W
äre der Schuldezer- nent nicht früher selbst auf Kaltblütern geritten, die Realschule des Internats Schloß Wittgen- stein hätte eine bundesweit einzigartige Attraktion weni-ger. Die persönliche Reiter- fahrung des Dezernenten je- doch gab bei der zuständigen Bezirksregierung am Rande des Rothaargebirges den Ausschlag, die erste Pflicht- Arbeitsgemeinschaft „Rei- ten/Pferdepflege“ an der Re- alschule des Instituts zu ge- nehmigen. „Es war ein harter Kampf, das durchzusetzen – auch beim Direktor“, erin- nert sich Schulträgerin Gud- run Kämmerling. Die verset- zungsrelevante AG besteht nun schon im zweiten Jahr, und die Teilnehmer der Klassen 9 und 10 tun gut dar- an, sich beim Voltigieren (Kunstreiten ohne Sattel) oder Longieren (kreisförmi- ges Führen des Pferdes an ei- ner Leine) keine Fünf zu lei- sten: Wer die nicht ausglei- chen könnte, dem droht Sit- zenbleiben wegen mangel- hafter Pferdeführung.
Der Bezug zu Tieren bil- det laut Selbstdarstellungs-
prospekt auf Schloß Wittgen- stein „einen wichtigen Erfah- rungsschatz für Jugendliche“.
Im „ehrwürdigen Reitstall aus dem 18. Jahrhundert“ ste- hen außer den Privatpferden der Kinder aus reichem Hau- se auch acht Schulpferde. In Kooperation
mit einer Reit- schule lernen die Teilnehme- rinnen – einen Jungen sucht man vergebens in der AG – das ganze Reper- toire des Um- gangs mit Pfer- den, von der Trense über die geeigneten Freßpflanzen bis hin zum offi- ziell anerkannten Reiterpaß.
Schwer zu ergründen, aber unbestritten, ist der Reiz der „Pferde-Pädagogik“, die nach wie vor zu den Privilegi- en von Privatschulen gegen- über öffentlichen Einrichtun- gen gehört. „Wir hatten hier mal einen Jungen, der war im Umgang mit Menschen ge- hemmt, gegenüber den Pfer- den dafür um so aggressiver“, sagt Gudrun Kämmerling.
„Aber das Pferd brachte ihm bei, sich zu ändern. Und die Mädchen klagen den Tieren sogar ihr Leid; die Pferde hören ihnen dabei regelrecht zu.“
Daß die Reit-AG eine Mädchendomäne ist, hat Schloß Wittgenstein mit an- deren Internaten gemeinsam, an denen Reiten und Pferde- haltung zu den beliebtesten Freizeitangeboten vorzugs- weise teurer und namhafter A-235 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998 (63)
V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG
Internate
Geschichten vom Pferd
Zu den Beschäftigungen, die gehobene Internate ihren Zöglingen ger- ne bieten, gehört neben dem Fechten und Rudern vor allem auch das Reiten. Besser als andere Tätigkeiten gilt der Umgang mit Pferden als geeignet, Schülern Verantwortung beizubringen – Statussymbol ist die Reiterei ohnehin. Was macht den Reiz der „Pferdepädagogik“ aus?
Reiten ist oft eine Mädchendomäne. Fotos (2): Institut Schloß Wittgenstein
Institute gehört. „Bei uns“, schätzt Josef Drüke vom Pri- vatschulinternat Schloß Va- renholz, „haben am Reiten zwei Drittel Mädchen und ein Drittel Jungen Interesse.“ In einem Fragebogen zu rund 35 Sportarten stand Reiten bei den Mädchen meist an vorde- rer Stelle der Beliebtheit, bei den Jungen waren kampfbe- tonte Sparten wie Fußball oder Fechten vorrangiger.
Gezielt wurde der Pferde- sport ins pädagogische Rah- menprogramm aufgenom- men, um mehr
Mädchen ans Internat zu locken. Drüke vermutet die Faszination des Pferdes für Mädchen darin,
„daß sie gerne jemanden ver- sorgen“. Das können sie in Varenholz zwar noch nicht, aber
wenn nach den Sommerferi- en mit dem benachbarten Reitstall gute Erfahrungen gemacht werden, könnte der schuleigene Stall eine Frage der Zeit sein.
Auch wissenschaftliche Studien belegen laut Edel- traud Buurman vom Land- schulheim Steinmühle, daß Mädchen „in der Pubertät ein geradezu erotisches Verhält- nis zu Pferden“ haben. An dem idyllisch in einer Schleife der Lahn nahe Marburg gele- genen Institut trifft es sich, daß die Gründer-Familie Buurman Reiterei und Pfer- dezucht als Hobby betreibt – mitten auf dem Internats- gelände. Als Anhänger der Reformpädagogik von Her- mann Lietz wollen die Buur- mans ihren Schülern Naturer- fahrung vermitteln. Von den über 30 Pferden auf dem Gelände gehört ein Drittel der Schule. Früher gab es in der Steinmühle sogar die Möglichkeit zum Sportabitur im Reiten, doch der Schulauf- sicht schien diese Prüfung, weil „zu elitär“, eines Tages nicht mehr zeitgemäß.
Der elitäre Touch der Rei- terei ist nicht nur Vorurteil;
bei Anschaffungskosten von 50 000 DM aufwärts für ein gutes Reitpferd speist sich die Klientel hauptsächlich aus wohlhabenden Familien, für die es zu den ersten Fragen bei der Internatsauswahl gehört, ob der Sohn oder die Tochter das Privatpferd denn auch in einer Box auf dem Kampus unterbringen darf.
Der Klassengesellschaft auf dem Pferderücken versuchen viele Internate dadurch ge- genzusteuern, daß sie gegen geringe Gebühren auch weni-
ger gut Betuchten das Reiten auf schuleigenen Pferden er- möglichen – in der Steinmüh- le etwa für 270 DM im Halb- jahr bei täglicher Unterrichts- möglichkeit.
Eine Selbstverständlich- keit ist die „klassenlose Rei- tergesellschaft“ vor allem an der Christophorusschule in Elze bei Hannover. Als ei- nes der Internatsgymnasien des Christlichen Jugenddorf- werks Deutschland beher- bergt die Christophorusschu- le neben Kindern aus gut- betuchten Familien auch vie- le Schüler, bei denen das Jugendamt Kostenträger ist.
Gemeinsam finden sie in der Reit-AG den „Zugang zum Lebewesen Pferd“, wie es der Reitpädagoge und Pächter des kooperierenden Reit- stalls, Alexander Roland, for- muliert: „Das Pferd ist ein Fluchttier, also sensibel.“
Arm und reich lernen dabei, laut Roland, vor allem auch Geduld. Während gerade diese Tugend eher als weib- lich gilt, wartet die Elzer Christophorusschule mit Überraschendem auf: Hier sind die Jungen beim Reiten in der Überzahl. Peter Tuch A-236 (64) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 5, 30. Januar 1998
V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG
Beim Reiten lernen die Schüler auch Geduld.