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Archiv "Antidepressive Therapie bei Kindern und Jugendlichen: Anwendung und Stellenwert der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer" (08.04.2005)

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A976 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 148. April 2005

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egen des Verdachts, dass die se- lektiven Serotonin-Wiederauf- nahmehemmer (SSRI) bei de- pressiven Kindern und Jugendlichen zu einem erhöhten Suizidrisiko führen könnten, wird der Einsatz dieser Sub- stanzen derzeit kontrovers debattiert.

Die Diskussion wurde von Studienergeb- nissen zum Wirkstoff Paroxetin aus- gelöst, denen zufolge das Mittel bei Kin- dern zu einem erhöhten Risiko von suizi- dalen Gedanken führt. Mittlerweile wird auch eine durch SSRI induzierte Suizida- lität bei Erwachsenen vermutet.

Wegen der Unklarheit bei der Diffe- renzierung von Suizidalität, selbstschädi- gendem Verhalten und anderen Verhal- tensauffälligkeiten in den vorliegenden Studien unterzog die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA ihre Daten einer erneuten Prüfung, deren Ergebnis mittlerweile vorliegt (4). Unter den mehr als 4 000 in Studien mit SSRI behandel- ten Kindern und Jugendlichen fand sich kein einziger vollendeter Suizid. Das re- lative Risiko (RR) für Suizidgedanken und suizidale Handlungen lag unter SSRI nicht signifikant über dem einer Placebobehandlung (RR 1,41; 95-Pro- zent-Konfidenzintervall [KI] 0,84 bis 2,37). Lediglich für Venlafaxin, einen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnah- mehemmer, wurde ein signifikant erhöh- tes Risiko ermittelt (RR 4,97; KI 1,09 bis 22,72). Allerdings waren die analysierten Studien in Design und Methodik nicht darauf ausgelegt, seltene unerwünschte

Wirkungen, wie etwa suizidales Verhal- ten, zu erfassen. Sie verfügen daher mög- licherweise nicht über genügend Sensiti- vität zur Aufdeckung potenzieller selte- ner Risiken.

Die FDA verzichtete, im Unterschied zur englischen Zulassungsbehörde dar- auf, die Kontraindikationen für SSRI ge- nerell auf die Behandlung Minderjähri- ger auszuweiten. Auch die Arzneimittel- kommission der deutschen Ärzteschaft sah keine Notwendigkeit für eine Ein- schränkung der zugelassenen Indikatio- nen (1). Allerdings ordnete die FDA im Oktober 2004 an, mit einer „black-box warning“, dem strengsten Warnhinweis, den die Behörde für Packungsbeilagen verlangt, auf das nach ihrer Einschät- zung erhöhte Risiko für pädiatrische Pa- tienten, die mit Antidepressiva (nicht nur SSRI) behandelt werden, aufmerk- sam zu machen. Diese Regelung ist we- gen ihrer Signalwirkung umstritten.

Durch die Verunsicherung, die der Warnhinweis auslösen kann, besteht die Gefahr, dass Depressionen bei Kindern und Jugendlichen und deren Folgen, wie Suizidalität, nicht adäquat behandelt werden (3).

Die Punktprävalenz depressiver Stö- rungen unter Jugendlichen liegt etwa bei fünf Prozent, unter Kindern bei zwei bis drei Prozent. Während der Depression weisen die Betroffenen ein fünf- bis 15fach erhöhtes Suizidrisiko auf; bis zu 60 Prozent der depressiven Kinder und Ju- gendlichen geben Suizidgedanken an. Ei- ne Behandlung der Depression gilt daher als wirkungsvolle Prophylaxe suizidalen Verhaltens. Die Frage, wie viele Suizide durch die konsequente Behandlung von

Depression, auch mit SSRI, verhindert werden können, wird in der gegenwärti- gen Debatte weitgehend vernachlässigt.

Psychotherapeutische Behandlungsansätze

Bei jungen Patienten mit leichten und mittelschweren depressiven Episoden (nach ICD-10) ist eine psychotherapeuti- sche Behandlung wirksam und Mittel der Wahl.Am besten untersucht ist die Wirk- samkeit der kognitiven Verhaltensthera- pie. Sie ist bezüglich der depressiven Symptomatik kurzfristig effektiver als ei- ne systemisch-behaviorale Familienthe- rapie oder eine nichtdirektive supportive Therapie. In der Langzeitwirksamkeit zeigte sich kein Unterschied (2). Bei nicht ausreichendem Effekt einer vier- bis sechswöchigen Psychotherapie be- steht eine Indikation für eine medika- mentöse Unterstützung. Bei schweren depressiven Störungen, deren Ausprä- gung einen primären Effekt psychothe- rapeutischer Maßnahmen erschwert oder gar unmöglich macht, ist von Be- ginn an eine Kombination mit einer psy- chopharmakologischen Behandlung an- gezeigt.

Johanniskraut

In Deutschland entfällt annähernd die Hälfte der Verschreibungen antidepres- siver Medikamente für Kinder und Ju- gendliche auf Johanniskraut-Präparate (Hypericum-Extrakt). Die Evidenzbasis hierfür ist bislang unzureichend. Meta-

Antidepressive

Therapie bei Kindern und Jugendlichen

Anwendung und Stellenwert der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Martin Holtmann, Sven Bölte, Lars Wöckel, Fritz Poustka

Editorial

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Direktor: Prof. Dr. med. Fritz Poustka), Klini- kum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt

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analysen von Studien an Erwachsenen mit leichter bis mittelschwerer Depressi- on ergaben uneinheitliche Ergebnisse gegenüber Standardantidepressiva und Placebo (10). Dagegen zeigte eine aktu- elle Studie, in der Johanniskraut mit Pa- roxetin verglichen wurde, zumindest eine Gleichwertigkeit beider Therapiearme (9). Für die Behandlung depressiver Kin- der und Jugendlicher liegen keine kon- trollierten Studien mit Johanniskraut vor. Entgegen der Ansicht, es handele sich wegen des pflanzlichen Ursprungs der Wirkstoffe um nebenwirkungsfreie

„sanfte“ Präparate, sind unerwünschte Wirkungen wie etwa Fälle von Fotosensi- biliserung als auch eine Induktion von Zytochrom CYP 3A4 (mit Beeinflussung der Serumspiegel anderer Pharmaka) belegt. Für trizyklische Antidepressiva ließ sich in zahlreichen kontrollierten Studien bei depressiven Kindern und präpubertären Jugendlichen kein Wirk- samkeitsnachweis erbringen (7).

Selektive Serotonin- Wiederaufnahmehemmer

In der Behandlung depressiver Störun- gen werden SSRI bei Kindern und Ju- gendlichen seit einigen Jahren auch in Deutschland vermehrt angewandt, auch wenn die Verschreibungspraxis zurück- haltender ist als in den USA (11). In Deutschland ist bei Kindern ab acht Jah- ren nur ein SSRI-Präparat (Fluvoxamin) zugelassen, und zwar für die Behandlung von Zwangsstörungen. Bei allen anderen Indikationen, auch bei der Depression, erfolgt die Therapie von Kindern und Ju- gendlichen im Rahmen der Off-Label- Verordnung als individueller Heilver- such. Derzeit sind Daten zu fünf Substan- zen (Fluoxetin, Sertralin, Citalopram, Pa- roxetin und Venlafaxin) aus elf placebo- kontrollierten Studien bei depressiven Kindern und Jugendlichen verfügbar. Ei- ne Überlegenheit gegenüber Placebo konnte nur für Fluoxetin und Sertralin empirisch belegt werden. Für Paroxetin und Venlafaxin wurde kein überzeugen- der Wirksamkeitsnachweis erbracht. Die Studienlage zu Citalopram (eine Studie mit positivem, eine mit negativem Resul- tat) ist nicht eindeutig. Fluoxetin, Sertra- lin und Citalopram weisen nach der Me- taanalyse der FDA die niedrigsten relati-

ven Suizidalitätsrisiken auf (4). Bei der Behandlung mit SSRI ist wie bei anderen Antidepressiva mit einer Wirklatenz von etwa zwei Wochen zu rechnen. Einzelne Symptome des depressiven Syndroms können unterschiedlich schnell auf die Therapie ansprechen.

Während der ersten Behandlungswo- chen kann besonders bei gehemmt-de- pressiven Patienten der Antrieb gestei- gert sein, ohne dass die Stimmung bereits ausreichend aufgehellt ist. Dies birgt das vorübergehende Risiko erhöhter Suizi- dalität. Das Phänomen ist nicht spezifisch für SSRI, sondern der Pharmakotherapie von Depression generell eigen. Darüber hinaus ist unklar, ob Suizidalität unter dem Einfluss eines SSRI bei Kindern und Jugendlichen neu entstehen kann. Dieses Risiko scheint klein, aber real (3). Auch wenn nicht generell ein erhöhtes Suizi- drisiko unter SSRI angenommen werden muss, treten offenbar doch in seltenen Einzelfällen psychomotorisch-erregende Nebenwirkungen auf. Diese entsprechen gelegentlich dem Bild einer Akathisie, können aber auch zu als Ich-fremd erleb- ten dranghaft suizidalen Impulsen füh- ren (1).

Kombinierte Psycho- und Pharmakotherapie

Untersuchungen über die differenzielle Wirksamkeit von kombinierten pharma- kotherapeutischen und psychotherapeu- tischen Behandlungen bei depressiven Kindern und Jugendlichen lagen lange nicht vor. Wegweisend sind nun kürzlich veröffentlichte Ergebnisse (8). Im Unter- schied zu den meisten Depressionsstudi- en, in die suizidale Patienten nicht aufge- nommen wurden, repräsentieren die hier behandelten Patienten das ganze in der klinischen Praxis auftretende Spektrum depressiver Störungen.Verglichen wurde die Wirksamkeit einer zwölfwöchigen Behandlung mit dem SSRI Fluoxetin, die Kombination von kognitiver Verhal- tenstherapie (KVT) und Fluoxetin, KVT alleine sowie Placebo. Die Ansprechra- ten betrugen 71 Prozent für die Kombi- nationsbehandlung, 61 Prozent für Fluo- xetin allein, 43 Prozent für KVT alleine und 35 Prozent für Placebo. Im Hinblick auf die depressive Symptomatik ist somit die Kombinationsbehandlung aus KVT

und SSRI am wirksamsten, gefolgt von der SSRI-Behandlung; KVT alleine war Placebo nicht überlegen.

Schlussfolgerungen

Unter Berücksichtigung der Stellung- nahmen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (1) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (5) ergeben sich fol- gende Überlegungen: Bei Kindern und Jugendlichen mit leichten und mittel- schweren depressiven Episoden stellen psychotherapeutische Behandlungsan- sätze, insbesondere die kognitive Verhal- tenstherapie, die Therapie der Wahl dar.

Schwere depressive Störungen erfordern darüber hinaus die Kombination mit ei- ner psychopharmakologischen Behand- lung. Es besteht ein günstiges Nutzen-Ri- siko-Verhältnis für Fluoxetin und Sertra- lin,und das Suizidalitätsrisiko dieser Sub- stanzen scheint gegenüber Placebo nicht erhöht. Ihr Einsatz in der Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher ist derzeit verantwortbar und sinnvoll. Pati- enten, die bereits erfolgreich mit einem SSRI behandelt werden, sollten diese Therapie nicht abrupt beenden. Mit El- tern und Patienten ist über mögliche Warnhinweise auf Suizidalität sowie ein Sicherheitsmanagement zu sprechen.

Insbesondere in den ersten Behand- lungswochen und bei Dosissteigerungen ist neben anderen Nebenwirkungen auf das Auftreten dranghafter suizidaler Ge- danken, Unruhe, erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität,Angstzustände und Schlaf- losigkeit zu achten und gegebenenfalls die Medikation unter entsprechender Kontrolle abzusetzen oder die Dosis zu reduzieren. Ob eine längerfristige antide- pressive Behandlung suizidprophylak- tisch wirkt, ist bisher nicht belegt. Bei de- pressiven und manisch-depressiven Er- wachsenen reduziert eine langfristige Be- handlung mit Lithiumsalzen dramatisch das Suizidrisiko (6). Diese Erkenntnisse sind aber nicht auf das Kindes- und Ju- gendalter generalisierbar; entsprechende Untersuchungen sind daher dringend notwendig. Angesichts der ethischen Probleme der Forschung an Kindern soll- ten an klinischen Studien beteiligte Insti- tutionen darauf verpflichtet werden, un- abhängig vom Ergebnis ihre Daten zeit- M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 148. April 2005 AA977

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nah zu publizieren.Zudem sollten Unter- nehmen nachdrücklich aufgefordert wer- den, für beispielsweise in den USA zur Behandlung Minderjähriger zugelassene Medikamente auch in Deutschland eine Zulassung zu beantragen, um den Off- Label-Gebrauch zu reduzieren und da- durch für Patienten, Eltern und die Be- handler mehr Klarheit zu schaffen.

Manuskript eingereicht: 11. 8. 2004, revidierte Fassung angenommen: 17. 1. 2005

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sin- ne der Richtlinien des International Committee of Medi- cal Journal Editors besteht.

Literatur

1.Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft:

SSRI und Suizidalität? Dtsch Arztebl 2004; 101: A 2642 [Heft 39]. Langfassung: www.aerzteblatt.de/plus3904 2. Birmaher B, Brent DA, Kolko D et al: Clinical outcome af-

ter short-term psychotherapy for adolescents with ma- jor depressive disorder. Arch Gen Psychiatry 2000; 57:

29–36.

3. Brent DA: Antidepressants and pediatric depression – the risk of doing nothing. N Engl J Med 2004; 351:

1598–1601.

4. FDA: Review and evaluation of clinical data. www.

fda.gov/ohrms/dockets/ac/04/briefing/2004-4065b110- TAB08-Hammads-Review.pdf

5. Fegert JM, Herpertz-Dahlmann B: Zur Problematik der Gabe von Selektiven Serotoninwiederaufnahmehem- mern (SSRI) bei depressiven Kindern und Jugendlichen.

Nervenarzt 2004; 75: 908–910.

6. Goodwin FK, Fireman B, Simon GE, Hunkeler EM, Lee J, Revicki D: Suicide risk in bipolar disorder during treat- ment with lithium and divalproex. JAMA 2003; 290:

1467–1473.

7. Hazell P, O’Connell D, Heathcote D, Henry D: Tricyclic drugs for depression in children and adolescents. The Cochrane Library, 2003; Issue 3.

8. March J, Silva S, Petrycki S et al.: Treatment for adoles- cents with depression study (TADS) team. Fluoxetine, cognitive-behavioral therapy, and their combination for adolescents with depression:Treatment for adolescents with depression study (TADS) randomized controlled tri- al. JAMA 2004; 292: 807–820.

9. Szegedi A, Kohnen R, Dienel A, Kieser M: Acute treat- ment of moderate to severe depression with hypericum extract WS 5570 (St John’s wort): randomised controlled double blind non-inferiority trial versus paroxetine. BMJ 2005; 330: 503–506.

10.Werneke U, Horn O,Taylor DM: How effective is St John’s wort? The evidence revisited. J Clin Psychiatry 2004; 65:

611–617.

11. Zito JM, Tobi H, de Jong-van den Berg LTW et al: Anti- depressant Prevalence for Youths: A Multi-national Comparison. Br J Psychiatry (im Druck).

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Martin Holtmann Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Deutschordenstraße 50, 60528 Frankfurt E-Mail: holtmann@em.uni-frankfurt.de

AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT

MEDIZINGESCHICHTE(N))

Medizin und Literatur

„Die Seherin von Prevorst“

Zitat:„Leb’ wohl!

Was ich dir hab’ zu danken, Trag’ ich im Herzen immerdar.

Es schaut mein Innres ohne Wanken In geist’ge Tiefen wunderbar.

Wo du auch weilst, im Licht, im Schatten,

Ein Geist bei Geistern weilest du.

O sende, will mein Glaub’ ermatten, Mir liebend einen Führer zu.

Und lebst du bald in höhrem Bunde Mit sel’gen Geistern leicht und licht, Erschein in meiner Todesstunde Mir helfend, wenn mein Auge bricht.“

Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und das Herein- ragen einer Geisterwelt in die unsere. 2 Teile. Stuttgart und Tübingen 1829. – Kerners Nachruf auf die „Sehe- rin“ in Gedichtform ist am Ende seines Buches abge- druckt (hier die ersten drei von sechs Strophen). Der schwäbische Arztdichter Kerner (1786–1862), Ober- amtsarzt in Weinsberg, publizierte die umfangreiche Krankengeschichte seiner Patientin Friederike Hauffe (1801–1829), die er mehr als zwei Jahre lang in seinem Haushalt ärztlich betreut hatte, unter dem oben ge- nannten Titel. Deren Krankheit wurde später von Psy- chiatern der Hysterie beziehungsweise Schizophrenie zugeordnet. Doch Kerner und vielen Ärzten seiner Ge- neration erschien das „magnetische Leben“ von

„Somnambulen“ im Lichte des zeitgenössischen „ani- malischen Magnetismus“ (Mesmerismus) nicht in er- ster Linie als ein Defektzustand, sondern im Gegenteil:

als Offenbarung der verborgenen Natur im Menschen.

Im Lichte moderner Konzepte der Psychotherapie und Psychoanalyse erstaunt uns heute Kerners intuitive Si- cherheit im Umgang mit seiner Patientin. Bei aller Sym- pathie mit ihr, wie sie auch in seinem Gedicht zum Aus- druck kommt, hielt er doch „wissenschaftliche“ Di- stanz zu ihren wundersamen „Eröffnungen“, ganz im Sinne der zeitgenössischen Naturforschung.

Psychiatrie Melancholie

Zitat: „Ich hänge den Gedanken nach und träume ohne Ungemach

von Schlössern, die in Luft gebaut, ganz sorgenfrei, kein Angstbild graut, nur rosarote Phantasien

im Fluß der Zeit vorüberziehn.

Anderes Glück vergällt mir die süßeste Lust: Melancholie.

Ganz einsam wälz’ ich ohne Ruh und flüstere mir die Beichte zu, von Grübelei tyrannisiert hat Furcht, hat Gram mich aufge- spürt, ich springe auf, ich halte ein, Minuten wollen Stunden sein.

Anderes Leid – Gold gegen die schmerzvollste Last: Melancholie.

Ich treibe mit mir Schabernack, es spielt im Kopf wie’n Dudelsack, am Bächlein in dem grünen Wald nehm’ ich Einsiedler Aufenthalt, und tausend Freuden tanzen fein im Seelenfrieden Ringelreihn.

Anderes Glück vergällt mir die süßeste Lust: Melancholie.

Auf Schritt und Tritt, an jedem Ort seufzt, stöhnt und klagt es immerfort, ob düstrer Hain, ob Zimmergruft, es toben Furien durch die Luft, und tausend Nöte im Verein

kesseln mir Herz und Seele ein.

Anderes Leid – Gold gegen die sauerste Last: Melancholie.

Ein Ohrenschmaus von Melodie, die Augen weiden wie noch nie, Palast und Stadt, hier ist gut sein, die Welt mit Haut und Haaren mein, Göttinnen fast, wie Milch so rein, lustwandeln schon zum Stelldichein.

Anderes Glück vergällt mir die süßeste Lust: Melancholie.

In Ohren dröhnt Nachtmahrge- kreisch, Kobolde, Teufel, Spukge- schmeiß, kopflose Bären, Affenclique, so brodelt es vor meinem Blick, ein heulend, wimmernd Greuelbild aus angstzerrissener Seele quillt.

Anderes Leid – Gold gegen die verdammte Last: Melancholie.“

Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten (englische Originalausgabe 1621). Aus dem Englischen mit einem Nachwort von U. Horstmann. Zürich;

München 1988 (Übersetzt nach der 6. verbesserten Auflage 1651). – Erste Hälfte des einleitenden Gedichtes von Burton, das im englischen Original die Überschrift trägt: „The Author’s Abstract of Melancholy, dialogôs“. – Burton (1577–1640), anglikanischer Theo- loge und Schriftsteller (Pseudonym: Democritus Junior) in Oxford. „The Anatomy of Melancholy“ ist ein ge- lehrter Traktat mit selbstanalytischer und selbst- therapeutischer Zielsetzung des Autors.

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