Poliklinik ohne langfristigen Versorgugsauftrag
Gisela Fischer, Beate Rosa, Stephan Schug
Polikliniken bilden seit dem Hinzutreten der neuen Bundesländer ein vorrangiges Thema der gesundheitspolitischen Diskussion. Im folgen- den wird ein poliklinisches Modell anderer Art vorgestellt: es unter- stützt die primärärztliche Versorgung, ohne selbst als Versorgungsin- stanz zu fungieren.
Die Allgemeinmedizinische Poliklinik an der Medizinischen Hochschule Hannover
Losse hat bereits an dieser Stelle (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 43/1990) auf die unterschiedli- che Bedeutung des Begriffs Polikli- nik in Ost und West hingewiesen:
Während auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer hierunter Insti- tutionen der dauerhaften ambulan- ten Primärversorgung verstanden werden, handelt es sich bei den Po- likliniken westdeutscher Universitä- ten traditionell um Unterrichtsstät- ten der klinischen Medizin.
Die Allgemeinmedizinische Po- liklinik der Medizinischen Hoch- schule Hannover entspricht von der ursprünglichen Intention her dem
„westlichen" Modell. Dieser Ansatz wurde jedoch im Sinne einer effekti- ven Unterstützung der ambulanten primärärztlichen Versorgung modifi- ziert: Sie bietet Patienten und allge- meinärztlich tätigen Kollegen zusätz- liche Leistungen, ohne selbst als langfristige Versorgungsinstanz zu fungieren.
Seit der mit finanzieller Förde- rung durch die Kassenärztliche Ver- einigung Niedersachsen erfolgten Errichtung des Lehrstuhls und der Abteilung Allgemeinmedizin im Jah- re 1976 besteht die Allgemeinmedi- zinische Poliklinik der Medizini- schen Hochschule Hannover. Nach inzwischen überarbeitetem Konzept ist sie eine hinsichtlich Form und Aufgaben in Deutschland bisher ein- malige Institution.
Ihre Hauptaufgabe besteht darin, den niedergelassenen Allgemein- und Praktischen Arzt hinsichtlich Problempatienten und -situationen der eigenen Praxis im Sinne einer fachgleichen Konsiliartätigkeit zu beraten. Sie übt dabei keine kontinu- ierliche haus/allgemeinärztliche Ver- sorgungsfunktion aus.
Das Arbeitsfeld der Poliklinik umfaßt die Aufgaben:
• Patientenuntersuchung, Be- ratung und gegebenenfalls konsiliari- sehe Betreuung sowie Beratung des Hausarztes,
• Ausbildung von Medizinstu- denten.
• Weiterbildungsanteile für Allgemeinärzte,
(j)
Fortbildung niedergelassener Kollegen,Förderung und Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen nie- dergelassenen Kollegen und Hoch- schule,
• Allgemeinmedizinische For- schung.
Im folgenden soll der Aufgaben- bereich
Allgemeinmedizinische Konsiliartätigkeit
dargestellt werden.
Die Begründung dieser Aufgabe ergibt sich u. E. aus wesentlichen Merkmalen der Berufsausübung des Allgemeinarztes. Seine (haus-)ärztli-
che Tätigkeit wird überwiegend in der Einzelpraxis mit alleiniger Ver- antwortlichkeit für alle krankheits- bezogenen Belange des Patienten ausgeübt.
Das Morbiditätsspektrum der Allgemeinpraxis umfaßt die ambu- lanten Erscheinungsformen aller Krankheiten. Es schließt demnach alle Stadien und Schweregrade, alle Ausprägungs- und Verlaufsformen der Krankheit sowie alle Altersgrup- pen von Patienten ein. Dieses Spek- trum wird stark geprägt durch den Einfluß lebensgeschichtlicher, ar- beitsweltlicher, psychologischer und psychosozialer Komponenten.
Problemsituationen bei der all- gemeinärztlichen langzeitigen Ver- sorgung ambulanter Patienten be- treffen nicht nur differentialdiagno- stische Unklarheiten. Es handelt sich ebenso um Fragen der ärztlichen Vorgehensweise bei den oft komple- xen Gesundheitsproblemen, um the- rapeutische Belange im engeren Sin- ne, den Umgang mit psychosozia- len Einflußfaktoren, sozialmedizini- schen Aspekten (wie Renten- und Rehabilitationsmaßnahmen) sowie die erfolgreiche Gestaltung der Pa- tienten-Arzt-Beziehung. Letzterer kommt in der Allgemeinpraxis vor allem hinsichtlich der oft Jahrzehnte währenden Langzeitbetreuung chro- nischer und alter Kranker besondere Bedeutung zu. Zweifellos begünstigt die isolierte Arbeitssituation des Einzelpraktikers, insbesondere ange- sichts seiner vielfältigen und komple- xen Aufgaben, das Auftreten von Unklarheiten, Schwierigkeiten und möglichen Fehlentscheidungen. Die Allgemeinmedizinische Poliklinik stellt der Praxis eine unterstützende Instanz zur Seite, die den niederge- lassenen Kollegen unter Heranzie- hung eigener, also allgemeinmedizi- nischer, Arbeitsmethoden und unter Rückgriff auf die spezielle Expertise anderer Hochschulabteilungen pa- tientenbezogen berät.
Patienten suchen die Sprech- stunde der Poliklinik entweder von selbst oder durch Überweisung ihres Hausarztes beziehungsweise eines anderen Fachspezialisten auf.
A-3610 (26) Dt. Ärztebi. 88, Heft 43, 24. Oktober 1991
Die Arbeitsmethode besteht in einer umfassenden Problemanalyse, der Erkennung des Hilfsbedarfs so- wie der Entwicklung eines kurz- und längerfristigen Interventionsplans auf der Basis pragmatisch orientier- ter Problemlösungsmöglichkeiten.
Arbeitsmethode
Das Konzept umfaßt eine weit- reichende Diagnostik unter Nutzung interdisziplinärer Zusammenarbeit mit allen Fachdisziplinen der Medi- zinischen Hochschule, Gesichts- punkte der Krankheitsprävention, Therapie und Rehabilitation sowie die umfassende Information und Be- ratung des Patienten und des über- weisenden Arztes. Zur Erfüllung dieser Aufgaben besteht in der Po- liklinik die Möglichkeit einer nicht unter Zeitdruck erfolgenden aus- führlichen Befassung mit dem Kran- ken, wobei neben exakter, meist technisch erweiterter, Befunderhe- bung großes Gewicht auf das Ge- spräch gelegt wird. So hat es sich in Anbetracht der Klientel unserer Po- liklinik bewährt, mit jedem Patienten ein ausführliches Erstgespräch zu führen, in dem er seine Probleme, Beschwerden, Krankheitsgeschichte, frühere Erkrankungen und Lebens- situation frei berichten kann. Jeder Patient wird gebeten, sein Anliegen an ärztliche Behandlung hier zu kon- kretisieren, damit besser auf seine Wünsche und Erwartungen einge- gangen werden kann.
Im Anschluß an das Erstge- spräch erfolgt eine orientierende Ganzkörperuntersuchung unter be- sonderer Berücksichtigung erkrank- ter Organsysteme. Zur Vervollstän- digung wird jedem Patienten auf freiwilliger Basis eine begleitende Fragebogendiagnostik angeboten, die sowohl somatische, psychische als auch soziale Faktoren umfaßt.
Sie wird von fast allen Patienten wahrgenommen. Weiterführende Zusatzdiagnostik (technische Dia- gnostik, Spezialistenkonsil) wird pa- tienten- und verlaufsbezogen einge- setzt.
Jeder Patient wird über die Er- gebnisse der Diagnostik und über re- sultierende präventive, therapeuti-
sche oder rehabilitative Maßnahmen ausführlich informiert und zur ge- zielten Mitarbeit motiviert.
Persönlicher telefonischer Kon- takt zu dem behandelnden Arzt wird möglichst von Behandlungsbeginn an gepflegt. Schriftliche Kurzinforma- tionen über wichtige Zwischenbefun- de und ein schriftlicher Abschlußbe- richt mit ausführlichen Anregungen zur weiterführenden Behandlung werden zugesandt. Diese enge inter- kollegiale Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kollegen erleich- tert und verbessert unsere Arbeit, da die Hausärzte ihr umfangreiches Vorwissen zur Krankengeschichte und Vorbefunde mitteilen, so daß unnütze Mehrfachdiagnostik vermie- den werden kann.
Vorteile für Arzt ...
Der niedergelassene Arzt profi- tiert zunächst unmittelbar von der Ergänzung durch bisher unbekannte Befunde und nicht angewandte The- rapien. Er profitiert aber auch we- sentlich von dem Effekt, daß bei der kritischen integrierenden Bewertung aller zusammengeführten Daten
durch Dritte neue Sichtweisen und Ideen eingeführt werden, die zum Ansatz weiterführender Problemlö- sungen werden. Ein nicht zu unter- schätzender Effekt geht auch davon aus, daß die hausärztliche Kranken- versorgung hier eine Bestätigung und Bekräftigung findet. Dies trifft besonders für neurotische und Pa- tienten mit psychosomatischen Lei- den zu, denen es oft schwerfällt, see- lische oder soziale Ursachen für ihre Beschwerden zu akzeptieren. Hier können die Hausärzte durch intensi- ve und ausführliche Aufklärung des Patienten über seine Krankheit un- terstützt werden, zum Beispiel wenn diese immer wieder drängen, unnüt- ze apparative Zusatzuntersuchungen durchführen zu lassen oder unsinni- ge Überweisungen zum Spezialisten vorzunehmen.
... und Patient
Für den Patienten ergibt sich
aus der poliklinischen Sprechstunde
oft bereits eine unmittelbare Hilfe.
Auch ihm erschließen sich durch die von Zeitdruck unbelastete Darstel- lung seiner Anliegen vor einem an- Arbeitsmethode der Allgemeinmedizinischen Poliklinik
der Medizinischen Hochschule Hannover I. Diagnostisch-therapeutisches Gespräch
D Patientenanliegen und Erwartungen an den Arzt
> jetzige Erkrankung: Entstehung, Verlauf
• Krankheits- und biographische Vorgeschichte
> soziales Umfeld (Beruf, Familie, Partner)
> Erleben der eigenen Situation, Probleme, Konflikte 2. Körperliche Gesamtuntersuchung
3. Rücksprache mit überweisendem Arzt
> Vorinformationen
> Behandlungsauftrag 4. Zusatzdiagnostik
> Fragebogendiagnostik
> Labor
• apparative Zusatzdiagnostik
• Spezialistenkonsil: Fachabteilungen der Medizinischen Hochschule 5. Beratung des Patienten
> Untersuchungsergebnisse D Therapieempfehlungen
> Motivation zur Akzeptanz und Mitarbeit
6. Telefonische oder schriftliche Information des weiterbehandelnden Arz- tes und Rücküberweisung des Patienten
7. Weiterbehandlung (nur auf Wunsch des überweisenden Arztes in Einzel- fällen)
I> psychotherapeutisches Gespräch 1> Autogenes Training
D Gruppenbehandlung für adipöse Hypertoniker
Dt. Ärztebl. 88, Heft 43, 24. Oktober 1991 (29) A-3613
Sachverständige des Instituts
für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen:
Multiple-choice-Prüfung ist besser als ihr Ruf
Die Multiple-choice-Prüfung stand auf dem diesjährigen Deutschen Ärztetag in Hamburg im Kreuzfeuer der Kritik. Sie soll als prägender Bestandteil der ärztlichen Staatsexamina abgeschafft werden, lau- tete das Fazit der Diskussion (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 20, 1991). Sachverständige des Instituts für medizinische und pharma- zeutische Prüfungsfragen halten die Kritik an dem Antwort-Wahl- Verfahren indes für überzogen. Im folgenden Beitrag plädieren sie für eine objektive Würdigung des schriftlichen Prüfungsverfahrens.
DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT (HUBERICHTE
deren Arzt neue Zusammenhänge der Erkrankung, was unter anderem gewisse Ansätze zur gesundheits- fördernden Eigeninitiative auslöst.
Schließlich wird die Beziehung zum Hausarzt durch das Hinzuziehen weiterer Instanzen, die vom Patien- ten als kompetent (Hochschulkli- nik!) erachtet werden, nach allge- meiner Erfahrung erleichtert, gefe- stigt und meist verbessert.
Nach bisheriger Erfahrung wei- sen unsere Problemfallpatienten fol- gende Merkmale auf: Sie stehen un- ter großem Leidensdruck, haben oft bereits eine längere Patientenkarrie- re zu verzeichnen, und sind vielfach verzweifelt und hoffnungslos. Ihre Behandlung bereitet sowohl für den betroffenen Patienten selbst als auch für ihren betreuenden Arzt Proble- me. Insbesondere fallen Schwierig- keiten in der Diagnostik, Therapie, Langzeitbetreuung und Patienten- Arzt-Beziehung auf. Sie betreffen vor allem Patienten mit funktionel- len, psychosomatischen, neuroti- schen und psychiatrischen Erkran- kungen (rund 60 bis 80 Prozent). Da- bei dominieren jüngere und mittlere Altersgruppen des weiblichen Ge- schlechts. Typisch sind sehr komple- xe Gesundheitsprobleme, bei denen körperliche Krankheitsbefunde mit einer belastenden Lebenssituation und unbefriedigenden persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten zusam- menfallen. Solche Gesundheitspro- bleme entziehen sich häufig der ge- wohnten Einteilung in organische, psychosomatische und psychiatrische Krankheitsbilder.
Im Laufe der Jahre, insbesonde- re seit stabiler personeller Besetzung der Poliklinik, hat sich ein fester Stamm von niedergelassenen Ärzten entwickelt, der eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Institution pflegt. Dabei bleiben die Patienten in der Regel während der Vorstel- lung in unserer Abteilung weiterhin in hausärztlicher Betreuung. Nur in Ausnahmefällen übernehmen wir auf Wunsch des überweisenden Arz- tes einen Teil der Weiterbehand- lung. Die Poliklinik ist zur Zeit für die Durchführung folgender Verfah- ren ausgestattet: Psychotherapeuti- sche konfliktzentrierte Gespräche, Krisenintervention, Autogenes Trai-
ning und verhaltensorientierte Grup- penbehandlung für Adipöse und Hy- pertoniker.
Hohe Akzeptanz
Die Akzeptanz der poliklini- schen Konsiliartätigkeit bei nieder- gelassenen Kollegen und Patienten ist sehr gut. Die interkollegiale Zu- sammenarbeit hat sich mehr und mehr zu einem für beide Teile ertragreichen Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer entwickelt. Er bricht, zumindest partiell, die isolier- te Arbeitssituation des Praktikers auf, fördert Vertrauen und Verbin- dung niedergelassener Ärzte zur Hochschule und trägt zur Durchset-
D
ie in den Examina verwende- ten Fragen werden von Hoch- schullehrern erarbeitet. Diese Sachverständigen werden von den Fakultäten und den Fachgesellschaf- ten dem Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfra- gen (IMPP) vorgeschlagen und von diesem berufen. Jeder Sachverstän- dige hat die Aufgabe, jährlich Fra- gen aus seinem Fach einzureichen.Nach einer Überprüfung durch Mit- arbeiter des IMPP, ob der abgefragte Inhalt durch die Gegenstandskatalo- ge und die gängigen Lehrbücher ab- gedeckt ist, werden diese Fragen an die Sachverständigen der betroffe- nen Kommission zur Beantwortung,
zung von Behandlungsstandards im primärärztlichen Versorgungsbe- reich bei.
Derzeitig kann aus personellen Gründen bedauerlicherweise bei weitem nicht allen Nachfragen Rechnung getragen werden. Ein ent- sprechender Kapazitätsausbau ist deshalb dringend geboten.
Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. med. Gisela Fischer Dr. med. Beate Rossa
Dr. med. Stephan Schug
Medizinische Hochschule Hannover Zentrum Öffentliche Gesundheits- pflege
Abt. Allgemeinmedizin Postfach 61 01 80 W-3000 Hannover 61
Prüfung und Stellungnahme ver- schickt. Anschließend findet eine fachbezogene Fragenrevisionssit- zung statt, auf der die Sachverständi- gen zusammen mit Nebensachver- ständigen aus anderen Fächern aus- führlich und sehr kritisch jede einzel- ne Frage diskutieren.
Die Ausbeute der in diesem Sta- dium akzeptierten Fragen liegt häu- fig deutlich unter 50 Prozent. Das IMPP stellt zweimal im Jahr die Fra- gen für die Examina aus den jeweili- gen Fragenpools, gewichtet nach der geschätzten Schwierigkeit, dem Fra- gentyp und einem Verteilungsschlüs- sel für die einzelnen Teilgebiete zu- sammen. Eine ebenfalls aus Hoch- A-3614 (30) Dt. Ärztebl. 88, Heft 43, 24. Oktober 1991