, in einem
Kreise, zu dessen Vollendung er rund 26000 Jahre braucht»).
Dieser Vorgang, die Präzession, konnte zunächst gar
nicht bemerkt werden. Denn so machtvoll auch seine Aus¬
wirkungen im Lauf der Jahrtausende sind — der Mensch ist
vor ihnen eine Eintagsfliege; die Maßstäbe seines Alltags sind
da ganz unzulänglich. Um zu erleben, daß der Fixsternhimmel
sich gegen die Jahrespunkte um 1° verschiebt, d. h. um etwa
zwei Sonnendurchmesser, muß er über 70 Jahre alt werden.
In einem Jahr beträgt die Verschiebung etwa 50 Bogen¬
sekunden, das ist nicht anders, als ob irgendein Gegenstand,
den ich in einem Abstand von 3V2 m beobachte, sich während
eines Jahres um 1 mm seitlich verschiebt. Unter diesen Um¬
ständen, und nach dem, was wir sonst wissen, ist es aus¬
geschlossen, daß bereits das 3. Jahrtausend die Präzession
entdeckt hätte.
Auf einer so frühen Stufe bedeutet es schon eine Forscher¬
tat von hohem Rang, überhaupt zu erkennen, daß die Be¬
wegung des Fixsternhimmels eine jährliche ist. Wie kam jener
Mann einer unbekannten Vorzeit, von niemand belehrt, zur
Einsicht, daß ahe Verhältnisse am Fixsternhimmel sich in
Abständen von gerade einem Jahr wiederholen? Auf der
1) S. Abb. 120 und 150 in H.\OG» (S. 204 und 234).
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 305
Fährte des Nützhchen kann er dahin nicht gelangt sein, son¬
dern es mußte schon etwas wie selbstlose Sachlichkeit, Un-
ermüdhchkeit im Beobachten der Natur und die Geisteskraft
eines genialen Denkers in einer Person zusammentreffen, um
diese ebenso einfache wie bedeutende Entdeckung zu zei¬
tigen»). War sie dann erst in den Wissensschatz der Mit- und
Nachwelt übergegangen, so gehörte herzlich wenig dazu, sie
nachzuprüfen; und es wird hier nicht anders gegangen sein,
als es auch sonst mit einem Ei des Kolumbus zu gehen pflegt:
die Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, machen nach¬
träghch meist keinen großen Eindruck mehr, und die Lei¬
stung, die sie herausgefordert haben, wird demgemäß weithin
unterschätzt.
Das Wissen vom Gleichtakt der Erde und der Sterne ist
nicht abseits geblieben, sondern man hat es eingreifen lassen
in Baukunst und Wirtschaft, in Götterlehre und Mantik.
Darin lag allerdings auch der Keim für eine schwere Erschüt¬
terung, die unweigerlich durchs ganze Gebäude babylonisch¬
assyrischer Geistigkeit ging, wenn man einmal wahrnahm,
daß die jährlichen Sonnenörter von ihrem vermeintlich festen
Stand am Firmament abgeglitten waren.
Ohne jede Vorahnung von solchen Möglichkeiten hat
man im Zweistromland wohl schon des 3. Jahrtausends für
die Richtung der Tempel eine Regel wie diese festgesetzt:
Hast du einen Tempel zu bauen, so beginnst du zur Zeit des
Neujahrsfestes, d. h., wenn nach der Tag- und Nachtgleiche
du den Mond zum erstenmal wieder erblickst. Vor Sonnen¬
aufgang zeichnest du den Grundriß des Tempels auf den Erd¬
boden. Dabei verleihst du der Hauptachse die Richtung auf
den und den Stern (oder Richtkreis am Himmel).
Hiernach hat man jahrhundertelang gehandelt, wobei
allerdings die Richtung der assyrischen Tempel (ungefähr NW)
von der in Babylonien üblichen (ungefähr SW) um etwa 90°
abwich. Weh jedoch bei beiden Ländern für ahe Tempel
jeweils derselbe Fixstern maßgebend war, meinte man wohl
1) Vgl. ScHiAPARELLi, Primord!, S. 3.
2 i
306 A- ScnoTT, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
alle Tempel gleichmäßig ausgerichtet zu haben. Aber die
Präzession machte unverhofft und im geheimen einen Strich
durch diese Rechnung. Sie heß den Richtstern von Neujahr
zu Neujahr seinen Stand gegen die Sonne ändern, wenn auch
jedesmal fast unmerklich; und die Tempel sind dem gefolgt:
die Achsen der jüngeren sind nämlich im Vergleich zu denen
der älteren gegen den Uhrzeigersinn gedreht. Das alles ist
vom Architekten Martiny erkannt») und vom Astronomen
P. V. Neugebauer für stichhaltig erklärt worden*).
Es ist seltsam und beklagenswert zugleich, daß zu dieser
Sache die Inschriften sich so gut wie niemals äußern. In
älterer Zeit bricht nur Gudea das Schweigen. Ihm ward, so
erzählt er, im Traum befohlen, den großen Tempel des Stadt¬
gottes neu zu erbauen. Die Göttin Nisaba, welche den Sinn
der Maßzahlen kennt*) — sie selbst war ihm da erschienen,
und kündete ihm den „heüigen Stern des Tempelbaus"*);
ein Gott namens Nindub entwarf den Plan des Heiligtums
auf einer Tafel aus blauem Stein *). — Man hat, wahrscheinhch
mit Recht, in diesen Worten ein unmittelbares Zeugnis dafür
gesehen, daß die altbabylonischen Tempel — sagen wir lieber:
daß wenigstens dieser Tempel — nach einem Stern hin aus¬
gerichtet wurden«). Nicht anders hat man dann wohl die
Rede zu verstehen, mit der sich der Tempelgott selbst an
Gudea wendet: „Fürs Bauen meines Tempels wih ich ein
Zeichen dir geben, durch meines Kultbrauchs Stern, (der am)
heiligen Himmel (steht), will ichs dir künden')." — Mehr
erfahren wir nicht*): uns verraten die beiden Gottheiten
1) GüNTKB Martiny, Kuitrichtung; ders.. Zur astron. Orientation
altmesop. Tempel, in der Ztschr. Architectura 1 (Bln. 1933), 41—45.
2) P. V. Neuobbacer in der Vierteljahrsschrift der Astron. Ges. 69 (Leipzig 1934), 68--78.
3) SAK 110/11, tt.
4) SAK 94/95, 5, n bis 6, t.
5) SAK 94/95, 5,»L; 6,4f.
6) Mabtiny, Kultrichtung 25. Dem Sinn der betr. Stellen war
schon Weidneb nahegekommen (OLZ 1913, 53 f.; KAO 4, 2 f.)
7) SAK 98/99, 9,tL
8) Der Sonnenaufgang in Gudeas Traum (SAK 94/95, 4, n) ist
ein SinnbUd für Gudeas Schutzgott Ningizzida (ebda. 5, itf.); SAK
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 307
weder den Namen des heiligen Sterns, noch sagen sie uns,
weshalb nach ihm und nach keinem sonst Gudea sein Bau¬
werk zu richten hatte.
Der Astronom wird aber immerhin ermessen können,
wie viel oder wie wenig die sumerischen Tempelbauer von den
Sternen im einzelnen wissen mußten, ehe sie ihre Orienta-
tionsregeln festsetzen und handhaben konnten. Was die
schriftliche Überheferung betrifft, so haben Schiaparklli und
Thurkau-Dangin hervorgehoben, daß uns kein Beispiel eines
sumerischen astrologischen oder astronomischen Textes
erhalten ist»). Der Satz gilt noch heute; hinzuzufügen wäre,
daß (mit Ausnahme etwa einiger alter Mondfinstemis-
omina«)) auch von sumerischer Astrologie sich keine Spur
entdecken läßt. Der Schluß hegt nahe, es möchten Sternkunde
und Sterndeutung erst dank den Akkadern zu ihrer reichen
100/101, 10,17 scheint das Neulicht eine Festzeit zu kennzeichnen; und
wenn SAK 124/25, 3, »-» vom Neujahrsfest die Rede ist, so als von der
Zeit, zu der Ningirsu in seinen neuen Tempel einzieht. Wohl keine dieser
Stellen gibt einen Hinweis auf die Zeit der Tempelorientation. SAK
112/13, 21, «f. u. 212/13C, l,if. (SHAW 1911, 11,57) ergeben hier erst recht nichts.
1) ScHiAPABELLi, Primordi 42; Th.-D., RA 25, 188. Von dem, was
nach Wbidneb (KAO 4, S. If.) dafür zeugen soll, daß man „schon in
den Tagen des Lugalanda und Urukagina", also um —2800, den Sirius
„systematisch beobachtet und den siebenten Monat des damaligen Ka¬
lenders als denjenigen bezeichnet, in dem der Sirius heliakisch aufgeht", ist, gegen Mahleb, ZA 34, 65, nichts beweisend. Zur Widerlegung genügt der Hinweis auf Landsbeboeb, KK 41 (>).
2) Schoch hat davon in bemerkenswerter Weise gehandelt (Astro¬
nomische Abhandlungen. Ergänzungshefte zu den Astronomischen
Nachrichten, Band 8, Nr. 2, B 6—8). Wenn im übrigen astrologische
Omina auf Geschehnisse aus dem Leben Saigons von Akkad (s. Wbidnbb,
MAOG 4, 231 D) und Ibi-Sin's (ebda. 236 A) gedeutet werden, so könnte diese Beziehung apokryph sein, auch dann, wenn sich die berichteten
Ereignisse als geschichtlich erweisen lassen (s. Ungnad, BA 6 V, 17).
Daß das Omen in Rp. 200 erst nachträglich auf Nebukadnezar I. be¬
zogen worden ist, kann aus sachlichen und formalen Gründen nicht
bezweifelt werden. Vgl. MAOG 4, 238 A7. Die Omina, mit denen andere
als die genannten drei Herrscher in Verbindung gebracht werden (Hb. 2), sind nichtastrologischer Art (MAOG 4, 226f.).
308 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
Entfaltung gelangt sein»). Dagegen hat man wohl einge¬
wandt*), daß zu allen Zeiten der Kehschriftkultur die meisten
Sterne und Sternbhder sumerische Namen führen. Wohl!
Aber nicht alles, was im nachsumerischen Zeitalter einen
Sumerermantel trug, hatte ein Anrecht darauf kraft seiner
Herkunft aus Geist, Geblüt und Zeit des echten Sumerer-
tums. Jedenfahs erst nach dem Zusammenbruch des spät-
sumerischen Reichs lassen sich Sternnamen und Sternbild -
namen belegen*).
Er muß ein Phantast sondergleichen, ein Geisterseher
tollster Art gewesen sein, jener Mann, der die flimmernde
Wölbung mit fratzenhaften Bildern übermalt und in ihnen
die Götter der Nacht erschaut hat. Nun sah er in all seinen
Nächten funkelnde Menschen, Tiere und Mischgestalten am
schwarzen Himmel gemeinsam kreisen, Männer und Weiber,
Lebewesen und tote Dinge*), ein Durcheinander ungeheurer
Gesichte, von ahen Schauern des Unbegreiflichen umwittert.
Wohl niemand wird je erfahren, wessen Gehirn sich all diesen
Spuk erzeugt hat, dies aber wissen wir, daß sehr viele von
seinen Ausgeburten bis auf den heutigen Tag, der Jahr¬
tausende spottend. Ort, Gestalt und Namen am Himmel be¬
hauptet haben.
1) Schiapabblli, Primordl 42. Positive Gründe dafür hat Bbzols,
SHAW 1911, II, 38. 45. 48 f. 53 aufgestellt. Sie müßten aber einer
Einzelkritik unterzogen werden.
2) ZA 36, 83.
3) Daß sumerische Stemnamen an und für sich keinen Rück¬
schluß auf eine sumerische Sternkunde erlauben, hat schon Schia¬
pabblli, Primord!, S. 26f., betont. Jene „scheinen vielmehr künstlich zu sein".
4) Vgl. die von Weidnee veröffentl. (AfO 4, 73—85) Beschreibung
des nördlichen Sternhimmels, die allerdings jung ist (1. Jährt.), was
daraus hervoigeht, daß sie dem Sternbild des Krebses schon seine
heutige Lage gibt, während die alten Texte (z. B. die Zwölfmaldrei)
mit dem Namen Krebs ein Sternbild nahe der Wassergegend des Him¬
mels bezeichnen, wahrscheinlich dasselbe, das ein junger Text (Mul
Apin) „Pferd" nennt (unser Pferdchen: s. Küolee, SSB, Erg. 59). Vgl.
noch ASGW. 42 VI, 121.
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie. 309
Ein Gebet an die Götter der Nacht»), aus Uruk-Warka,
in akkadischer Sprache, gehört zu den ältesten Zeugnissen
für Sternbhdnamen : es mag im ersten Viertel des 2. Jahr¬
tausends abgefaßt sein. Auf etwa der gleichen Altersstufe
dürfte der ebenfalls akkadische Text Jena HS 229") (aus Nip¬
pur) stehen; auch er enthält eine ganze Reihe von SternbUd-
namen, besonders wertvoll aber ist er in unserem Zusammen¬
hang deshalb, weh er zu erkennen gibt, wie ein Mann jener
Zeit sich den Bau des Weltalls gedacht hat. Himmel über
Himmel setzend, wie ein Baumeister Stockwerk auf Stock¬
werk, so türmte er gewissermaßen einen Stufentempel in die
Sternenräume hinein (vgl. Abb. 5). Um 19 Einheiten, heißt
es da, sind die Plejaden uns ferner als der Mond ; um 17 Ein¬
heiten der „Hirt des Anu" (Orion) uns ferner als die Plejaden;
und so immer weiter Sirius, „Bogenstern" {d und andere im
Großen Hund), Arktur, Skorpion und das „Äußerste" {an-
tagub) um 14, 11, 9, 7, 4 Einheiten. Der wahre Abstand vom
Mond bis zum „Äußersten" betrage zweimal 60 Doppel¬
stunden (das sind in unserem Maß 1200 km); hiernach werden
alle die erwähnten Abstände ausführlich umgerechnet, vom
Verhältnismaß in Doppelstunden*).
Wir müssen sagen: ohne Hhfe der Physik den Stern¬
himmel in der Tiefenrichtung ermessen zu wollen — daraus
konnte nichts werden und ist auch nichts geworden, ab¬
gesehen vieheicht von Einflüssen auf hellenistische und son¬
stige Vorstellungen über die Planetensphären*). Ebensowenig
konnte es viel Nutzen stiften, daß man etwa in derselben Zeit
1) SiLBico in Izvestija Rossijskoj Akademii Istorii Material'noj Kul'tury 3 (Petersb. 1924), 144—152.
2) Unveröffentlicht; mir durch eine Abschrift Otto Nbdobbaubrs
bekannt geworden. Einen Auszug daraus hat Hümmel 1908 in Um¬
schrift mitgeteilt; diesen spärlichen Angaben wußte nur Thukeau-
Danoin den wirklichen Sinn des Ganzen abzugewinnen (RA 28, 85ff.).
3) Es wäre falsch, nicht hervorzuheben, daß das Anliegen des
Textes ein mathematisches, nicht ein kosmographisches ist. Es handelt
sich um eine Verteilungsrechnung (s. Otto Neuoebaueb, Quellen und
Studien zur Geschichte der Mathematik, Abt. B, Studien, 12, 120ff.).
4) S. Hb. 75'; HAOGH37; und nicht zuletzt RA 28,87.
Zeitacbrift d. D.U.a. Neue Folg« Bd. xm (Bd. 88) j|3
1 •
310 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie.
und Gegend eine Reihe von wichtigeren Sternnamen listen¬
mäßig zusammengefaßt hat»). Solch ein Verzeichnis, als
Form gelehrter Darstellung dem Babylonier so angemessen
wie uns die Abhandlung"), vermochte die Sternkunde nur
dann zu fördern, wenn seine Anordnung von der Sache selbst
diktiert war.
Die Vereinheitlichung des Alten Zweistromlandes, den
letzten Sumerern auf dem Thron nur noch eine Aufgabe,
keine Frage mehr — ein übermächtiger Zug der Zeit, dem es
auch kaum Abbruch tat, daß das Land hernach für sieben
Menschenalter unter die beiden Königreiche von Isin und
Larsa aufgeteilt war; diese Vereinheitlichung des Zweistrom¬
landes, von Hammurapi in jahrzehntelanger Kriegführung
und Arbeit einer durchdachten Lösung wesentlich näher
geführt — sie ließ auch die früher sehr zahlreichen örtlichen
Kalender verschwinden zugunsten eines Landeskalenders,
der aus Nordsumer (Nippur) oder aus Akkad (Sippar)
stammte, nun in Babylonien für zweitausend Jahre Geltung
gewann*) (zunächst jedoch nicht in Assyrien), und noch heute
in den jüdischen Monatsnamen fortlebt.
Dieser Kalender ist es, dem das sogenannte Astrolab*)
(Abb. 2) in der Benennung der sämtlichen 12 Monate folgt.
Hinweise auf einen Ursprung etwa gerade in Nippur oder in
Sippar bietet das „Astrolab" uns keineswegs, und so ist seine
Entstehung wohl frühestens in die Zeit von Isin und Larsa
zu versetzen. Es selbst wieder wird vorausgesetzt vom großen
Sternverzeichnis K 250*) wie auch von Enuma Anu Enhl"),
1) Chikba, Sumerian Lexical Texts (1929) Nr. 214. 236. 237.
S. Babyl. 13 (= Ch. F. Jean, Lexicologie sum6rienne, p. 69f.).
2) Landsberoeb, Islamica 2, 368 und 370.
3) Landsbeboeb, KK 22f.
4) S. SSB l,228ff.; 2, 12L; Erg. 201«.; Weidneb, Hb. 62«.
5) Hb. 6—18; vgl. Küglbr, SSB, Erg. 206; auch Hb. 68, wo je¬
doch unbegründete Versuche folgen, die Überlieferung zu „berich¬
tigen".
6) Virolleaud, L'AstroIogie Chald6enne, Paris 1908—12. Im be¬
sonderen daselbst Ishtar XXV, «f. = IIIR53, nL, dazu Kdolbb,
SSB 1, 235.
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 311
dieser Riesensammlung astrologischer Omina. Man hat es
mindestens während eines Jahrtausends immer wieder ab¬
geschrieben, mit Zusätzen und Erweiterungen versehen; bei¬
nahe allem, was wir vor dem 6. Jahrhundert an Astrono¬
mischem kennen, hat es als Kristallisationspunkt gedient.
Das wird sofort verstehen, wer erwägt, daß es sich hier
um eine Bahnbrecherleistung handelt. Man hat sich über das
Verhältnis des Sternhimmels zum ganzen Jahr Rechenschaft
ablegen wollen und das Ergebnis zum erstenmal in einer über¬
sichtlichen Zeichnung festgehalten: Ein Kreis») mit zwölf
gleichgroßen Sektoren, am Rande fortlaufend mit den
12 Monatsnamen bezeichnet; in jedem Sektor die Namen
dreier Sterne, weshalb auch die ganze Darstellung von den
Assyrern „Die je drei Sterne" genannt wurde"). „Zwölfmal¬
drei" wäre genauer und für uns bequemer*).
Manche dieser Sterne gingen in den Monaten, denen sie
zugewiesen sind, heliakisch auf; in anderen Fällen ist diese
Erklärung nicht am Platze, indem der Stern da einen Monat
zu früh oder zu spät säße, und die Planeten Venus, Jupiter,
Mars und Merkur, die im 1., IV., IX. und XII. Monat unter¬
gebracht sind, fügen sich ihr grundsätzlich nicht.
1) Diese Form ist allerdings nur in zwei späteren Abschriften er¬
halten, deren eine von Nabü-zuqup-oi.NA (8. Jahrh., s. u. S. 324ff.) her¬
rührt. Es ist schwer zu entscheiden, ob wir den Kreis oder die Liste für die ursprüngliche Form der Zwölfmaldrei zu halten haben. Fürs erstere
könnte sprechen, daß die Kreis-Abschriften die Monatsnamen in alter¬
tümlicher Weise voll ausschreiben, während die meisten der in Listen¬
form gehaltenen die Monatsnamen abkürzen, wie das in verhältnis¬
mäßig junger Zeit das Übliche ist. Vgl. aber CT 26, 49, S 1125.
2) Rp. 152, Rs. «. Die Übersetzung des Abschnitts bei Jerkmias
HAOG^ 39(') ist fehlerhaft: e?eru heißt „bilden, abbilden", nicht „ver¬
schließen" (dies = eseru). In ZI. > sollen die „je drei Sterne" auf eine Holztafel gemalt werden; laut Rs. 2 soll dem König eine Holztafel mit
einer Abschrift aus der Serie Enuma Anu Enlil vorgelegt werden. Es
ist weder von einem assyrischen noch von einem sumerischen Exemplar
die Rede, wohl aber von einem akkadischen der Zwölfmaldrei. Vgl.
auch Enuma Elis V, 4 und dazu Pinches, JRAS 1900, ;572f. (später
auch Küoleb, SSB 2, 12 f. und Weidner, Hb. 62).
3) Diese Anordnung zu zwölfmal drei ist von der ägyptischen
Dekaneinteilung ganz verschieden.
23*
312 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
Eine einheitliche Deutung der Zwölfmaldrei scheint dem¬
nach unmöglich»). Aber auf die Ausgeglichenheit, dies Zeichen
der Reife, kommt es am Anfang einer Entwicklung auch gar
nicht an. Gut, daß ein Anfang gemacht wurde, an den sich
vieles anknüpfen ließ.
Es kann sein, daß die Zwölfmaldrei lediglich als ein
Mittel zu astrologischen Zwecken gedacht sind. Aber worin
bestand denn die Wahrsagerei?") Zunächst regelmäßig in
einer Naturbeobachtung — damit war der Wissenschaft in
unserem Sinne jedenfalls schon ein Dienst erwiesen. Die Be¬
obachtung wurde sodann mehr oder weniger bewußt danach
beurteilt, ob sie dem normalen Bild der Erscheinung ent¬
sprach oder nicht: das nötigte zu verschärftem Beobachten,
zum Aufstellen ganzer Beobachtungsreihen und zur Klärung
der Begriffe — alles Dinge, die die Herausbildung einer
Wissenschaft nur sehr günstig beeinflussen können. Die
meisten der damals angehängten Deutungen der Zukunft
müssen uns freilich durchaus ungereimt und willkürlich vor¬
kommen.
Das ist aber doch nur bedingt richtig. Indem man immer
wieder von gewissen Beobachtungen auf ähnliche Zukunfts¬
vorgänge schloß, hatte man sich daran gewöhnt, mit Ana¬
logieschlüssen zu hantieren und sich damit auch unvermerkt
Grundsätze zu ihrer Anwendung erarbeitet, an die man sich
ziemlich folgerichtig hielt. Die Ähnlichkeiten allerdings, auf
die man sich da stützte, waren meist ohne wesenhaften Sinn,
konnten deshalb auch keinen Zusammenhang untereinander
gewinnen; wo Ähnlichkeiten fehlten, da hielt man sich an
völlig grundlose Entsprechungen, Kinder der freiesten Whlkür
oder eines gewalttätigen Scharfsinns').
1) Vgl. SSB, Erg. 203f.
2) Zum folgenden s. SSB 2,10—24; 53—71; 89—91; 95—128.
In einem anderen Sinne wäre hier Jeremias HAOG*, 251 f., zu nennen —
nur schade, daß einige echte und bedeutende Erkenntnisse durch reine
Traumgespinste überwuchert und so der Sicht fast ganz entzogen sind.
3) Doch sollte man bei derlei Urteilen Vorsicht walten lassen:
vgl. den Rückblick von Bbzold, Abh. Bay. Ak. Wiss., ph. hist. Kl. 801 (1916), S. 97 f. und die daran anschliessende Abhandlung.
Abb. t. Sirius um -3000 als „Wahrer der Symmetrie"?
Der Richtkreis geht damals durch den Nordpol, aU Meridian 136°/316°. — Nach einer Zeichnung von G. Mabtwt.
Abb. 2. Die Zwölfmaldrei („Astrolab-').
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie. 313
Aber eben diese Unsachlichkeiten geben uns Einblick in
das Innere dieser Menschen. Werden die normalen Befunde
immer wieder auf eine günstige eigene Zukunft gedeutet, die
abnormen zugunsten des Fremden, des Feindes ausgelegt»),
80 ist damit schon ein Standpunkt eingenommen, von dem
aus schlechthin die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens längs
einer Freund-Feind-Grenze aufgespalten erscheint. Dabei
verdient besonders bemerkt zu werden, daß z. B. die astrolo¬
gischen Omina ausnahmslos reine Staatsangelegenheiten be¬
treffen und niemals auf private Verhältnisse bezogen werden.
„Dies Zeichen", so heißt es einmal, „gilt nicht für einen
Hausherrn, sondern für das ganze Land""). Das „Land"
(mätu) : das ist nicht irgendein unbestimmtes Land *), sondern
der Bereich der damaligen Zivhisation, der Inbegriff eines
friedlich, gesetzlich geordneten Weltteils. Ihn umgibt der
„Feind" (nakru) : aus Wüsten und Gebirgen kommen plötz-
hch seine unbegreiflich whden Krieger, unbekümmert um die
Gesetze morden und plündern sie im „Weltreich" (kiiSatu),
und ehe dessen König genügend Truppen zu ihrer Bekämp¬
fung zusammenzog, sind sie meist schon in grausige Wüsten
und Berge entwichen, und haben in diese Unermeßlichkeit,
in diese schwindelnden Höhen und Klüfte Männer und
Weiber, alt und jung als Sklaven mit sich geschleppt*).
Über der Ordnung des „Landes" wachen die „Götter
des Landes" (Sonne, Mond, Ad ad und Venus werden als
solche genannt)*) — wenn sie wachen; nachts aber schlafen
1) Vgl. etwa Rp. 17, Rs. if.
2) Rp. 200,». Daß man die Himmelsomina nicht auf Einzel¬
menschen oder -Ortschaften, sondern auf die Allgemeinheit bezog, ist
schon von Schiaparw-li, Primordt 43, angemerkt worden. Ob seine dort
gegebene Begründung nicht doch zu rationalistisch ist?
3) Diese Tatsache ist zuerst von Wbidnbb, AfO 3, 69(') bemerkt, aber nicht vollkommen und in ihrer Tragweite erkannt worden. Darüber
ausführlicher in der ersten Nummer der Zeitschrift „Die Welt aJs
Geschichte".
4) Der „König, der sein Land nicht zu verteidigen weiß" als
Gegenstand der Dichtung: AOTB», 233.
5) Im Gebet an die Götter der Nacht, s. 0. S. 309, Anm. 1.
314 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
sie, und diese Zeit gehört dem Unheimlichen, Unberechen¬
baren, Teuflischen, verkörpert im Schweigen der Gräber und
Sterne. Was man demgegenüber von guten Mächten erwartet,
wird in einem Omen lebhaft und in sehr bezeichnender Weise
geschildert: „Geht Jupiter auf (und zwar zur rechten Zeit),
so sind die Götter gnädig. Verworrenes hellt sich auf, das
Trübe klärt sich, der Regen kommt und auch die Flut . . .
Die Feindesländer halten Ruhe; die Götter nehmen Opfer an,
das Beten hören sie, dem Seher geben sie auf sein Orakel
Antwort»)." Ein anderes: „Erscheint am 14. Tag (der Mond)
mit der Sonne (in Opposition) — so schleift man die Fe¬
stungen, steigen die Wächter herab (von den Türmen), Ge¬
horsam und Huld sind im Lande vorhanden")."
Die Zahl der astrologischen Omina der Babylonier ging
fraglos in die Zehntausende*); ihre mündliche und schriftliche
Überlieferung wie auch die Weitergabe der Geheimnisse der
Ölschau, der Rechenkunst usf. erfolgte im vornehmen*)
Kreise der „Seher" (bärü), der „Hüter der Geheimlehre der
Großen Götter"*). Den Halbgott Adapa machte man wohl
1) Rp. 186, Rs. »-lo; i«7,7-Rs. 4. Von allem das Gegenteil tritt
ein, wenn Jupiter mit seinem Aufgang verzieht: Vir. ACh., 2. Su.,
LXII.off.
2) Rp. 48, 6-*.
3) 4105 Tontafelbruchstiicke astronomisch-astrologischen Inhalts
hat Bbzold seinerzeit unter den Schätzen des Britischen Museums
registriert, davon 2651 Stücke mit astrologischen Omina (Bbzold,
SHAW 1911, II, SS"'). Wenn wir bei Jebemias (HAOG^ 253) lesen:
„Es gibt etwa 25 0000 Keilschriftfragmente astrologischer Art (nach
der Zählung C. Bezolds)", so ist das zuviel des Guten (Druckfehler?). —
Nach Weidneb, Hb. 126*, umfaßte die Serie Enuma Anu Enlil 107 Ta¬
feln. Nun enthielten vollständige Tafeln in der Regel etwas über
100 Omina; also mag diese Serie einst ungefähr 12 000 Omina umfaßt
haben. Höchstens ein Drittel davon ist erhalten bzw. veröffentlicht
(Schätzung auf Grund von Virolleauds ACh). Es gab auch noch
mehrere andere astrologische Serien: s. Jastrow, RBA 2,543', 687*;
Bbzold, SHAW 1911, II, 45, und Weidner, Hb. 126«. Man wird kaum
zu hoch greifen, wenn man annimmt, daß der Rahmen dieser Serien
insgesamt über 80000 Einzelomina umschlo.ssen hat.
4) Schrank, Sühnriten (LSS, 3 1, 1908, 4f.).
5) Zimmern, BKBR, Rit. 24, le-i».
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 315
zum Urheber wenigstens des astrologischen Hauptwerks »). —
In Wahrheit scheinen gewisse Bestandteile desselben, d. h.
der Serie Enuma Anu Enhl, mindestens aus dem 23. Jahr¬
hundert V. Chr. zu stammen, während die jüngsten vielleicht
um acht Jahrhunderte jünger sind"), dann also der Zeit von
Amarna angehören würden. Einem so langwierigen Wachs¬
tum entspricht denn auch eine geradezu maßlose Fülle von
Aussagen über den Mond und die Sonne, über die Planeten
und die Fixsterne, sowie über das Wetter. Solch eine Fülle
diente zugleich einem Bedürfnis jener Zeit, die es trieb, das
Verhalten der Naturmächte in der größten erreichbaren
Breite darzustellen, ahe erdenklichen Möglichkeiten desselben
zu erschöpfen*).
Aus der schier endlosen Reihe ungenauer Angaben ragen
die Venusbeobachtungen hervor, die vom ersten bis zum
letzten Regierungsjahr des babylonischen Königs Ammiza-
duga (um 1800) reichen*); zwar sind sie als Omina für das
„Land" benutzt, aber in bezug auf Sorgfalt und Genauigkeit
der Aufzeichnungen kann ihnen in der vorhergehenden Zeit
nichts an die Seite gestellt werden, und in den darauffolgenden
1000 Jahren auch nichts. Was es mit dieser aus dem ge¬
schichtlichen Rahmen fallenden Erscheinung für eine Be¬
wandtnis hat, vermag ich nicht zu sagen*).
1) ZA 37, 92, b 2.
2) Vgl. etwa (mit Stbbck, ZA 27, 287; s. auch Klio 6,193) die
Erwähnung der Ahlamfi, anscheinend innerhalb des Kanons (Vir. ACh,
2. Su. XIII a, im). Über Züge, in denen die astrologischen Keiltexte mit
dergammurapizeit zusammenstimmen, s. Ungnad, BA 6 V, 17 ff. Dennoch
verdient Bbzold Dank dafür, daß er auch in diesem Zusammenhang
einer assyriologischen Unsitte kritisch entgegentrat (SHAW 1911,
II, 43f.), der heute freilich nur noch wenige frönen: nämlich jenes „gol¬
dene Zeitalter der babylonischen Literatur" ungefähr für sämtliche
Erzeugnisse der Keilschriftmusen verantwortlich zu machen. Seine
meist negativen Gründe bedürfen allerdings noch genauer Nachprüfung.
Vgl. auch Ed. Mbybb, SPAW 32 (1908), 648fL
3) Schott in Clemens Religionen der Erde (1927), S. 49—51.
4) Lanodon-Fothbbingham, The Venus Tablets of Ammizaduga
Oxf. Univ. Press 1928 (dazu besonders auch O. Nedoebaubb, OLZ 32
[1929], 913«.). 5) Auch SSB 2, 23 enttäuscht den Historiker.
316 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
Jedenfalls muß das Werk Enuma Anu Enlil als Ganzes
eine gewaltige Wirkung auf die Mit- und Nachwelt ausgeübt
haben; so hat man doch Stücke hethitischer Übersetzungen
davon in Kleinasien gefunden»); ein anderes Stück ist in
Susa ans Licht gekommen"). Und es ist vielleicht wenigstens
zum TeU auf den Eindruck der astrologischen neydkri avv-
raiig zurückzuführen, wenn die babylonischen Könige der
Zeit von 1500 bis 1000 ihren Belehnungsurkunden die Götter,
die sie als Schwurzeugen anriefen, regelmäßig in ihrer Stern-
bUderscheinung aufmeißeln heßen*) (Abb. 3).
Inzwischen regt es sich bei den Assyrern. Im 14. Jahr¬
hundert nimmt der eine oder der andere ihrer Herrscher den
Titel „König des Weltreichs" an (Sar kissati)*), der auch sehr
oft im Enuma Anu Enhl vorkommt. Salmanassar I. (um 1270)
erneuert den Assurtempel von Grund auf und setzt dort die
Götter von Ekur ein") — Ekur aber ist der Tempel des Enlils
von Nippur'), des Länderherren, von dem der Glaube der
Zeit alle Herrschgewalt ausgehen heß. Für EnlUs Sohn Nin¬
urta, den Gott des Sirius, gründet Salmanassar eine Stadt,
Kal^u'), und nennt seinen eigenen Sohn Tukulti-Ninurta,
1) WsroiisB, AK 1, 1—12; 59—69.
2) Schbil, RA 14 (1917), 139—142.
3) Vgl. Bbzold, SHAW 1913 XI, 53 und Stbinmetzbb, Studien
z. Gesch. u. Kult. d. Altertums, Bd. 11 IV/V. Von einer Bevorzugung der Ekliptikalgestirne kann dabei keine Rede sein (Stbinmetzbb a. a. O.
S. 203f.). Zu beachten noch Weidnek in Babyl. 6, 216f(.; sodann auch
desselben Meinung (MAOG 4, 240), daß im 3. und 2. Jahrtausend die
Opferschau ein größeres Gewicht gehabt habe als die Astrologie, daß
aber im 1. Jahrtausend die letztere an Bedeutung ständig zugenommen habe.
4) Vgl. Ebblmo, Meissneb, Weidnbr, Die Inschriften d. altass.
Könige (1926) 73".
5) Ebda., etwa S. 132/33, Nr. 3, t-u. Salmanassar I. braucht,
nebenbei gesagt, als erster den Vergleich : „(die Feinde) kennen wie die Fix(l)sterne (kakkab Sami) keine Zahl" (ebda. S. 118/19, sf.). Für kakkab Same „Himmelssterne" als Fachausdruck für „Fixsterne" s.
Bbzold, SHAW 1913, XI, 44 u. etwa Vir. ACh., Isht. XXV, 4a.
6) S. zuletzt Tallqvist, Sum. -akk. Namen der Unterwelt (Hel-
singf. 1934), S. 27 ff.
7) Vgl. ebda, S. 112/113» mit AKA 244 if.
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 317
„Meine Hilfe ist Ninurta". Vorher hat kern Assyrerkönig in
seinem Namen den Namen dieses Gottes geführt — von nun
an ist das etwas ganz Gewöhnhches. Um 1100 ühemimmt |
Tiglatpilesar 1., der übrigens auch einen Ninurta-Namen |
trägt („Meine Hhfe ist der Sohn von Eäarra", nämlich Ni¬
nurta), den babylonischen Kalender für Assyrien»), wo bis
dahin ein reiner Mondkalender gegohen hat, ohne Schalt¬
monat "), ähnlich dem rehgiösen Kalender des Islams. Gleich¬
zeitig») taucht der erste assyrische Beleg für die Zwölfmaldrei
auf, und zwar in Assur selbst*).
Wir erkennen sie aherdings kaum wieder. Nicht nur
haben sie die Kreisgestalt mit der Listenform vertauscht»),
sondern es kommt dies hinzu, daß ahe die früheren Rand¬
sterne jetzt den Zusatz „des Ea" erhalten, während die mitt¬
leren und die innersten dem Anu bzw. dem EnlU geweiht
sind*). Femer finden wir die ebenso bestimmte wie falsche
Angabe, daß die je drei Sterne in dem ihnen vorgesetzten
Monat heliakisch aufgehen, um nach jeweils 6 Monaten
hehakisch unterzugehen'). Vor allem sind den Zwölfmaldrei
zwei längere durchaus neue Abschnitte vorgefügt, deren
erster die astrale, landwirtschaftliche und kultische Bedeu¬
tung der 12 Monate kennzeichnet»), während der zweite erst
die gegenseitige Lage von 12 Easternen zu beschreiben ver¬
sucht und dann dasselbe für je 12 Sterne des Anu und des
Enhl untemimmt*).
Obgleich oder gerade auch weil der erste Abschnitt
zweisprachig, sumerisch-akkadisch, gehalten ist»'), wodurch
1) KAH 2, 73, Rs. f, dazu Ehklolp u. Landsbbbobb, ZDMG
74, 217«.
2) WEmNBB, AfO 5 (1928/29), 184 f.
3) Nach der Schrift zu urteilen; s. auch Hb. 64. 65«.
4) KAV 218, dazu Hb. 66 f.; 76—79; 85—87.
5) S. indes o. S. 311, Anm. 1.
6) Hb. 66.
7) Hb. 66, M— 67, M.
8) Hb. 85—87.
9) Hb. 76—79. Formales Vorbild etwa Vir. ACh, Isht. XXV, «.ff.
10) Das Sumerisch ist schlecht (die Präfixe fehlen oft dort, wo sie unentbehrlich sind u. a. m.).
318 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
wohl der Eindruck möglichst hohen Alters erzeugt werden
sollte, spricht sein Inhalt stellenweise um so mehr dafür, daß
er nicht viel älter ist als seine Niederschrift»), die nach den
paläographischen Merkmalen gegen 1100 zustandegekommen
sein muß. Ja, man wird fragen dürfen, ob nicht Tiglatpilesar
selbst, als er nach seinem Sieg über Babylon den babyloni¬
schen Kalender in Assyrien einführte"), ihm die Zwölfmaldrei
als Stütze beigab, und diese mit solchen Erläuterungen und
Erweiterungen versehen ließ, wie sie in einem Lande nötig
sein mochten, das sich um den Sternhimmel als Ganzes bis
dahin kaum bekümmert hatte.
Jedenfalls aber waren es die Assyrer, nicht die Babylo¬
nier, die im 9. und 8. Jahrhundert zu entscheidenden, weit¬
tragenden astronomischen Erkenntnissen den Weg gefunden
haben.
Das ging in Kalhu vor sich. Diese merkwürdige Stadt
mußte aherdings erst neu gegründet werden, denn sie war
seit Jahrhunderten verödet; von den Bauten Salmanassars I.,
ihres ersten Gründers*), waren nur noch Trümmerhaufen
übrig*). Im Jahre 879 hat Aääurnäsirapli II. die gewaltigen
Schuttmassen beseitigen lassen*), die Stadt neu errichtet, im
Schutz ihrer Mauern Kriegsgefangene aus aller Herren Län¬
dern angesiedelt*) und auf diesen Ort die uralte Würde
Assurs, Residenzstadt der Assyrerfürsten zu sein, übertragen.
Von Ninurta, dem Siriusgott'), machte er ein neues Bild aus
Gold und Edelsteinen und baute ihm neben seinen Palast
1) Ein von Hause aus selbständiger mythologischer Kalender
(vgl. BA 5, 704f., dazu Hb. 85) ist hier zu den Zwölfmaldrei in Be¬
ziehung gesetzt; die Ungeschicklichlceit, mit der man dabei verfahren ist (s. Hb. 89, wff.), erklärt sich am leichtesten, wenn man annimmt,
daß dem Kompilator der Stoff nicht recht geläufig war, m. a. W.. daß
er sich bei seinem Versuch nicht auf eine lange Überlieferung stützen
konnte. Auch die hilflose Verworrenheit der Himmelsbeschreibung in
Sp. II (Hb. 77 f.) kann wohl nur als Ergebnis tastender Versuche, nicht
aber als Niederschlag reichlicher Erfahrung und Übung verstanden
werden.
2) S. o. S. 317, Anm. 1. 3) S. o. S. 316.
4) AKA 244,1-1. 5) AKA 176, »-u. 6) AKA 184, »-m.
7) Bübkows-Lahodo», JRAS, Cent. Suppl. (1924) 33, Abs. 2..
A Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Po.sitions-Astronomie. 319
einen Tempel»), dessen Stufenturm erst von seinem Sohn
Salmanassar III. vollendet wurde«).
Die Tempel von Kalhu zeichnen sich vor ahen Heilig¬
tümern Assyriens dadurch aus, daß ihre Achsen genau auf
der Ostwestlinie hegen*); sie sind also als einzige Tempel des
Alten Zweistromlandes nach der Sonne ausgerichtet*), nicht
wie die übrigen nach bestimmten Sternen. Trotzdem die
Tempelgründung offenbar hier wie dort zur gleichen Stunde,
nämlich um die Tag- und Nachtgleiche gegen Sonnenaufgang
stattfand*), ist die Abweichung Kalhus von der sonstigen
Orientationsweise so auffäUig, daß man auch eine besondere
Ursache dafür voraussetzen möchte.
Nicht weniger muß uns aber eine zweite Erscheinung im
Kalhu Aääurnäsiraphs II. auffallen, die vor dieser seiner Neu¬
gründung in Assyrien ohne Beispiel war: nämhch die über¬
reiche Ausstattung von Palast und Tempel mit monumentalen
Rehefs und Vohplastiken»). Diese kultischen Szenen an den
Palastwänden, mit ihren geflügelten, bald Adlerkopfmasken,
bald Götterkronen tragenden Menschengestalten ;die menschen-
köpfigen Flügelstiere und Flügehöwen vor den Palasttoren;
der rein tierisch gebildete gewaltige Löwe vom Ninurta-Tempel ;
die Fischmaskenträger von ebenda; das berühmte Relief mit
der Gottheit, die einen Löwengreifen verfolgt (Abb. 4)"), wel¬
ches in der Torleibung des Ninurtatempels angebracht war —
wie gern würden wir die offenbar überaus vielsagende Sprache
dieser Kunstwerke verstehen! Aber abgesehen von den
1) AKA 210, 17-m; Guide* 33.
2) Lehmann-Haupt, Abh. d. kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen,
Ph.-hist. Kl. Neue Folge Bd. 9, Nr. 3 (1907), S. 29.
3) Mabtwt, Kultr. 9 (vgl. TL 6).
4) Die ja zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen genau im Osten
auf- und genau im Westen untergeht.
5) Vierteljahrsschr. d. Astron. Ges. 69 (1934), 74. 76.
6) Daß es sich dem Sachgehalt nach z. T. nur um ein ungeheures Anschwellen von Formkräften handelt, die dort schon um 1250 lebendig
waren, hat Andrae in der Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. 2 (1925), 152
dargetan; s. aber auch S. 321 f.
7) Den heutigen Zustand des Reliefs s. bei Andkax, Propyläen- Kunstgeschichte, Bd. 2, S. 503.
320 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie.
Königsgestalten und weniger wichtigen Einzelheiten ») können
wir vorläufig nur eines der Stücke zur Hälfte erklären: und
zwar ist das wUde Untier vom Torleibungsrelief eins mit
jenem anderen Tier auf einem Kudurru"), das von Weidner
als Darstehung des Sternbildes U4-ka-tuh-a (= unserem
Schwan + Eidechse)*) erwiesen ist*).
So wäre wenigstens eine so gut wie sichere und damit
um so wichtigere Einzelbeziehung der Ninurtatempelbilder
zum Sternhimmel gewonnen: das Fabelwesen auf dem viel¬
besprochenen „Tiamatrelief" ist mitnichten Tiamat*), son¬
dern das dem Unterweltsgott Nergal gehörende, wenn nicht
ihm gleichzusetzende Sternbild U4-ka-tuh-a; sein gött-
hcher Verfolger ist höchstwahrscheinlich weder Marduk noch
Adad, sondern wohl ein am Sternhimmel zu suchender, wenn
auch bislang nicht zu nennender Gott*).
1) Dazu den Krieg- und Jagdreliefs.
2) HAOG* 226, Abb. 146, unterste Reihe, zweites Bild.
3) Hb. 138,10.
4) Babyl. 6 (1912), 218. Eine andere Kudurru-Darstellung des¬
selben Geschöpfes s. Abb. 3 des vorliegenden Aufsatzes, Mitte links,
ruhend. Vgl. Stkiniibtzbb a. a. O. (s. oben S. 316, Anm. 3), S. 130 (zum
„Panthergreifen"), wo noch weitere Hinweise zu finden sind. Unter
diesen scheidet jedoch BBSt XLII rechts aus. Wie Wmdnbr mit Recht
bemerkt hat (AfO 4, Tf. V und S. 74(»)) handelt es sich offensichtlich
um den „Löwen". Die Flügel hat der Künstler dem Tier wohl zu Un¬
recht verliehen.
5) S. schon Jbiisbn, GEWl,60fL; danach Gressmamn, AOTB*,
Bilderbeschreib. S. 110.
6) Enmeäarra-Amurru wäre, wenn auch nicht ohne stärkste Be¬
denken (vgl. Festschrift Tallqvist 353) zu erwägen, da er oft als gött¬
liche Person des „Greisen"stembilds äu-gi (= Perseus) nicht weit von
U4-ka-tub-a genannt wird (KUB *,47,u; CT 26,41, K 250, vm,
Dupl. 45,7; KAV 27ÄBIIU-14) und sonst in der Nähe von Schwan-
Eidechse m. W. kein babylonisches männliches Sternbild zu finden ist.
Hat man die Sichelwaffe des Gottes doch (trotz Fschr. Tallqv. 355*;
AfO 4, 78; VR 46, lab, vgl. »ab) mit dem Sichelsternbild zubu = gamlu
= Capella gleichzusetzen? Oder ist es erlaubt, hier im U4-ka-tub-a
Nergal zu sehen, insofern er (vgl. KK 141 ff.) mit dem Schwarzmond zu
tun hat, und wäre dann der gegen ihn blitzbewehrt anstürmende Gott
mit der Sichelwaffe am linken Arm für den Gott der Neulichtsichel zu
halten (vgl. KB 6 1, 466L und Jbbbmias HAOG* 168)? Zu beachten,
A Schott. Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 321
Darf man nun aber sagen, daß ganz allgemein die unter
ASsurnäsirapli 11. auftauchenden „Geniengestalten . . . kos¬
mische Gestirnkräfte personifizieren"»), genauer: die Jahres¬
punkte des Stierzeitalters symbolisieren«)? Die Frage ist
leichter zu stellen, als zuverlässig zu beantworten. Jedenfalls
darf nicht vergessen werden, daß die geflügelten Stiere und
Löwen an den Toren des Palastes standen (und zwar gewiß
zur Abwehr böser Mächte)*), während die geflügelten
menschengleichen Gestalten auf den Wandreliefs, seien sie
nun maskiert oder nicht, Riten zu vollziehen haben, die
uns allerdings bis auf weiteres unverständlich sind.
Ferner aber kann ja nicht bestritten werden, daß die
Bildwerke von Kalhu in bezug auf Stoff und StU mit der
„hethitischen" Kunst geschichthch verbunden sind*), und es
daß auch Aääurnäsirapli II. nach der Darstellung seines Standbilds auf
dem Ninurtatempel die Sichelwaffe führt (Guide» XVII; HAOG*, S. 86,
Abb. 80a). Andererseits gibt es Siegelbilder, welche den Kampf gegen
ein Tier, das offenbar der u«-ka-tub-a ist, darstellen, wobei der Gott bald eine Sichelwaffe mitführt, bald auch nicht. S. z. B. HAOG', S. 382,
Der Greif mit Skorpionschwanz zu Füßen des Gottes kehrt HAOG«-
S. 384, wieder.
1) Jebeboas HAOG» 16.
2) HAOG« 414.
3) Vgl. etwa RA 27, 21.
4) Vgl. Heezfeld, Der Teil Halaf (Bln. 1934), S. 159—68, sowie
im einzelnen die sehr zahlreichen Hinweise v. Bisswos, AfO 6, 159 bis
201. Hervorgehoben sei wegen des u^-ka-tulj-a-Reliefs die Ausein¬
andersetzung über Greifen S. 164». Weidner sieht (Babyl. 6, 218) auch
im bekannten Fabelwesen des Gudeasiegels (RA 6, 95, danach AO 15, 42,
Abb. 69; AOTB«, Tf. XIX, *5; neue deutlichere Abbildung bei Dela¬
porte, Cylindres orientaux, wiederholt bei Unger, Sumerisch-Akka-
dische Kunst (1926), S. 76) den u.-ka-tu^-a. Dieser hat aber einen
Löwenkopf mit (Ur)stierhörnern und einen Federschwanz (der Leib ist
der eines Löwen, in Kal^u und auf einem Kudurru gefiedert oder ge¬
schuppt, BBSt XIX dagegen nicht), während das Tier auf dem Siegel
(eins mit den Flügeltieren auf der Gudea-Vase, Unger, Sum. -Akk.
Kunst S. 97; HAOG«, S. 57), einen ganz eigentümlich gehörnten
Hunde(?)kopf mit Schlangenzunge, den Leib eines überschlanken
Panthers, hinten Beine und Füße eines Raubvogels und einen Raub¬
tierschweif hat, der in einem Stachel endigt. Dasselbe Tier scheint
AOTB«, Tf. CII, Abb. 370, vorzuliegen (altbab.). Zu beachten ist dazu 2 2
322 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
ist daher nicht ratsam, jene ohne Rücksicht auf diese nach
ihrem Sinn zu befragen. Zugleich ist an den „Palasttempel"
von Tell-Halaf zu erinnern, abgesehen von Kalhu das einzige
monumentale Bauwerk des Alten Zweistromlandes, das genau
nach den Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet ist; aller¬
dings geht seine Kultrichtung von Nord nach Süd, nicht wie
in Kalhu von Ost nach West»).
Die Rätsel, die das Kalhu des 9. Jahrhunderts uns auf¬
gibt, haben allem Anscheine nach sehr viel mit dem Werden
der Astronomie im Alten Zweistromland zu tun: hierauf
mußte nachdrücklich hingewiesen werden, in der Hoffnung,
daß der Fortschritt der Arbeit zu weit bestimmteren und aus¬
giebigeren UrteUen hinführen möchte. Namentlich darüber
würden wir uns von den Denkmälern gern unterrichten
lassen, inwiefern der Siriuskult als ein notwendiger Aus¬
druck assyrischer Geistigkeit im 9. Jahrhundert zu gelten
hat und welches Verhältnis Religiosität und Wissenscbafthch¬
keit dabei zueinander einnehmen; aber auch, ob und wie in
diesem Kult auswärtige Einflüsse verarbeitet und auf¬
gehoben sind.
Die Texte aus Kalhu geben uns darüber keine Auskunft,
ja, sie kargen überhaupt mit Aufschlüssen über die Einrich¬
tung des Ninurta- bzw. des Siriuskults.
Um so wichtiger scheint es deshalb, wenn eine Inschrift
des Königs meldet, er habe für Ninurta von Kalhu zwei Feste
eingesetzt: eins sehe im 11., das andere im 6. Monat gefeiert
werden*). Nun stand damals nach Angabe meines Freundes
noch, daß Asarhaddon in seiner Sendschirli-Inschrift von sich sagt
(YS 1, 78, Rs. i»f.), sein Gang sei eine Sturmflut, seine Taten seien
(fehlt ein Wort), vorne sei er ein grimmiger ztbu (Wolf? Schakal?
s. ASGW 42 VI, 79b), hinten ein Adler; übrigens hatte das literarische Vorbild der Einleitung der Sendschirli-Inschrift (Vs.i7ff.), nämlich die
Aääumäsirapli-Inschrift AKA 260, uff. an Stelle alles dessen nur den
Ausdruck „starker König, König des Landes Assyrien" (AKA 263, n).
Auch lätar von Nineve wird zlhu gapSu „(wut)geschwellter ztbu" ge¬
nannt (PSBA 81, 67,i); in ZI. t war sie mit der Kriegsgöttin Anunttu gleichgesetzt worden.
1) Mabtiht, Kultrichtung, Tf. 6.
2) AKA 210, n.
Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 323
Mabtiny Sirius im 11. Monat bei Sonnenuntergang genau im
Süden, im 6. Monat bei Sonnenaufgang. Der Astronom würde
sagen : in diese zwei Monate fielen damals die beiden Quadra¬
turen des Sirius mit der Sonne. Das erinnert sofort an die
Bezeichnung säniq mühurti „Bewahrer der Symmetrie"»), die
bisher für drei Götter bezeugt ist, für Nabü«), für NergaP),
sowie für Ninurta in seiner Eigenschaft als Siriusgott*). Wes¬
halb Nabü und Nergal, denen Ninurta allerdings in manchem
verwandt ist, so genannt werden, ist mir noch unklar*).
Wie wiederum Martiny gesehen hat, verdiente Ninurta
auch in früherer Zeit „Wahrer der Symmetrie" zu heißen,
aber aus einem anderen Grunde. Um 3000 v. Chr. ging eine
Senkrechte zum assyrischen Richtkreis •), mit dem damaligen
Polarstern a im Drachen als Fußpunkt, genau durch Sirius
(Abb. 1).
Welcher von beiden Tatbeständen für die Benennung
des Siriusgottes maßgebend gewesen sein mag, beiden machte
1) ang wörtlich: „zusammendrücken, zusammenhalten", mbr
„einander gleichmäßig gegenüberstehen oder -treten"; über die Ver¬
wendung dieses Wortes in mathematischen Texten schrieb mir Otto
NBUOBBAüitE, ohne den Ausdruck säniq mit^urti zu kennen, am 1.3.
1933: „mabaru und Verwandtes ist nämlich m. E. erst sekundär exakt
als .Quadrat' zu fassen und vielmehr der Grundbedeutung nach über¬
haupt eine Symmetriebezeichnung schlechthin." — Um die Erklärung
des schwierigen Ausdrucks säniq mitlyuiti haben sich Bubrowb und
Lanodon, JRAS Cent. Supl. 1924, S. 37, verdient gemacht. Ihr Vor¬
schlag „Fixer of the Balance" ist von mir wie oben verbessert worden, weil genau genommen Äujoiüiu ( nicht mitjurtu) „Gleichgewicht" bedeutet.'
2) Labobon a. a. O., ferner Thübeao-Dahoib, RA 27 (1930), 16,«
3) BMS 4«, 16.
4) Bübrows-Lanodon, JRAS Cent. Suppl. 1924, 34, i. 37.
5) Nabü heißt „Feststeller von Monat und Jahr" (BBSt 78, »-t);
hier und YBT 1,43, u bittet man ihn, die Tage des Frevlers zu ver¬
kürzen. In seinen Tempel Ezida, „den Tempel der Nacht", kommen
am 11. IV. die Töchter des Marduktempels Esagila, um die Nächte zu
verlängern; am 3. IX. gehen die Töchter von Ezida nach Esagila, „dem
Tempel des Tages", um die Tage zu verlängern (ZA 6, 241,i-»). —
Nergal geht am 18. IV. in die Erde, am 28. IX. kommt er heraus (ZA
6, 244, «f., vgl. den älteren Text KAV 218 a m *-io).
6) Vierteljahrsschrift der Astron. Ges. 69 (1934), 75f.
324 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
eine und dieselbe Kraft allmählich ein Ende: die Präzession
drängte a im Drachen immer weiter von seinem zeitweiligen
Stand im Himmelspol, sie verschob immer fühlbarer die Tag¬
daten der geschilderten Siriuskulminationen — wurden doch
diese Daten von den Tag- und Nachtgleichen aus gezählt.
Hatten Aääurnäsiraplis Leute schon etwas von diesen
Sachen bemerkt? Dann mußten sie darin gewiß die Drohung
eines UnheUs sehen. Dachte man vielleicht an Abwehr von
solchem Unheh, indem man die Ruinen der Siriusstadt zu
neuem Leben erweckte und dem Siriustempel die Richtung
auf die aufgehende Frühlingssonne gab? Hatte man bereits
erkannt, daß diese Norm sich niemals änderte? Wähnte man
den abirrenden Sirius-Ninurta so an die unbeirrbare Sonne
ketten zu können ? Sind dann doch wieder Zweifel aufgetaucht,
und steht deshalb ein Statthalter der Semiramis in Kalhu
steinerne StandbUder des Nabü auf»), manche mit einer
Inschrift, die in den Worten ausklingt: „Vertraue diesem
Gott und keinem andern"?") In der Tat nennt einige zwanzig
Jahre später, um 775, die Inschrift eines assyrischen Feld¬
herrn nicht Ninurta, sondern Nabü den „Bewahrer der
Symmetrie" »).
722 brach mit Sargon in Assyrien eine neue Zeit an*).
Dieser König gab in seinem 9. Regierungsjahr Kalhu auf und
gründete sich eine neue Hauptstadt, Dür-Sarruken*); seine
Nachkommen residierten in Ninive. Diese Veränderungen
hatten aber keinen Einfluß auf die Stelle, die Nabfi-zuqup- oi . na
einnahm, ohne welchen Mann der große letzte Triumph assy¬
rischer Sternwissenschaft vielleicht nicht so bald erfolgt wäre.
Er bheb in Kal^u, wo schon einer seiner Vorfahren unter
Tukulti-Ninurta II. und AäSurnäsirapli II. Kanzler gewesen
1) AOTB", Tf. CXXX, Abb. 325.
2) I R 35, Nr. 2, it.
3) RA 27 (1930), 16,«.
4) Nicht aber kam ein neues Herrscherhaus auf, wie bis vor
kurzem angenommen wurde. Sargon II. hat sich als ein Sohn Tiglath-
pilesars III. herausgestellt (AfO 9, 79; Forsch, u. Fortschr. 1933, 245 f.).
5) SSB 2, 358.
2 2«
Ahl). 4
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie. 325
war»). Mindestens 33 Jahre lang hat er selbst unter Sargon
und Sanherib das Amt eines Oberschreibers bekleidet").
Er schrieb — gleichviel ob zu seinem Vergnügen oder
auf Befehl des Königs — Texte aus Babylonien ab: Gebete*),
Rituale*), mindestens ein Stück des Gilgamesch-Epos*)|
Abb. 5. Links Überrest einer Skizze des Weltall-Turms auf einer Tafd
des Nabü-zugup-ai.vÄ-, rechts Aufriß des Turms von Babel nach Keil¬
schriftangaben.
Omina*). Darunter befindet sich auch Enuma Anu Enhl, die
astrologische Omensammlung: etwa die Hälfte der erhaltenen
Tafeln ist seinem Fleiß zu verdanken*); ein späterer König
t) Gabbi-iläni-ereä: KAV, Nr. 2ie, iii, 17-1».
2) Von seinen zahlreichen Tafeldatierungen gibt die früheste
(K 2686 -t- 2687 = Cbaio, Astron. Texts, Tf. 29) das Jahr 716 an, die
späteste (III R 2, Nr. XXII) das Jahr 683.
3) S. Bez. Cat. im Register unter Nabu-zuqup-oi.uA.
4) Die 12. Tafel (Gilg. 58, vgl. zum Datum AfO 3, 2" und Kino, Suppl. to the Cat., Nr. 1470= K 14934).
5) Ceaio, Astron. Texts Tf. 3. 4. 5. 12 (zweimal). 13. 14. 29. 31.
32. 35. 47. 48 (zweimal). 67. 73. 76. 78; K 137 (laut Cat.). Die übrigen datierten astrologischen Texte (ungefähr ebensoviele) aus AäSurbänapli's
Palastsammlung. Auf diese Verteilung der Abschriften, wie auch auf
die besondere Stellung von Kal^u in der assyrischen Astronomie ist
augenscheinlich schon Stbassmaibe aufmerlcsam geworden (Astrono¬
misches aus Babylon (1889), S. 2 und S. 172), und jedenfalls ScmA-
PABELLI, Primordt 47, der den Fleiß, die Genauigkeit und die Bescheiden¬
heit Nabü-zuqup-oi.NA's rühmt.
ZelUohrift d. D. M. Q. Neue Folge Bd. XIII (Bd. 88) 14
326 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie.
hatte sie nach Ninive verbringen lassen, wo die enghschen
Ausgräber sie dann gefunden haben. Nabü-zuqup- gi.na zeichnet
auch die Zwölf maldrei ab^), er kopiert auch die Schrift über
die Tiefenstaffelung der Sterne^) (Abb. 5) — kurz, es sieht
80 aus, als habe er sich oder anderen ein möglichst voUstän-
diges Bild vom Stand des astronomischen Wissens seiner und
der vorhergehenden Zeit verschaffen wollen. Es scheint ihn
indes nicht befriedigt zu haben.
Man könnte nämlich auf den Gedanken kommen, daß er
an der Entstehung der sonderbar zusammengestoppelten
Tafelserie i.nam.gi§.har nicht unschuldig ist. Drei verschie¬
dene Kapitel derselben sind bisher gefunden worden, alle mit
dem Namen Nabü-zuqup-oi.NA's gezeichnet. Vom 3. Kapitel
hat sich leider fast nur die Unterschrift gerettet*). Von den
beiden anderen Stücken ist uns aber weit mehr erhalten.
Übereinstimmend geben sie sich reichhch mit Zahlenvertau-
schungen und dergleichen Spielereien ab»), wie sie z. B. auch
bei Asarhaddon, dem dritten Sargoniden, nachweisbar sind *).
Im 2. Kapitel») sind, wie Weidnbr gesehen hat, Zitate aus
dem astronomischen Teil des Weltschöpfungsliedes Enuma
gliä») eingestreut. — Der Gegenstand, mit dem sich der Rest
desselben Kapitels befaßt, ist der babylonischen Astronomie
bis in ihre Spätzeit eigentümlich, ja einer ihrer Hauptbestand-
teUe, und verdient es daher durchaus, daß man auf ihn ge¬
nauer eingeht*).
In Babylonien oder Assyrien war einst — aber wann und
von wem? — die glänzende Beobachtung gemacht worden,
daß es nicht nur vom Monatstag, sondern auch von der
Jahreszeit abhängt, wie lange der Mond nach Anbruch der
1) CT 88,11.
2) III R 2, Nr. XXII.
3) Babyl. 6, T(. II (2. Kap.) ; CT 25, 50.
4) LncKBKBiLL, AJSL 41, 165ff.
5) Ich glaubte die Entstehung dieser Dichtung in die Zeit um
750 setzen zu sollen (MVAeO 1925, 2); v. Sodbn hat dem widersprochen (ZA 40,163«.; 41,90«.).
6) Vgl. Epfdio, Astronomisches aus Bab. (1889) 18—23; 43—93
und öfter (z. B. 105); SSB 1.65. 104; 2. 468f.; 531 fL
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie. 327
Nacht bzw. des Tages sichtbar ist und daß das gleiche von
der Dauer seiner Unsichtbarkeit nach Untergang und Auf¬
gang der Sonne ght. Man unterschied dabei in der älteren
Zeit GK, und . qin, und zwar hieß, wie Kuglkr's ausgezeich¬
nete Untersuchungen ergeben haben ^) (vgl. Abb. 6):
0 W
1.
abends
t
0 W
t.
morgens
Q.
0 W
15.
abends
0 W
15.
morgens
Horizont ^
ü
V / 0
o
0
Altere
Bezeichnung GE. U..GIN GE. U..GIN
Spätere
Bezeichnung GE. NA GE. NA
Abb. 6. Schema der Stellungen von Sonne und Mond um die Wenden
und Mitten der Monate.
abends am 1. d. Monats: d. Zeit t. Sonnenunterg. bis Mondunterg.
' l ,. *5 „ Mondaufg.
/morgens ,, 1.,, „ ,, „ ,, Sonnenaufg. ,, Mondaufg.
''«•®'" ' l „ ,. 15. „ , „ „ „ Mondunterg.
Das Maß der jeweiligen Dauer konnte ausgedrückt
werden : a) unmittelbar in Zeit, b) durch Angabe der Wasser¬
menge, die während dieser Zeit „der babylonischen Wasser-
1) SSB, Erg. 88—102. Nur der Text Lenohiu.iit, Choix de Textes
(1873), Nr. 86, wäre dort nachzutragen. Er stammt übrigens aus Kal^u.
Die Angabe Fothkbihgham's „aus Nineveh" (The Observatory, Nr. 703,
Bd. LV, London, Dez. 1932, 8. 338) scheint mir irrig. — Daselbst
S. 339 rechnet der letzte Absatz nicht mit Kuolib's ebengenannten
Ausführungen. Im übrigen ist dieser Vortragsbericht sehr geeignet zu
zeigen, wie wichtig der LxxoBMAHT'sche Text für die Gescbichte der
babylonisch-assyrischen Astronomie ist.
2) Früher mj gelesen. Gleichbedeutend mit ox, . oin = müii illikü
(SSB 2,469, vgl. Sanh. AL* 74, uf.) und vielleicht Abkürzung dafür.
3) Z. B. BE 13918 (SSB, Erg. 90). Früher ud-du gelesen. Ut.on
wäre =• ümi ülikiL
tt*
328 A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
uhr (Klepsydra) entfloß". Einer (leichten) Mine (b) ent¬
sprechen dabei 4 ges^) = 16 unserer Minuten (a)").
In dem schon genannten 2. Kapitel von Nabü-zuqup-
gi.na's i.NAM.Gi§.HAR-Tafel werden die begreiflicherweise
unvollkommenen schematischen GK,-Werte für die 12 Monats¬
anfänge und -mitten in Minen angegeben und jedesmal durch
Multiplikation mit 4 in Zeit (g6§) umgewandelt. Genau die
nämlichen Minen- und Zeitwerte für alle Monate bietet aber
merkwürdigerweise die 2. Tafel der so überaus wichtigen
Serie Mul Apin*), nur daß hier das Multiplizieren selbst
nicht vorgeführt wird.
Diese Übereinstimmung darf schon an und für sich nicht
leicht genommen werden. Sie muß einem jedoch um so auf¬
fälliger und wichtiger erscheinen, als sowohl Mul Apin wie
auch I . NAM. Giä.HAR die Jahresgleichen und -wenden um
durchschnittlich drei Wochen zu spät ansetzen*)! Sie
stehen damit in Gegensatz zu einer anderen Auffassung,
die der wirklichen Lage der Jahrespunkte*) entspricht
und durch Eintragung der betreffenden Ui.GiN-Werte*)
auf zwei Abschriften der Zwölf maldrei überliefert ist') (vgl.
Abb. 7).
1) Früher us gelesen. 2) SSB, Erg. 94f.
3) Nach den Hinweisen von Weidneb, AJSL 40,187; Lichtbilder
der betr. unveröffentlichten Assurtexte verdanlie ich der Vorderasiat.
Abteilung der Staatlichen Museen zu Berlin.
4) Auf je den 15. des I., IV., VII. und X. Monats.
5) Im XII., III., VI. und IX. Monat. Vgl. Schoch a. a. O. (s. o
S. 307, Anm. 2); Schnabel, ZA 36,122. Die beiden Forscher lassen,
wie mir scheint, mit Recht das Jahr mit dem Neulicht nach der Tag-
und Nachtgleiche beginnen (in der Spätzeit nach der des Herbstes:
s. zuletzt Schnabel, ZA 37, 34ff.).
6) U. zw. in Minen. Mit diesen Werten sind, vorsichtiger aus¬
gedrückt, die den Randsternen (bzw. dem ersten Stern eines jeden
Monats) beigefügten Zahlen größengleich. Ob sie allerdings genau den
gleichen Sinn haben, muß solange Zweifeln ausgesetzt bleiben, bis die
Zahlen der mittleren und inneren (zweiten und dritten) Sterne ge¬
deutet sind. Die inneren verhalten sich zu den mittleren wie diese zu
den Randzahlen, nämlich wie 1:2.
7) CT 88, 11 (geschrieben von Nabü-zuqup-oi.NAl); Pinches,
JRAS 1900, 573ff.
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie. 329
Wenn nun aber zwei Lebrmeinungen in der kalendari-
scben Einordnung der jäbrlichen Fixsternbewegungen um
drei Wochen voneinander abweichen, so gibt es folgende
Wege, das zu erklären: entweder man zieht unglaublich
grobe Irrtümer oder Phantastereien in Betracht; oder man
nimmt einen Altersunterschied beider von 1 bis 2 Jahr-
XII I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII I II
1—1—I— II'' —'— I I I I I I—>—1—1 1 ■ '
I 15 1 15 I IS I 15 I 15 I 15 I 15 1 IS I IS I IS 1 15 1 IS I IS I » I I&
ZwSllnialdrel
I.NAM.GI3.
bAR Mul-Apin Bab.MI<c
Abb. 7. . am-Werte nach den Zwölf maldrei und az^-Werte nach
Mul Apin usw.
tausenden an; oder man rechnet mit Vor- oder Rückdatie-
rungen.
I . NAM . GiS . HAR gibt uus keine Handhabe zur Entschei¬
dung zwischen besagten Möghchkeiten, wohl aber Mul Apin*).
Dieser Text umfaßt, kurz gesagt: eine klare Übersicht der
Enlil-, Anu- und Ea-Sterne (nicht mehr schematisch je 12!);
heliakische Aufgänge*); Meridiandurchgänge mit gleich-
1) CT 33, Iff.; SSB, Erg. (1913/14), 1—72. 88—106. 141—224;
SHAW 1913; Hb. 35—51; AJSL 40,186—208.
2) Am 15. X., dem (fingierten) Wintersonnwendtag ist der Spät¬
aufgang (d. h. der Aufgang gleich nach Sonnenuntergang) des Sirius
eingeschaltet, als einziger Spätaufgangl (mtf.) Der heliakische Auf¬
gang (Moi^enerst) des Sirius ist auf die (gleichfalls fingierte) Sommer¬
sonnenwende (15. IV.) gesetzt (ntt): diese Kennzeichnung des Sirius
als eines „Wahrers der Symmetrie" (säniq mitburti) erscheint um so
deutlicher, als Mul Apin, um die Symmetrie überhaupt zu gewinnen,
für besagten Spätaufgang des Sirius statt seines wirklichen Datums
(damals laut Kuolbb, SSB, Erg. 7 etwa Ende Dezember, das wäre um
den 20. IX.) den 15. X. (ungefähr den 25. Januar) angibt und damit
die Zeitspanne zwischen dem heliakischen und dem scheinbaren akro-
nychischen Aufgang des Sirius von 156 auf 180 Tage erhöht, allem
Augenschein zum Trotz. — Vgl. auch besonders oben S. 322 f. Zum
330 A.. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions-Astronomie.
zeitigen Aufgängen; die Mondbahn; Sirius und die vier
Jahrespunkte; die Planeten; der Sonnenstand in den Wegen
des Enlil, Anu, Ea; die GK,-Werte des Mondes für den 1. und
15. aller Monate*) u. a. m. Also, wie Weidner mit Recht
sagt*), „ein Kompendium der Himmelskunde". Er hat auch
schon vor 20 Jahren gezeigt*), daß den Sonnenstandangaben
der Serie Mul Apin eine Himmelseinteilung zugrunde liegt,
die dem System unserer Äquatorialkoordinaten entspricht
und dessen astronomische Brauchbarkeit keiner Erörterung
bedarf. In je 12° Abstand nördlich und südlich vom Himmels¬
äquator dachte man sich einen Parallelkreis*). Zwischen den
beiden Kreisen stehen die Anu-Sterne, nördhch von diesen
die Enlil-Sterne, südlich die Ea-Sterne (Abb. 8). Martiny hat
Sirius-Spätaufgang im Jagdkalender der Assyrer s. SSB 1, 241; Erg. 7.—
Der Sirius ist übrigens, wie bekannt, der einzige Fixstern, von dem in
den Planetentafeln der Spätzeit die Tage des heliakischen Auf- und
Untergangs angemerkt werden (EppiNa-STBA.88iu.iBB, Astronomisches aus Babylon, S. 150).
1) S. o. S. 327.
2) AJSL 40,186. 207.
3) Hb. 46, vgl. Babyl. 7, TL I.
4) Kdolbb's aprioristischer Widerspruch (SSB 2, 320, 4; Erg. VI ;
ähnlich Thübbaü-Danoin, RA 28,88*) zerschellt an diesen Angaben
von Mul Apin (vgl. auch Idblbb-Boll bei Bbzold, SHAW 1913, XI, 50). —
Meridiandurchgänge in der letzten Nachtwache werden für eine Reihe
von Zenitgestirnen aufgezählt und durch ein abgerundetes Datum
sowie gleichzeitigen heliakischen Aufgang eines anderen Sterns näher
bezeichnet. Auch der Text AO 6478 (RA 10, 215fL und TU Nr. 2J;
s. SSB, Eig. 77 fL; Hb. 131 ff.) gibt gerade für Zenitgestime Rektaszen- sionsdifferenzen an, u. zw. in Gewicht, in Zeit und in angeblichen
wahren Abständen am Himmel, wobei 1 schwere Mine, 6 g6ä (= 24 Mi¬
nuten) und 10800 beru (= rund 108000 km) einander entsprechen. Bei
dieser Berechnung ist der Radius der Himmelskugel augenscheinlich auf etwa '^^^ '""'^ = 216000 beru = rund 2160000 km veranschlagt,
also größenordnungsmäßig gesprochen, etwa auf das 1000 fache der
alten Schätzung von Jena HS 229. AO 6478 ist im seleukidischen Warka
niedergeschrieben, aber wie die Namensformen der Sterne und ein
älteres Duplikat zeigen (s. Hb. 132), spätestens in der Sargonidenzeit entstanden. Sehr viel älter wird er aber auch nicht sein, da der Krebs in ihm schon seine heutige Stellung unter den Sternen einnimmt (s. o.
S. 308, Anm. 4).
A. Schott, Das Werden der babylon.-assyr. Positions- Astronomie. 331
nun festgestellt*), daß die Sterne, die von der Mul Apin-
Serie in jeden dieser Himmelsbereiche versetzt werden, dort
tatsächlich erst seit 700 v. Chr. stehen, auch daß sie erst seit
Abb. 8. Himmelseinteilung in Deklination nebst dem Jahreslauf der
Sonne (nach Mul Apin).
700 wirklich an den daselbst angegebenen Tagen hehakisch
aufgehen*). Da aber die älteste datierte Mul Apin-Tafel
687 V. Chr. niedergeschrieben ist *), so dürfte die Serie in den
ersten 13 Jahren des 7. Jahrhunderts abgefaßt sein.
Sie bildet den Abschluß einer Entwicklung, die mit der
Verpflanzung der Zwölfmaldrei auf assyrischen Boden ein-
1) In einer unveröffentlichten Arbeit, die er mir freundlichst zur
Einsicht und Verwertung überlassen hat — wofür ich ihm auch hier
danken möchte.
2) Das läßt sich trotz der Ungenauigkeiten sagen, die beim Ab¬
runden der wahren Daten entstehen mußten. Am besten schneidet
Mul Apin ab, wenn man seine Angaben auf die Breite von Assur oder
Kal^u bezieht.
3) Wbidnkb, AJSL 40, 186.
Äqu.
Ekl