A 1044 Deutsches Ärzteblatt
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13. Mai 2011ÄRZTLICHES ZENTRUM FÜR QUALITÄT IN DER MEDIZIN
Nah an der Versorgungsrealität
Über einen wichtigen Tätigkeitsbereich des ÄZQ, die Entwicklung der Nationalen Versorgungs- leitlinien, sprach das Deutsche Ärzteblatt mit dem Leiter des ÄZQ, Günter Ollenschläger.
M
an weiß, dass weltweit die Berufsgruppe der Ärzte die meisten Schwierigkeiten hat, Stan- dards als Grundlage ihrer Tätigkeit zu akzeptieren“, konstatiert Prof.Dr. rer. nat. Dr. med. Günter Ollen- schläger, Leiter des Ärztlichen Zen- trums für Qualität in der Medizin (ÄZQ), im Gespräch mit dem Deut- schen Ärzteblatt. Für eine Einrich- tung, zu deren Aufgabenschwer- punkten vor allem die Entwicklung und Verbreitung von Leitlinien in der Medizin gehört, scheint das nicht unbedingt die beste Voraus- setzung zu sein, sich bei den Adres- saten beliebt zu machen. Gleich- wohl zeigten die Wortbeiträge zur Veranstaltung, die Ende März aus Anlass des 15-jährigen Bestehens des ÄZQ durchgeführt wurde, ein- drucksvoll, welche Wertschätzung diese Einrichtung inzwischen bei den wissenschaftlichen Fachgesell- schaften und der ärztlichen Selbst- verwaltung genießt. Bei der Tagung in Berlin ging es insbesondere um die Steuerungsfunktion, die das ÄZQ seit 2002 bei der Entwicklung und Implementierung der Nationa- len Versorgungsleitlinien (NVL) übernommen hat.
Nach Harmonie im Verhältnis zu den wissenschaftlichen Fachgesell- schaften sah es zunächst nicht aus, weiß der Apotheker und Internist Ollenschläger aus den ersten Jahren des ÄZQ zu berichten. Im Jahr 1995 habe die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizini- schen Fachgesellschaften (AWMF) damit begonnen, Leitlinien zu pro- duzieren. „Wir sind ein Jahr später gestartet und haben festgestellt, dass das, was damals an Leitlinien auf dem Markt war, sehr wenig mit systematisch entwickelten Stan- dards und einer bestimmten Metho- dik zu tun hatte.“ Deshalb habe man sich beim ÄZQ zunächst intensiv
mit der Entwicklung der Leitlinien- methodik befasst. „Damit sind wir in Konkurrenz zur AWMF geraten“, erinnert sich Ollenschläger. Es habe einige Jahre gedauert, bis man sich in einem vom ÄZQ koordinierten Leitlinien-Manual auf eine gemein- same Sprache und gemeinsame Zie- le hätte einigen können. Auf dieser Grundlage seien in den folgenden Jahren bei den Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften mehr und mehr die internationalen Methodenstandards für gute Leitli- nien berücksichtigt worden.
Die seit 2002 von ÄZQ und AWMF entwickelten Nationalen Versorgungsleitlinien zeichnen sich für Ollenschläger dadurch aus, dass sie ganz klar die Schnittstellen in der Versorgung definieren und Empfehlungen dazu abgeben, wie
bei einem langanhaltenden Krank- heitsprozess die einzelnen Leis- tungsträger eingebunden werden.
„Wann soll ein Patient vom Haus- arzt behandelt werden, wann vom Spezialisten, wann in der Rehabili- tation? So systematisch wird das in wenigen anderen Leitlinien nach- vollzogen.“
Mittlerweile gibt es zwölf NVL, die kontinuierlich auf den neuesten Stand gebracht werden müssen. Die NVL Demenz ist derzeit in Arbeit, folgen sollen schon bald die The- men Hypertonie und Schwanger- schaftsvorsorge. Zudem müssen die bestehenden NVL regelmäßig ak- tualisiert werden. Die Mitwirkung an einer NVL steht allen AWMF- Mitgliedsorganisationen frei; bei bestimmten Erkrankungen müssen darüber hinaus noch am Versor- gungsgeschehen beteiligte Gruppen hinzugezogen werden. Auch Pa- tientenvertreter sind seit 2006 an der Erarbeitung der NVL beteiligt und nach Einschätzung von Ollen- schläger dort auch unentbehrlich:
„Sie öffnen den Blick der Ärzte auf Sachverhalte, die sie sonst nicht be- handelt hätten. Zum Beispiel: Wie geht man bei bestimmten Krankhei- ten mit der Alternativmedizin um?“
Es ist ein mitunter mühsamer und langwieriger Prozess, bis sich Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) ist
das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bundesärzte- kammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) für medizinische Leitlinien, Patienteninformationen, Patientensicherheit, evidenzbasierte Medizin und medizini- sches Wissensmanagement. Das ÄZQ soll BÄK und KBV bei ihren Aufgaben im Bereich der Qualitätssicherung der ärztlichen Berufsausübung unterstützen (www.aezq.de).
Die Aufgabenschwerpunkte des ÄZQ sind:
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Entwicklung und Implementierung Nationaler Versor- gungsleitlinien und Patientenleitlinien für prioritäre Versorgungsbereiche●
Unterstützung und Verbreitung ausgewählter Leitlinien- programme für die ambulante und stationäre Versorgung●
Entwicklung und Beurteilung von Methoden und Instru- menten der Qualitätsförderung und Transparenz in der Medizin●
Patientensicherheit/Fehlervermeidung in der Medizin●
Qualitätsmanagement in der Medizin●
Weiterentwicklung der evidenzbasierten Medizin, Wissensmanagement in der MedizinÄZQ: AUFGABEN UND ZIELE
Günter Ollenschläger, Jahrgang 1951, promovierter Pharmazeut und Arzt,
apl. Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln, war von 1990 bis 1995 in der BÄK für die Bereiche „Fortbil- dung, Präventivmedizin und
Gesundheitsförderung“
zuständig. 1995 übernahm er die Leitung des ÄZQ. Dort initiierte er unter anderem
das NVL-Programm. Foto: ÄZQ
P O L I T I K
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13. Mai 2011 A 1045 die verschiedenen am Versorgungs-geschehen beteiligten Fachgruppen auf eine NVL verständigt haben.
Am Anfang steht die Recherche- phase beim ÄZQ. Dabei werden die Inhalte bereits bestehender Leitlini- en miteinander verglichen. In einer ersten Runde werden Schlüssel - fragen erarbeitet, das heißt, „die Runde konsentiert, welche Themen wissenschaftlich bearbeitet werden sollen“, führt der ÄZQ-Leiter aus.
Am Beispiel der NVL Rücken- schmerz könnte eine solche Frage lauten: Ist Akupunktur eine wirk - same und angemessene Methode zur Behandlung von Rückenschmer- zen? Vom ÄZQ, dessen Wissen- schaftler sich dabei als Dienstleister der Leitliniengruppe sehen, wird zu den konsentierten Schlüsselfragen die Literatur recherchiert und auf- bereitet. Rasch kann es dann zu Diskussionen darüber kommen, in- wieweit wissenschaftlich nicht be- legte Sachverhalte bei der Entwick- lung der NVL berücksichtigt wer- den können. Wie relevant sind im Ausland wissenschaftlich erhobene Daten für die Versorgung hierzulan- de? Was hat sich in Deutschland bewährt, obwohl es international in
der Literatur nicht beschrieben wird? Bei konträren Standpunkten der beteiligten Fachgruppen kom- me es entscheidend auf die Mode - ration der Arbeitstreffen an, betont Ollenschläger: „Die Moderatoren bemühen sich um eine Gesprächsat- mosphäre, in der Emotionen so weit wie möglich heruntergesteuert wer- den.“ Ein Treffen gehe manchmal ohne Einigung zu Ende, dann treffe man sich nach einer Bedenkzeit wieder und versuche, in den um- strittenen Fragen eine Einigung zu erzielen. „Manchmal waren wir an einem Punkt, wo wir dachten, die Gruppe fliegt auseinander, die Ein- schätzungen zur Versorgungsreali- tät sind so unterschiedlich, dass wir nicht zu einem einheitlichen Dokument kommen.“ Aber das sei schließlich nie passiert. Gleich- wohl führt dieser notwen dige Ab- stimmungsprozess zu einer mit - unter langwierigen Beschäftigung mit einer Versorgungsleitlinie. Die mittlere Entwicklungszeit liegt bei zweieinhalb Jahren; vier Jahre sind aber auch keine Seltenheit.
Die Begleitung der ÄZQ-Arbeit durch das von BÄK und KBV besetzte Aufsichtsgremium erach-
tet Ollenschläger als notwendig.
Wichtige Impulse kämen von dort für die weitere Arbeit. „Wir brau- chen dieses Feedback, ob wir uns überhaupt noch geerdet bewegen oder ob man theoretisch so abge- hoben ist, dass die Ärzteschaft – und die ist ja das primäre Ziel – da- von überhaupt nichts mehr hat.“
Nah an der Versorgungsrealität zu sein, dies müsse die Maßgabe für die Arbeit des ÄZQ sein, bekräftigt Ollenschläger. Dies gelte auch für die – neben der Leitlinienarbeit – anderen wichtigen Aufgabenberei- che der von ihm geleiteten Einrich- tung: Patientensicherheit/Fehler- vermeidung in der Medizin, Pa- tienteninformation, Wissens- und Qualitätsmanagement. Das NVL- Programm hat nach Einschätzung von Ollenschläger bereits wesent- lich die Leitlinienarbeit der Fach- gesellschaften beeinflusst. Auch auf das Miteinander von ärztlichen Organisationen und Selbsthilfe ha- be es sich positiv ausgewirkt. Jetzt komme es darauf an, noch stärker als bisher für eine Implementie- rung der Leitlinien vor Ort bei je- dem Arzt zu sorgen. ■ Thomas Gerst
GRAFIK
DM = Diabetes mellitus Typ 2; modifizierte Grafik nach Ollenschläger, Günter, Vortrag Marburg, 2010; Grafik: Michael Peters, DÄ Nationale Versorgungsleitlinien von 2002 bis 2010 – Beteiligte und Dauer der Entwicklungsverfahren
2010 Demenz 2009 DM-Therapieplanung 2009 chronische KHK 2007 Asthma 2007 DM-Nephropathie 2007 DM-Nierenerkrankungen 2007 Herzinsuffizienz 2006 DM-strukturierte Schulung 2006 Kreuzschmerz 2005 unipolare Depression 2005 DM-Fußkomplikationen 2005 DM-Netzhautkomplikationen 2004 COPD 2002 Asthma 2002 chronische KHK
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